Heute ging ich mal wieder über den Holzmarkt.
Da schrillt ein Pfiff über den Platz, der mich stillstehen läßt.
Ich sehe an den Häusern, den Fenstern hoch, denn das war der Pfiff vom Herbergsvater.
Schon will ich weitergehen, da folgt der zweite Pfiff auf zwei Fingern, genau wie vor 70 Jahren.
Jetzt entdecke ich an der Plumpe ein über 80 Jahre altes Wittenberger Kind. Weil diese Sorte immer seltener wird, freue ich mich stets, wenn ich einem begegne und ansprechen kann.
Ich habe gepfiffen, ruft er mir zu, denn ich wollte wissen, ob du hierhergehörst.
Bist du Jentsches Willi aus der Mittelstraße?
Ich denke, Du bist schon lange tot, rede ich ihn an.
Dasselbe dachte ich von dir, sagte er, und es ist gut, daß du hier noch herumläufst.
Auf seine Frage: Was machst du heute, antworte ich:
Heute mache ich mal jarnischt!
Sonst mache ich zwar ooch nischt, aber heute nahm ich mir noch nicht mal etwas vor.
Dann hilf mir wenigstens bei einem Gang durch die Stadt, und er erzählt:
Das Leben brachte mich vor über 50 Jahren nach dem Westen.
Dort ging es mir sehr gut. Aber genau so, wie jemand beim Auszug aus der alten Wohnung die Bilder von den Wänden nimmt und sie sorgfältig in die neue Wohnung rüberschafft, so habe ich mein Leben lang das Andenken unserer Stadt im Gedächtnis behalten und vermag zu erzählen, was in der Hast der Zeit schon lange zerschlagen und bald völlig verschwunden sein wird.
Bei unseren Jahren weiß man nie, ob man sich noch mal wiedersehen wird. Deshalb will ich noch einmal meine Vaterstadt sehen und feststellen, ob alles noch so dasteht, wonach ich mich so
viele Jahre gesehnt habe. Die Leute erzählen immer, es soll sich so viel geändert haben. Das wäre ja noch keen Grund zum Weenen, wenn es bloß besser geworden wäre.
Also sehen wir uns die Stadt mal an.
Die Kinder spielen noch wie vor 70 Jahren, bloß daß sich die Mächens ooch de Haare schneiden lassen.
De Schutzmänner sind elegante junge Leute ohne Bauch und Schnurrbart, aber mit Jummiknüppel an der Seite.
Warum habt Ihr unsere Holzmarktschlippe, die Hauptverkehrsstraße, gesperrt ?!
Und warum gibt unsere Pumpe keen Wasser mehr ?!
Wo habt Ihr die anderen Plumpen in den Straßen ?!
– Weil die Stadt Geld brauchte, schloß sie die Plumpen und verkauft das Wasser.
Wo sind denn die Sperlinge in den Straßen ?!
– Sie sind ausgewandert zu den Pferden!
– Ja, aber wo sind denn die Pferde ?!
– Gefressen sind sie in der Pony-Diele, lieber Freund.
– Und die Hunde und die Katzen ?!
– Die kommen zu Weihnachten dran.
– Was sind denn das für Dinger, die hoch über die Collegienstraße hängen?
– Das sind Laternen, die manchmal sogar brennen.
– Ei, da waren wir aber früher praktischer, alle 50 m stand ein Laternenpfahl, hatte man sich im Bär eenen Zacken gekooft, mußte ich acht Laternenpfähle umklammern, dann war ich zu Hause .
– Wir stehen vor Bastians Klärchen, betrachten den
Verkehr und das gekachelte Haus, worin er eine Fernheizung
vermutet.
Ein Fräulein, das Röckchen bis zum Knie, geht vorüber.
Zwei Schuljungens necken sie:
Donnerwetter, Fräulein,
macht Ihre Schleppe aber eenen Schtoob ?!
– Dann sagt Willi:
Weeste, was man bei Euch schon wieder für unverschämt dicke Frauen sieht, die Natur scheint gutmachen zu wollen, was der Krieg versaut hat .
