Wilhelm und Gustav, 2 hoffnungsvolle dreizehnjährige Jungens aus der lieben Kupfergasse, sind mit 20 Pfg. Vogelwiesegeld bis zum Leichendamm vorgedrungen.
Jetzt wird es aber erdrückend voll.
Alle umliegenden Städte und Dörfer sind vertreten.
Man will doch für 20 Pfg. was sehen und für die anderen Tage was
zuverdienen.
Am Eingang begrüßt sie der lahme Gottlieb mit seinem Leierkasten. Gottlieb hat keine Beine mehr, weil er immer zu schnell zur Vogelwiese lief.
Dafür kriegt er jetzt 1 Pfg., den Wilhelm dreimal umdreht.
Daneben steht an seinem umgekippten Planwagen der Bücklingsonkel aus Stralsund mit seinen Spickaalen.
Mutter Neujocks, deren Obstkiepen sonst an der Marktecke stehen, ruft schon von weitem:
Jungens helft mir um 8 Uhr beim Räumen, hier sind Birnen auf Vorschuß.
Kaum 10 Schritte weiter erblicken sie den blauen Rock und rote Fez
von Silian Tanaskowitsch.
Für 5 Pfg. weißen türkischen Honig und für 5 Pfg. Naute (Mohnstangen) werden erstanden und geteilt.
Dann stehen sie vor Herzbergs Mariechen. Mariechen hat ihren
seligen Kinderwagen zu einem fahrbaren Würstchenstand montiert.
„Mariechen, du hast es gut! Du hast Pferd und Wagen!“
„Quatsch, von wegen Pferd, ich verkoofe vor Wurschtfischern. Und wer holt mir neue Ware?“
Schnell ziehen die Jungen an einer heißen Wurst.
Gustav, das kleinste Stück, muß sich an die Pferdebahn baumeln und Wurst holen.
Nach kurzer Zeit hat Mariechen 300 Paar neue und Gustav vom alten Fischer 1 Mark.
Wilhelm schiebt inzwischen das kleine Karussell (nur für Kinder). Jetzt ziehen beide zum großen Karussell, wo Wilhelm am Freitag die Pferdeschwänze auskämmte und die Glasaugen polierte.
Nach 5 Freifahrten lockt das Teufelsrad.
Eintrittsgeld geben sie nun nicht mehr aus, sondern sie suchen im Zelt ihren Vater.
Die Kassiererin zweifelt, daß sie einen Vater haben.
Erst als sie beteuern, sie hätten jeder 3 – 4, kommen sie unentgeltlich rein. Mit einem Satz sitzen sie fest umschlungen auf der Mitte des Rades.
Männlein und Weiblein der Landbevölkerung versuchen ebenfalls
und fliegen, Beine hoch, an die Bande.
Nun werden Wetten abgeschlossen.
Auf Wilhelm hat man mehr gesetzt, deshalb löst er sich unauffällig und fliegt an die Bande.
Der Sieger Gustav erhält das Geld, die Fahrt beginnt von neuem, bis das Zelt wegen Überfüllung geschlossen wird.
Jetzt sitzen beide in der russischen Schaukel und sehen sich den Platz von oben an.
Als man sie rausjagt, kriechen sie unter die Budenplane in das
Lachkabinett. Vor den vielen Spiegeln machen sie ihre Kunststücke, Kopfstehen, Katz und Maus usw.
Je mehr das Publikum lacht, desto mehr kommen in das Zelt, bis die Jungens verschwinden.
Drüben steht der große Ochse.
Viel Landvolk steht dabei, keiner fängt an.
Auf Wilhelms Ruf:
Auf ihn, haut ihm, und wer kloppt nochmal, melden sich 2 junge Landwirte.
Wohl verdreht der Ochse die Augen nach allen Himmelsrichtungen, aber umfallen tut er erst, als Wilhelm klopft. Nun probieren alle, das
Geschäft ist im Gange. Da ruft der Mann mit der dicken Uhrkette
die Jungens heran.
Er hat 2 Affen, eine Dame ohne Unterleib, einen Bär und 3 Neger. Die Jungens sollen für 50 Pfg. brüllen.
Er rekommandiert vor der Bude:
„Die Australneger von der Westküste Afrikas, tätowiert vom Scheitel bis zur Sohle, so sehen sie aus, das sind sie. Hören sie die Stimmen, die Laute dieser schwarzen Leute?“
Die Jungens brüllen hinter den Kulissen und das Publikum rennt zur Kasse.
Nach 1 Stunde Brüllen stehen sie vor Kaspern.
Dieser hat gerade seine Schwiegermutter verhauen und den Deibel an die Wand genagelt.
Eine undurchdringliche Mauer von Landvolk und Kindern amüsiert sich über Kasperns Späße, aber keiner gibt 1 Sechser.
Da ziehen die Jungens in der Kaspervilla die Jacken aus und nehmen die Teller zum Kassieren.
