Der Graveur

1966.08.10. Wittenberger Rundblick
Der Graveur

Eigentlich wollte er Goldschmied werden. Doch als Hermann Schulze in seiner Heimatstadt Halle den alten Turnvater Friedrich Ludwig Jahn mit Rauschebart so schön zeichnete, daß seine Lehrer daran ihre helle Freude hatten, ließ er sich doch darauf ein und wurde Graveur. Zwar ist dieser Beruf sehr verwandt mit dem des Goldschmiedes, doch erfordert er zusätzlich eine ausgeprägte zeichnerische Begabung. Diese hat sich Herr Schulze bis ins hohe Alter erhalten und wendet sie tagtäglich an.
Mancher junge Kunsthandwerker mußte diesen Beruf aufgeben, weil trotz allen guten Willens diese Schwäche nicht ausgeglichen werden kann, wenn sie nun einmal vorhanden ist.

Sonst hat der Graveurberuf immer seinen Mann ernährt. Ueberblickt man die wichtigsten anfallenden Arbeiten, so ist man erstaunt, was alles erledigt werden muß. Die Aufträge kommen hier beim Meister Schulze in erster Linie aus der hiesigen Industrie, doch gehen auch Bestellungen aus Karl-Marx-Stadt und aus dem Bezirk Leipzig ein. Unzählige Gummistempel werden in der Werkstatt in Apollensdorf angefertigt, dazu kommen Faksimile-Stempel für Werkdirektoren und Behördenstempel.
Wenig Freude machen dem Meister die Gravierungen auf den Be- stecks von HO-G, weil dabei die Werkzeuge sehr leiden, denn das Metall ist zu hart.

Da freut man sich dann als Kunsthandwerker, wenn eines Tages ein Auftrag ins Haus flattert, der aus dem Rahmen des Alltäglichen hinausragt. So gravierte Herr Schulze einmal eine Widmung in ein Metallschildchen, das auf eine Gitarre kam und die Reise bis in den Fernen Osten antrat. Als vor vielen Jahren unser erster Präsident Wilhelm Pieck im Stickstoffwerk Piesteritz weilte, wurde ihm ein Geschenk überreicht; die Gravierung darauf stammte von der gleichen Meisterhand.

Gravierungen unterliegen der Mode bzw. es kommen Gegenstände mancherlei Art aus der Mode und dadurch fallen bestimmte Arbeiten aus.
Wer kennt nicht die goldenen Uhren mit Sprungdeckel, die als Geschenk ein ganzes Leben lang behütet und bewacht wurden.
Sie hatten durch Widmung oder Monogramm einen persönlichen Wert bekommen und eine eigene Note. Ab und zu werden noch Siegelringe mit einem Monogramm versehen, doch ist dies selten, genauso wie Petschaft-Gravierungen. Ich lasse mich bei dem Gespräch mit Meister Schulze belehren, daß Halbedelsteine nicht durch den Graveur, sondern durch den Steinschleifer bearbeitet werden.

Unter vielen Bewerbern wählte man Herrn Schulze als jungen Mann aus, bevor der Lehrvertrag ausgestellt wurde. Vier Jahre Lehrzeit sind lang, wenn man eigenes Werkzeug erwerben und sogar noch Lehrgeld an den Lehrherrn zahlen muß.
Lange Jahre arbeitete Herr Schulze in seiner Vaterstadt, ehe er nach dem ersten Weltkrieg im Jahre 1924 zur WASAG nach Reinsdorf kam. Dort wurde er als Spezialist angestellt und fertigte die Formen für die verschiedensten Produkte an, die dieser Rüstungsbetrieb in den zwanziger Jahren herstellte.
Die Generaldirektion in Berlin hatte sich damals entschlossen, „vorübergehend“ bis zum nächsten großen Blutvergießen auf Friedensbasis zu arbeiten. Die Zelluloid-Abteilungen fertigten Zahnbürstenstiele und vor allem Kämme an;
es war praktisch der Beginn der Kunststoffe.
Alle diese und manch andere Produkte wurden in Formen gegossen, die wiederum graviert werden mußten.

Nach dem zweiten Weltkrieg strebte Herr Schulze fort aus dem Wittenberger Raum, blieb aber dann doch in Apollensdorf und arbeitet auch im hohen Alter noch Tag für Tag als einziger Graveurmeister im ganzen Kreis Wittenberg und mancher Nachbarkreise. Im ganzen gibt es 33 Fachkollegen im Bezirk Halle, die den gleichen Beruf ausüben, worunter kürzlich der eine Meister seinen 90. Geburtstag feierte.
Lehrlinge gibt t es nur in den Großstädten, doch sind es nur wenige. Nach Beendigung der Lehrzeit streben sie meist in die mitteldeutsche Industrie, die gern solche Fachkader aufnimmt.

Wie in alter Zeit, so sind die Graveure mit den Gürtlern und Ziselierern in der zuständigen Berufsgruppe vereinigt.
Sie alle gehören zum Kunsthandwerk und blicken auf eine lange Tradition zurück.

Heinrich Kühne

zurück zu: Vergessene Berufe