Der Durchstich

Der „Durchstich“
aus: Archiv des HV WB
1994.05.08. Elbe-Elster-Rundschau

Eines Tages machte sich ein Schuhmachermeister aus unserer Verwandtschaft wieder einmal auf den Weg nach Bleesern und Seegrehna. Dort hatte er seit langer Zeit seine Kundschaft, die er gut bediente. Er nahm einen Rucksack, legte die fertig reparierten Schuhe hinein und auf dem Rückweg nahm er andere Schuhe mit nach Wittenberg zum Besohlen. Aus heute mir unbekannten Gründen habe ich mit ihm zusammen den Weg nach den genannten Orten beschritten. Mitten auf halber Höhe etwa kamen wir zu einem Hausgrundstück, das mitten auf grünen Wiesen lag. Es war der ,,Durchstich“.

In alten Adreßbüchern steht, daß es der Stadtgemeinde Wittenberg gehörte und diese hatte es an einen Landwirt verpachtet. Dieser Landwirt Richter hatte auf einer Wiese vor dem Hausgrundstück Tische und Stühle aufgestellt, damit die Vorbeikommenden Rast machen konnten. Man konnte hier Kaffee trinken, belegte Stullen essen und einige weitere Getränke einnehmen. Umgackert von Gänsen und Enten sowie Hühnern war alles eine ländliche Idylle. Neben dem eigentlichen Wohnhaus befanden sich Scheune und andere Wirtschaftsgebäude.

Eine historische Geschichte sollte man sich kurz anhören. Als der römisch-deutsche Kaiser Karl V. nach der für ihn siegreichen Schlacht bei Mühlberg unseren Kurfürsten Johann Friedrich gefangengenommen hatte und nun mit ganzer Heeresmacht bei Piesteritz lagerte, hatte er auch hier in der Nähe sein „Kaiserzelt“ aufbauen lassen. Damals hatte die Elbe nämlich einen ganz anderen Verlauf im Schmalkaldischen Krieg (1546 -1547).

Um eine große Elbschleife abzukürzen, wurde erst rund 30 Jahre später (1574) der Elblauf etwas begradet und geändert. Daher kam der Name ,,Durchstich“. Bis dahin lief die Elbe noch in einem weit ausholenden, bis an den jetzigen Elbdamm reichenden Bogen um das hier genannte Gelände herum in dem Bett, von dem heute noch die Bleesernschen Kolke als letzte Überbleibsel herrühren. Die Schiffsbrücke, die Kaiser Karl V. benutzte, überquerte diesen Bogen etwa in der Richtung vom Kaiserlager auf die genannte Durchstichwirtschaft zu. Der müde Wanderer oder die Heu- und Grummetmacher finden heute aber nur eine verwahrloste Hausruine vor.

Heinrich Kühne

Foto Mai 2017
aus: Archiv des HV WB