Der Bücherschrank des Flämingbauers
Der Fläming ist ein Höhenzug, der sich im nördlichen Teil
des Kreises Wittenberg befindet und bis in die Altmark
und in den Bezirk Potsdam reicht.
Die Gegend um Wittenberg läßt diesen Höhenzug zur Elbe
zu abfallen und ist gleichzeitig die Sprachgrenze des Niederdeutschen jahrhundertelang gewesen und noch zur
Zeit der Reformation sagte man, daß Handwerksburschen
und Bettler sogar über den Fläming gehen.
Doch an anderer Stelle heißt es, daß dieser Höhenzug
„arm an Born, aber reich an Korn“ sei.
Zur Erntezeit wogen hier die Kornfelder in Wind und tauchen die ganze Gegend in Gelb, während sich im Hintergrund
die dunklen grünen Wälder abheben. Aus einem dieser Orte soll nun berichtet werden.
Noch vor hundert Jahren
zählte Berkau 150 Einwohner, die in 29 Häusern wohnten.
Heute sind es kaum dreißig Einwohner mehr und der Ort ist
nach den Flämingsdorf Straach eingemeindet.
Die in diesem Ortsteil wohnenden Genossenschaftsbauern
arbeiten in der LPG „Rotes Banner“ in Straach oder schaffen
kräftig mit in der Pflanzenproduktion Boßdorf.
Ein glücklicher Zufall läßt uns heute einen Blick in die „Bibliothek“ eines Bauern der alten Gemeinde Berkau werfen.
Hier stand der Bücherschrank des Erb-Lehn-und Gerichtsschulzen Bölke. Er hatte 1704 in einen Bauernhof eingeheiratet.
Andrans (so steht es geschrieben) Bölke, so war sein Name,
war ein Mann, der lesen, schreiben und rechnen konnte.
Damit hob er sich von seinen Standesgenossen und von den
anderen Bewohnern des Ortes ab, denn nach zeitgenössischen Qellen waren diese Kenntnisse nicht Allgemeingut der dortigen Bewohner. Noch zum Schluß des 18. Jahrhunderts drängten man
auf Verbesserungen der Landschulen.
Aus dieser Zeit schrieb ein ungenannter Verfasser seine Gedanken nieder und wollte die Beschaffung von Schulbüchern dahin erreichen, daß die Strafgelder für Felddiebstähle, Beschimpfungen und zuspätkommen zur Arbeit der Tagelöhner dazu benutzt würden.
Er ist der Meinung, das man Geografie, Naturlehre und Geschichte weglassen sollte, da selbst die Unterrichteten auf dem Dorfe den Stoff dieser Fächer nicht beherrschen würden.
Nach der Schulentlassung dienten die Jungen und Mädchen entweder beim Großbauern oder helfen in der elterlichen Landwirtschaft.
Sie würden das Gelernte schnell vergessen und wo dies nicht der Fall wäre, würde „ihre Neugierde dadurch gereizt“, sie würden weitere Bücher gern lesen und unnützes Geld dafür ausgeben.
Es kämen ihnen Zweifel an der Religion und würden ihre so erworbenen Kenntnisse auch anderen mitteilen, was schließlich zum Nachlassen des Kirchenbesuches führen würde.
Man muß allerdings sagen, daß es auch weitsichtige Männer um diese Zeit gab, die „bey der Menge von Schriften, die in unserm bücherreichen und leselustigen Zeitalter von Messe zu Messe erscheinen“ auch die Bibliotheken auf dem Lande und hier vor allem die Schulbibliotheken gefördert sehen sollten. In einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die in Wittenberg erschien, hätte jemand gern gewußt, wie man eine Schulbibliothek einrichten sollte. In Mai des Jahres 1800 erklärte dazu der Schriftsteller und „Bienenvater“ Spitzner, daß er zwar kein direktes Beispiel einer bestehenden Dorfschulbibliothek melden kann, doch sollte man in erster Linie durch eine solche Bibliothek den Aberglauben im Dorf bekämpfen. Neue Wege müßten beschritten werden und zunächst sollte sich die Pädagogen selbst einmal schulen.
Zu diese Zwecke weist er auf mehrere Schriften hin, die bereits vorlagen. Er erwähnt Gregorius Schlaghard und Lorenz Richard oder die Dorfschulen von Langenhausen und Traubenheimer, der Verfasser hieß Schlez.
Erschienen ist das Werk in Nürnberg 1795 und kostete 20 Groschen. Ferner kommt er auf drei weitere Bücher zu sprechen
und vor allem auf ein damals sehr beachtliches Buch:
„Gutmann oder der sächsische Kinderfreund“ von Thieme.
Es erschien in Leipzig und hatte mehrere Auflagen.
