1966.06.29. Rundblick
Um 1900 hatte Wittenberg vier Drechslermeister. Heute finden wir keinen mehr in Wittenberg. Man muß schon nach Dobien um eine Drechslerwerkstatt zu besichtigen. Sie sieht wesentlich anders aus als die alte, ehemals in der Collegienstraße gelegene Drechslerei des längst verstorbenen Meisters Liemann. Sogar das baufällige Haus mit dem Blick zur Wallstraße ist inzwischen abgerissen.
Ja, Herr Drechslermeister, Horst Kablitz ist mit seinen 28 Jahren nicht nur einer der jüngsten Meister seines Faches im ganzen Bezirk Halle, sondern ist auch mit neuen modernen Maschinen ausgerüstet, die in seinem schönen Werkstattgebäude, einem Neubau in der Mochauer Straße, stehen und wo alles einen sauberen Eindruck macht.
Licht, Luft und Sonne können bequem durch die großen Fenster herein. Wie anders sah es damals in der Collegienstraße aus.
Herr Kablitz hatte das Handwerk bei dem alten Meister Liemann erlernt und arbeitete dort auch noch einige Zeit als Geselle.
Nach dem Tode seines Lehrherrn übernahm er die Werkstatt und hatte einige Schwierigkeiten als junger Mann von 19 Jahren, die Gewerbeerlaubnis zu erhalten.
Seit Januar 1957 arbeitete er in der alten Werkstatt weiter, um dann sein neues Heim in Dobien ab Mai 1962 zu beziehen.
Was stellt nun eigentlich heute im Zeitalter der modernen Maschinenarbeit noch solch ein alter Handwerkszweig her?
Schon frühzeitig trennten sich die Spezialisten für Dreharbeiten vom Tischlerhandwerk, doch war auch in Wittenberg früher nur immer eine geringe Anzahl als Drechsler tätig.
Damals wie heute arbeiteten sie in erster Linie als Zubringerbetrieb für die Tischlerwerkstätten. Und so brauchen wir uns nicht zu wundern, daß auch Meister Kablitz gerade Sesselfüße für die Möbelindustrie drechselte, als ich ihn aufsuchte.
Heute rentiert sich nur ein Großauftrag, der vertragsmäßig, termingerecht erfüllt wird.
Manche Lieferungen gehen auch an den VEB Filmfabrik Wolfen.
Diese Arbeiten bestehen darin, daß Tausende von kleinen Kugeln,
von der Hand des Herrn Kablitz, gedrechselt, an der Querstange der bekannten ORWO-Fahnen befestigt werden, die man an den Kiosken überall finden kann.
Leichter Staub überzog die kleinen hübschen Eisenbahner, die vor einiger Zeit im Auftrag des Ministeriums für Verkehr der DDR überall zu finden waren, wo tüchtige Eisenbahner ihre Verpflichtungen abgaben. Die kleinen Eisenbahner trugen einen Zettelkasten mit einem Schlitz, der die abgegebenen Unterschriften enthielt. Das war keine leichte Arbeit.
Die rund 6000 kleinen Eisenbahner hatten einen gedrechselten Arm, der dreimal geleimt wurde
Aufträge aus der ganzen DDR finden Meister Kablitz in Dobien,
viele seiner Werkstücke begeisterten unsere Sportler. So waren es
einmal die vielen, vielen Keulen für unsere jungen Mädchen anläßlich des Deutschen Turn- und Sportfestes in Leipzig, die von
hier aus die Reise antraten, ein andermal gelangten Kegel, die den
genauen Vorschriften des Wettkampfes entsprachen, zum Versand. Aber auch Spezialanfertigungen für Artisten verließen die Werkstatt des Meisters, so für die bekannte Wittenberger Pioniergruppe und für die Artistenschule in Berlin (Schiedewitz).
Auch einige Kunstgewerbearbeiten wurden angefertigt. Voller Stolz
zeigte mir Herr Kablitz ein als Meisterstück abgenommenes und
bewertetes Rauchservice. Gedrechselte Mahagoni-Holzart wirkt
sehr dekorativ auf der Kredenz im Wohnzimmer, ein hervorragendes Stück, das man gleich mitnehmen möchte.
Die am meisten verarbeiteten Hölzer sind: Erle; Rotbuche und andere Edelhölzer, für kunstgewerbliche Gegenstände benötigt man
Platane, Kastanie, Ahorn. Doch wer lernt heute noch das Handwerk? Im ganzen Kreis Wittenberg ist kein Lehrling vorhanden.
In Schmiedeberg hat ein junger Meister, Herr Melwitz, das väterliche Handwerk mit der Werkstatt übernommen, weitere Meister sitzen dann in Belzig und Wörlitz.
Der Oermeister wohnt in Dessau.
Sitz der Berufsgruppe, zu der schon immer auch die Schirmmacher und Holzbildhauer neben den Drechslern gehörten, ist in Halle.
Beim Verabschieden zeigte mir Meister Kablitz das alte Drechslerwappen, das aus dem Zirkel, zwei Meißeln und einer Kugel in der Mitte besteht.
Dieses alte Berufszeichen hat er sehr sinnvoll in seinen Eisenzaun vor dem Hause mit einarbeiten lassen.
Heinrich Kühne