– Huh, die junge Frau, die eben im Mantel vorbeiging, hinterläßt aber einen Parfümgeruch, daß man erst eene Stunde Durchzug machen muß. Und das ist wohl da eine Malerfrau, die hat wohl ihrem Mann den roten Farbtopf ausgeleckt?
Sieh mal, die Oberdicke am Fenster von Schuster Hoffmann. Wenn
die ihre Beene Platinstifte wären, brauchte sie nicht zu arbeiten.
– Du irrst, lieber Freund, es sind keine Wittenbergerinnen, sondern alles fremde Damen aus der heutigen Zeit.
Im Weitergehen entsteht die Frage:
Was ist das für ein großes Geschäft bei Holtzhausen und Eisenschulze?
– Es ist HO, unsere große Handelsorganisation.
– Willi meint, es sieht sich von außen alles viel schlimmer an, denn wie oft hat sich ein gewinnverheißendes Unternehmen als „nischt wie Arbeit“ erwiesen .-
Wo sind denn Holtzhausens und Schulzes hin?
– Ausgewiesen. –
Ausgeflogen mit den Sperlingen!
– Die alten Läden habt Ihr alle hell und licht gemacht, damit man de Wanzen besser krabbeln sieht.
– Jetzt stehen wir an Pockarsch’s Ecke, Luther und Melanchthon sind von ihrem Kriegsausflug vom Luthersbrunnen
wieder zurück. Noch immer hält Luther die Hand auf der Bibel
und sagt:
– Hier steht’s geschrieben, besauft Euch nicht! –
Das Leitwort an der Westseite des Melanchthondenkmals lautet:
– Seid fleißig und haltet die Einigkeit usw.
– Der Wittenberger übersetzt es deutsch:
„Kinner, verdrogt eich un arbeetet!“
– Wo habt Ihr die Eisengitter um die Denkmäler, fragt mein Begleiter. – Wir haben sie zu Geld gemacht!
– Wo habt Ihr das Geld?
– Ich weise auf das neu renovierte Rathaus.
– Ja, sagt der Alte:
Wenn die, die da drinnesitzen so klug sind, wie das Haus schön ist, darf sich kein Wittenberger beklagen.
– Nach Überschreiten des Marktes und Begrüßung der Marktplumpe taucht die Frage auf:
Warum rennen denn die Leute alle so?
– Sie müssen in 8 Stunden ihr Geld zur Bank bringen, wozu wir früher Monate brauchten.
Hier ist eine Bank, und dort ist eine Bank, jede will verdienen.
– Sag‘ mal, lieber Freund, hier konnte man doch früher mal in der runden Blechbude verschwinden ?!
– Nein, in dieser fortgeschrittenen Zeit baut man sowas im Zentrum
nicht mehr. Geh zur Bahnunterführung an die Normaluhr.
– Hotel Weintraube hat jetzt Kleider, Anzüge, Hüte, ganz dolle Dinger. Sieh mal, von all den Sachen brauchen wir nichts mehr, nur von den sechs Beinen mit den dünnen Strümpfen könnte ich zwei gegen meine eigenen vertauschen.
– Jetzt ziehe ich Freund Willi die Coswigerstraße entlang, und er entdeckt vor einem Wagen ein Tier.
Was ist das für ein Tier, Esel, Kamel oder gar Pferd?
Warum kriegt das Tier keinen Hafer?
Hamwirnich, ruft der Kutscher, die Pferde werden abgeschafft, denn sie veräppeln den Boden unserer Stadt.
– Warum sind die Kneipen Teuerkauf, Maier, Fuhrmann, Kronen-
Reinicke, Mittmann nicht mehr?
Der Wittenberger trinkt kein Bier mehr, er sitzt nicht mehr in den Kneipen, sondern im Naturtheater und geht baden.
Ja, dann wollen wir gleich zur Elbe, die Elbe will ich sehen. Inzwischen regnet es.
Mein Anzug läuft ein, rufe ich, schnell in den Gasthof zur Börse hinein, sonst habe ich morgen noch ’ne Badehose. –
Dort trinken wir erst mal einen Schnaps und essen eine Bockwurst. Gute pferdevolle Ware.
Willi kriegt die Pelle nicht ab, denn das Innere war wohl vom Hindernis-Gaul.
