Der lustige August oder der wildgewordene Leichenwagen

August hatte fleißig Musik studiert, spielte viele Instrumente und hatte 12 Jahre als Posaunenengel bei der Kapelle des 20. Inf.Reg. in Wittenberg abgerissen. Während dieser Zeit hatte er sich in die Herzen aller Bewohner der Stadt eingespielt.
Polizist wollte er nicht werden, frei wollte er sein.
Seine Spezial-Instrumente waren Klavier, Geige und Akkordeon, dazu kam sein guter Gesang.
Alle neuen Schlager sang August zuerst, in jeder Gastwirtschaft stand ein Instrument für ihn bereit. Grammophon und Radio waren z. Z. nochbunbekannt.
Kein Tanzkränzchen, keine Hochzeit oder Taufe ohne August.
Immer war er ein guter Gesellschafter, betrank sich nie und nahm kein Geld.
Dies brachte ihn die hohe Töchterschule in der Collegienstraße 90, wo er Musik lehrte.
Traf er sich abends mit seinen Spezial-Freunden, Eugen Menz und Falkenhains Wilhelm, dann war bald das ganze Lokal besetzt. Wilhelm hatte einen guten Klang, er stellte die Klaviers der Firma
Steglich Wittenberg her.
Eugen hatte das Bäckerei-Grundstück Collegienstraße 20 (heute Eule). Natürlich konnte das gute Leben, was sich das Trio leisten konnte, nicht ewig dauern, denn eines schönen Tages starb August am Schlag.
Bei den Damen, die jeden Dienstag in Sichlers Garten ihr Kaffee-Kränzchen hatten, herrschte größte Bestürzung.
Im goldenen Stern, wo donnerstags die Frauen der Geschäftsleute und Handwerker im Verein „Blauer Strumpf“ zusammen kamen, hörte man nur die Stricknadeln klappern.
August, der langjährige Freund, der alle Sorgen wegspielte, war tot. Wer soll uns nun Musik machen? Bei den Männern war man der Ansicht:
August! Warum machste denn nu sowas noch! Du hast doch alles was de brauchst, zu was brauchste eenen Schlaganfall?
Nur einer rieb sich die Hände, Wilhelm Kickeritz, denn er
wußte, wenn man Augusten sein Fell versäuft, wird es ein
gutes Geschäft für ihn.
Wilhelm hatte in der Elsterstraße, die vor dem Kirchhof links abgeht, das Lokal „Kickeritz-Garten“.
Aus jedem Leichenzug, der die Dresdenerstraße passierte, winkte er den Leidtragenden zu und strafte jeden monatelang mit Verachtung, der nach der Beerdigung nich bei ihm einkehrte.
Diesmal ging er selbst mit zur Leiche.
Auch der Tischler war froh, daß er seinen Vorrat an rotfaulen Brettern für den Sarg verwenden konnte.
Der Leichenzug ging wie üblich durch die Collegienstraße.
Zum Glück ging die Reg.Kapelle nicht wie sonst vor dem Leichenwagen, sondern trat als Gefolge ihres Kameraden hinter den
Sarg an.
Sie spielte den ewiglangen Chopinschen Trauermarsch:

Nun trinkt er keinen Cognak mehr,
nun trinkt er keinen Cognak mehr,
nun trinkt er keinen Cohoho –
hohohoiongnak mehr.