In Kürze ist abkassiert und Kasper dankt von seinem hohen Sitz.
Für die Hilfeleistung werden die Jungens gratis vom Photographen abgenommen.
Anders wird es bei den Ringkämpfern.
Gustav nimmt seine gesamte Gewandtheit mit zu einem Schweizer
Gürtelringkampf mit dem baumstarken Fräulein Aurora Hebhoch.
Trotzdem das Publikum protestiert, wird Gustav disqualifiziert, weil er dashingefaßt hat, wo es sich nicht schickt. Als der Ringkämpfer die Jungens rausschmeißt, stoßen sie mit dem Ballononkel zusammen. Neben ihm heult ein kleines Mädchen, dem
sein Ballon ausrückte.
Die beiden großen Jungens heulen mit, ein Menschenauflauf entsteht, bis eine Dame jedem einen Ballon kauft.
Freudestrahlend ziehen sie jetzt in Schade’s Hippodrom.
Dort besorgen sie seit Jahren das Gras aus Hartungs Augusten
seine Schanze.
Vergeblich hatten die Besucher versucht, den Esel zu reiten.
Unter lautem Hurra wurden sie abgeworfen.
Keiner wagte es mehr. Ein Blick des Stallmeisters zu Wilhelm
genügt, und er steht neben seinem Busenfreund, dem Esel.
Dieser kennt seine Pflicht seit 30 Jahren. Solange die Peitsche
des Stallmeisters in der linken Hand ruht, geht er mit seinem
Reiter treu und brav um die Manege. Sobald sie aber in die
rechte Hand wechselt, heißt es absetzen um jeden Preis.
Die Kassiererin ruft aus:
„Wir zahlen 3 Mark, wer den Esel einmal rumreitet.“
Wilhelm sitzt schon oben, reitet einmal rum und erhält seinen Taler. Dadurch angelockt, reitet ihn ein 1000 Wochen altes Fräulein.
Als beide halbrum sind, wechselt die Peitsche in der Hand des Stallmeisters, und der Esel fängt an, zu bocken.
Das Publikum lacht, klatscht, schreit, denn das Mädchen ist tapfer. Zuletzt liegen beide im Sand, und der Esel wiehert und lacht, denn sie verliert ihren Kauz und ein Hosenbein mit Spitzen.
Unsere Jungens umgehen das Königszelt und spielen in der Krabbelbude.
Diese ist ein Wittenberger Unternehmen.
Tausende von Reisekörben, Großvaterstühle, Kiepen und Taschen stellen unsere Korbmacher her, unzerreißbare Wäscheleinen, Marktnetze machen unsere Seiler, die Drechsler Garderobenständer, Nähtische usw.
Alles bringt die Krabbelbude ganz Deutschland.
Wilhelm kriegt einen Hauptgewinn und wählt eine Klingenthaler Ziehharmonika. Diese soll in Balzers Zelt gespielt werden.
Vor Ernst Kranepuhl sein Würstchenzelt überlegen die Jungens.
Als ihnen aber Ernst zuruft:
„Reißt de Nasenlöcher nich so weit uff. Ihr zieht mir den janzen Duft von de Wurscht weg“
stürmen sie in Balzers Zelt. Dort bestellen sie eine halbe Portion Pöckelknochen für 25 Pfg.
Mutter Balzer ruft aus dem Küchenfenster:
„Seid ihr ein Freund von ner großen Schnauze?“
Als dies bejaht wird, kriegen sie einen halben Schweinekopf.
Es ist ja alles so billig, und doch hat mancher Sorge, z. B. stöhnt in Wilhelm Kickeritz’s Zelt ein alter Mann:
Wenn ich man erst besoffen bin, vor morgen is mir jar nich bange.“
Aber sein Freund sagt tröstend:
„So ville darf man ooch nich saufen, Fritze, sonst kann man
zu Hause die Olle nich verhauen.“
Die Jungens aber kaufen bei August Fuß, Zigarrenbude, 15 Stck.
Zigaretten für 10 Pfg. mit Spitze, bei Tempels eine große
Tüte Schmalzkuchen für 10 Pfg. und für ihre Mutter einen Vogel
von dem Mann, der immer schreit:
„Wer noch keenen Vogel hat, eenen Groschen der Spaßvogel, vorne pickt er, hinten nickt er.“
Dann laden sie Mutter Naujocksen ihre leeren Kiepen auf den
altersschwachen Wagen und liefern sie Collegienstraße 85 ab.
Es ist dunkel, als sie hochbefriedigt in der Kupfergasse landen.
Auf der Vogelwiese aber spielt die große Orgel der Berg- und
Talbahn: Zu Hause, zu Hause, zu Hause gehn wir nicht, und wenn
der Tag anbricht, zu Hause gehn wir nicht.
Das ist Wittenberg, das alte, wie es leibt und lebt. Vielleicht sehen wir es auch mal, wenn es schläft, niemals werden wir aber erleben,
daß es untergeht .
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