Ein Junge bietet Zeitungen an:
Et jibt balle Frieden, wir von de Presse wissen das am besten.
Wir weisen ihn ab und er sagt:
Wenn mir eener dumm kommt, streiken 10 000 Arbeeter.
Ein junges Mädchen kommt mit einem Hund, der für 12 Personen zur Verlobungsfeier dienen soll, ins Lokal.
Fräulen, Ihr Hund hat Flöhe, behauptet Willi.
Nein, verteidigt sie ihn, nur einen einzigen, die anderen sind zum Besuch da!
Am Nebentisch besprechen zwei Fleischer die neue Belieferung mit Speck, und wir erfahren, weshalb der Speck so salzig ist.
Speck ist ein reines Übersee-Produkt, und weil wir keine Schiffe haben, ziehen sie ihn mit Waschleinen durchs Salzmeer.
– Nach dem Regen gehen wir weiter.
Ein schmuckes Fräulein steht an der Marstallstraßen-Ecke und fragt ihre Freundin, die gegenüber aus dem Fenster sieht:
Was macht dein Bräutigam?
Der is bei die Pfadfinder, da paßt er hin, denn der weiß Bescheid, wo’s lang geht, tönt es zurück.
– An der Steinbrücke entdeckt die Reklame der BIWA im Maiwaldschen Haus.
Ein Polizist klärt uns auf, daß BIWA die Abkürzung von
Billige Waren für Konsum-Ladenhüter bedeutet.
– An der alten Reitbahn stelle ich ihm die Himmelsleiter der Feuerwehr vor und verweise auf unsere alte freiwillige Feuerwehr,
dazu brummt er das bekannte Lied:
Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld,
wer hat so viel Pinke-Pinke auf der schönen Welt?
Dann blicken wir über den Schloßplatz.
Willi prallt direkt zurück und ruft:
Wo habt Ihr den Kronprinz, den Friedrich?
Ich erkläre, daß wir jetzt Republik sind und das Verkehrshindernis beseitigten.
Schäme Dich, ruft er.
Er stand nicht als Kaiser und Militarist hier,
sondern Wittenberg verdankt ihm seinen Weltruf als Fremdenstadt und seinen Aufstieg zur Industrie.
– Wir besichtigen Kirche und Schloßhof und kehren zurück zur Schloßstraße.
Plötzlich verschwindet er in einem Zigarrenladen, wo er erfährt, daß es in Wittenberg keine Zigarren mehr gibt.
Erkläre!
Warum verkauft man mir keine Zigarren, ruft er mir zu.
Unsere Zigarren sind jetzt ein direktes Herzgift für die Bevölkerung.
Der Mann ist reel und will dich nicht vergiften, sei froh, daß Du noch lebst.
Im Weitergehen besichtigt er alle Höfe der rechten Schloßstraßenseite und als wir an der Elbgasse sind, will er zur Elbe. Erspar‘ uns den Weg, die Elbe ist kahn- und menschenleer, denn das Baden ist verboten.
Dann will er wenigstens den Stadtgraben sehen.
Aber auch den wollen wir in unserer Vorstellung behalten.
Denn dort ist der letzte Rest Natur Laubenland geworden, wo der Wittenberger sein Suppengrün baut.
Der Sonntagsgärtner hat den Sonntagsjäger abgelöst, das übrige vom Stadtgraben ist Sport.
Weil das Laufen zum Sport gehört, muß der Wittenberger selbst zu seinem weit entfernten Bahnhof laufen, denn die Pferdebahn hat aufgehört, Ersatz ist erst geplant.
Dann werde ich mich man gleich auf die Socken machen und mit dem nächsten Zug in meine neue Heimat fahren.
– Und wie gefiel es Dir nun bei uns?
Ehrlich gesagt:
Das alte Wittenberg war mir lieber!
Da konnte man noch über den Damm gehen, heute ist ohne zwei Flügel an der Hinterpartie nichts zu machen.
Deshalb wollen wir Platz machen den Jungen, die es nicht besser kennengelernt haben.
– Wir drückten uns die Hand, und ich rief ihm nach:
Wenns de sterbst, denkste an Deine alte Heimat!
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