Bei diesem Marsch schlief selbst der altersschwache Leichenwagen ein. Er bestand aus 4 Rädern, über denen ein Brett und ein schwarzes Tuch lagen, worauf der bekränzte Sarg gesetzt wurde. Viele Generationen Wittenberger hatte er befördert, immer denselben Weg.
Von der Marstallstraße über den Leichendamm zum Kirchhof.
Seit vielen Jahren kroch er sorglos unter die Eisenbahn-Unterführung, im gleichen Schritt und Tritt.
Auch heute ist er gerade unter der Brücke.
Er ahnt nicht, daß besonders die jungen Mädchen ein Stoßgebet zum Himmel schicken:
„Lieber Gott! Wenns keene Umstände nich macht, laß den armen August noch mal raus!“
Keiner glaubt, daß es sich so schnell verwirklicht.
Plötzlich ein furchtbarer Krach vom Himmel.
Erschreckt springt der Leichenwagen mit allen Vieren zugleich in die Höhe. Der linke Pferdeführer fliegt auf das neue Pferdebahngleis, der rechte Führer klebt am Stacket vom Hundepark, und August ist wieder frei.
Sein Sarg liegt zerbrochen auf dem Leichendamm, während der Urheber, der Schnellzug nach Berlin, bereits durch die Kammerun-Brücke bei Knüppelsdorf donnert.
Damals lag das Bahnwärterhaus vom alten Matthies nicht wie
heute auf der Vogelwiesenseite der Magdeburger Strecke, sondern
auf der Stadtseite.
Sein Rosengarten erstreckte sich vom Bahnübergang bis Hundepark, längs des Leichendammes.
Dort hinein trug man unsern August.
Das Gefolge ging nach Hause, man begrub ihn in aller Stille.
Der Pastor kam um seinen Taler für die Predigt und Kickeritz um sein Geschäft.
Letzterer stand inzwischen im Zylinder und Bratenrock an der Elsterstraßen-Ecke und wollte sich in das Gefolge einreihen. Plötzlich raste er schwarz an ihn vorbei, übersah beide Kirchhof-Eingänge und kam erst vor dem Restaurant „Zum weißen Schwanz“ zum Stehen.
Der weiße Schwanz, die feinen Leute verschluckten das Z und nannten ihn sogar Schwan, hatte einen kleinen Saal, und die Liebespärchen fanden sich hier ein, wenn die Bratpfanne in der Collegienstraße zu überfüllt war.
Dann sang man wenn der Flieder blühte:
Im Frühling unter Bäumen von mancherlei zu träumen, ein Mägdelein zur Seite, dann gehn die Sorgen pleite.
Sonst war dort ein stilles Geschäft.
Daher kam der Besitzer Albert Muth auf die fixe Idee, den Schwanz anzupinseln.
Der Malermeister Herm. Baudach, Juristenstraße, hatte ihn innen neu renoviert, auf die Schürze (Fassade) 1 Ctr. Firnis geschmiert.
Jetzt stand er auf dem Leitergerüst, um die Firma anzumalen.
Zum weißen Schwan – , bis dahin war er schon gekommen, nur Z
und Punkt fehlten noch.
Da zerschlug der bösartig gewordene Leichenwagen mit lautem Krach das Leitergerüst.
Baudach sauste von seinem Malerthron, über ihn weg entleerten sich die Farbtöpfe schwarz, weiß, rot mit himmelblau und grün.
Als er erwachte, lag er neben den keuchenden schwarzbehangenen Pferden des alten Leichenwagens.
In der Küche half weder Schmierseife noch Scheuerbürste.
Erst der Friseur Oskar Paasch wußte Rat. Er nahm ihm seinen Stolz, den Vollbart a la Kaiser Friedrich ab, schnitt ihm die Künstlermähne herunter und rasierte den ganzen Kopf 3 mm unter der Haut.
Gegen abend trat Baudach den Heimweg zur Juristenstraße an, ohne das Z und Punkt zu vollenden.
Frau Baudach schrie um Hilfe, als sie so ihren Mann erblickte.
Auch für Albert Muth kam bald die Überraschung.
Den Landwirten der Elstervorstadt war das Lokal viel zu fein.
Die Arbeiter von Schäfer und Wetzig mieden es und die Liebespärchen suchten vergeblich den weißen Schwanz.
Oben stand deutlich zu lesen:
Zum weißen Schwan, der gar nicht interessierte.
Da entschloß sich Muth zum Verkauf, und nachdem der nunmehrige Schwan durch viele Hände gegangen war, nahm ihn der liebe Gott in sein Reich. Die Kirche machte ein Gotteshaus für die Elstervorstadt daraus, was heute noch besteht.
Damit löste sich der böse Zauber, den der alte Leichenwagen über den Schwanz gebracht hatte.
Bis zu Hitlers Zeiten stand der Wagen im Dienst für Mörder, Räuber und Leute letzter Klasse und wurde ohne Garantie verkauft. Wittenberg bekam einen neuen Leichenwagen mit Verdeck und Glaswänden, damit keine Leiche wieder ausbrechen kann.
Muth aber hatte Mut. Und das war gut.
Er baute 1889 am Amselgrund das Etablissement „Zur Reichspost“. Später an der Lutherstraße die noch heute stehenden „Muth’s Festsäle“.
Die Bürger der Elstervorstadt verkehrten nicht oft im Gotteshaus, sondern trafen sich schräg gegenüber im „Warmen Loch“.
Dieses war schwer auffindbar, hatte weder Firma noch Fassade.
Nur ein langer dünner Gang führte bis zur großen Wasserstraße der Elbe.
Solange Muth den weißen Schwanz bewirtschaftete, war das Verhältnis zum warmen Loch ein recht gutes.
Erst als der Schwanz zum Schwan wurde, verlangte das Warme Loch sein Vorrecht.
Jetzt wurde es salonfähig!
Sein tüchtiger Pächter, der alte Herr Kränkel, war früher Schneider.
Im Hinblick darauf, sowie in Verbindung mit dem langen dünnen
Gang, nannte man es von nun ab die „Nähnadel“.
Die Gäste im warmen Loch waren gemütliche, aber kohlenschwarz aussehende Wittenberger Arbeiter.
Deshalb sagt Matthies-Male: Wat hie so vor Jäste vokehren?
Wenn eenen so eener inn Sack packt un in de Elbe schmeißt, brauch man sich jarnich zu wundern!
Die Arbeiter luden die Kohlenkähne der Firma Waymeier, Triebel
u.a. aus, daher die schwarzen Gesichter, die vielen Kohlen
und die Wärme. Wo es aber warm war, gab es früher in Wittenberg auch Flöhe.
Die schöne Lehne ist erstmalig im warmen Loch und fragt:
Wißt ihr, wie ich hier keinen Floh kriege?
Da schreien alle Anwesenden: Ja! Du mußt daneben greifen!
Auch Soldaten der nahen Schwimmanstalt, Schiffer der Elbe,
Liebespärchen und etwas Durchgangsverkehr sind dort Gäste.
Jetzt nach Umtaufen zur Nähnadel entwickelt sich der Verkehr
beträchtig.
Wittenberger Bürger spielen ihren Dauer-Schafkop.
Die Schiffer der Schleppzüge, welche die Erzeugnisse der ganzen Welt hoch und talwärts fuhren, machten hier Feierabend.
Jeder fand das warme Loch besonders im Winter durch die vielen
Kohlen, und nun im Sommer die Nähnadel, mit dem freien Blick
über Elbe, Wiesen und Propstei-Wald ohne Reklame.
Interessant ist, was man damals seinen Gästen bot.
Neben der Theke hängt das Bild mit der Plumpe und den mit dem Finger drohen- den Wirt und der Aufschrift:
„Hier wird nicht Gepumpt!“

Darunter die Preistafel folgender erstklassiger Waren:

Für Herren
1 kleine Braune                  7 Pf.
1 große Braune                13   “
1 Zinnersches Bier         10   “
1 Schuldheis-Hell            15   “
1 großes Schlesisches   10   “
1 Cognak – Verschnitt   10   “
1 echt französ. Cognak 15  “
1 Grog Jamaika Rum      20  “
1 Bosse Likör                       10  “
1 Rennerts Brasil                 5  “
1 Nordhäuser Priem          5  “
¼ Pfund Tabak                     10  “
—————————————
1.45  M

Für Damen

1Tasse Kaffee                         5 Pf.
1 große Tasse Mokka        10 “
1 Kanne China Tee             15  “
1 heiße Citrone                     10 “
1 Selter N/Himbeer           10  “
1 Mich-Schokolade            15  “
1 Grätzer Bier                       15  “
1 Rotemark Weiss –
mit Schuss          15  “
1 gr. Stück Kuchen              10  “
1 Stück Richters Torte      15  “
1 Paar Fischer Würstch.  10  “
1 Portion Schinkenbrot    20  “
______________________________________
1.50  M

Wenn uns jetzt die Preise auch hoch erscheinen, so war man doch z.Z. zufrieden. Jeder konnte sich was leisten. Erst 25 Jahre später lehnte man sich dagegen auf und fing den Weltkrieg an.
Jetzt, nach weiteren 40 Jahren, ist es uns endlich gelungen, daß es uns so gut geht wie nie zuvor.
Leider hat die Nähnadel aufgehört.
An ihrer Stelle stand bis vor kurzem das Kaffee-Restaurant
„Zur Elbklause“. Aber auch dieses hat seine Pforten geschlossen – mit ihr die städtische Badeanstalt, Kickeritz-Garten, Der weiße Schwanz, Das warme Loch, Stadt Dresden, Der goldne Hirsch, Der blaue Hecht und der Luthersbrunnen – alle an der Dresdener Straße gelegen.
Der junge Wittenberger hat sich umgestellt.
Er benutzt heute die Piesteritzer Badeanstalt, das Naturtheater und fährt mit Auto und Motorrad in die Ferne.
Wenn das man gut geht!
Wir hoffen es und wünschen unserm jungen Wittenberg für die
nächsten 50 Jahre viel Glück.

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