1797 kosteten beide Teile 16 Groschen. In einer späteren Buchbesprechung heißt es, daß der Magister Karl Traugott Thieme als Rektor der Schule zu Löbau dieses Buch für Bürger- und Landschulen schrieb. Seine große Verbreitung reichte weit über Sachsen hinaus. Darin wird der Fleiß des Verfassers erwähnt, der sich nicht von dem eingeschlagenen Weg abbringen ließ, obgleich er einige schlechte Kritiken von bestimmten Käufern hinnehmen mußte. Dann zählt der Verfasser sieben Bücher auf, deren Inhalt sich auf die Naturgeschichte, Ökonomie und die Gesundheitslehre bezog. Struves Lehrbuch der Kenntnis des menschlichen Körpers erschien 1790 und wird auch mit angeführt. Wertvoll erscheint ihn dann des Buch von Magister Eberhard, das 1799 in Erfurt herauskam zum Preise von 20 Groschen. Der Titel lautete:
„Neueste Ansicht und Beleuchtung der Geschichte der Sonn- und Festtage…“
Dieses Buch bekämpfte den Aberglauben auf dem Dorfe, der eine unselige Verbreitung gehabt hatte.
Weiter regte der Verfasser an, daß man das Kopfrechnen üben sollte und immer mit Beispielen arbeiten müßte.
Er verwies auf Musäus, der einmal sagte:
„Exempel wirken mehr,
als Unterricht und Lehr:
Moralen machen immer
den Starrkopf nur noch schlimmer.“
Spitzner schließt seine Darlegungen mit den Worten:
„Ich schließe mit dem Wunsche, dem unbekannten Anfrager wenigstens zum Teil Genüge geleistet und doch vielleicht ein Scherflein zum besseren Unterricht der immer noch größtenteils vernachlässigten Dorfjugend beigetragen zu haben“.
Nach diesem Hinweis auf die Zeitverhältnisse werfen wir nun
einen Blick in den Blüchernschrank des Bauern Bölke.
Der aus dieser Familie stammende spätere Pfarrer Otto Bölke beschrieb vor langen Jahrzehnten den wertvollen Inhalt desselben. Aus seinen Darlegungen geht hervor, daß etwa zehn Bücher vorhanden waren. Neben einer Bibel aus dem Jahre 1702,
gedruckt in Nürnberg und verlegt bei Johann Andreas Endters Söhne, die mit schwarzen Lederbezug, Messingbeschlägen und Buchenholzdeckeln das Regal im Schrank beherschte,
standen die weiteren Bücher.
Der Dorfschulze bewahrte in der Bibel wertvolle Familienpapiere auf. Aus Lüneburg, gedruckt 1712, stammte gewissermaßen als Ergänzung der Bibel die Auslegung und Erklärung der Evangelien. Eine Predigtsammlung aus dem Jahre 1744 aus der Schulkirche
zu Halle schloß sich an.
Zu dieser Reihe kann man ferner das bei David Richter in Bautzen 1723 erschienene Buch mit den sonderbaren Titel:
„Die verkehrte Bibel der Gottlosen. In Vierzig besonderen Geistl. Reden über so viel Biblische Sprüche fortgesetzet …“,
ein Quartband, hinzurechnen.
Eine Geschichte der Reformation in den albertinischen Landen Sachsens aus dem Jahre 1730 stand daneben.
Dann konnte man zwei Gesangbücher sehen, eine davon erschien
in Freiberg 1662, das andere war das „Wittenbergische Kirchengesangbuch“, das bei dem bekannten Verleger in
mehreren Auflagen von 1749 bis 1779 herauskam.
Herausgeber war der Professor der Theologie und Generalsuperintendent Dr. Jonann Friedrich Hirt.
Dieser Mann war gleichzeite ein hervorragender Kenner
der orientalischen Sprache, über die er eine eigene
Zeitschrift herausgab.
Neben diesen geistlichen Büchern schafft sich der Bauer Bölke
zum täglichen Gebrauch das in Zittau und Leipzig 1765 in Verlag
von Adam Spiekermann erschienene Werk über die Rechenkunst an. Verfasser war der Magister Christian Pescheek, er lehrte am Gymnasium Zittau. Hiernach konnte Bölke den Ertrag seiner Ernte und den Verkauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse berechnen, denn der Verfasser gab wertvolle Beispiele dazu an. So lautete ein solches „Anno 1723 hat der Scheffel Böhmisch Korn in Zittau gegolten 32 Groschen und da haben die Becker (Bäcker) auf Anordnung der Obrigkeit ein Groschen-Brodt 3 Pfund und 12 Loth schwer backen müssen.
Ist demnach die Frage:
„wie schwer sie ein Groschen-Brodt haben backen müssen, da bey uns in Zittau Anno 1719 der Scheffel Korn 4 rthlr. (Reichtaler) gegolten hat?“
Antwort:
„1 Pfund und 4 Loth“.
Man konnte solche Fragen auch durch Reime schmackhafter machen, obgleich das Ausrechnen sich dadurch nicht leichter machte.
Ein solches Beispiel lautet:
„Der Weinschenck einer Stadt bekommt vier Eymer Wein,
doch nicht von einer Art: Aus erstem der von Rhein,
Da wird ein Maß verkauft vor einen halben Thaler,
den trinkt ein jeder gern und auch der schlimmste Zahler;
Und von der andern Art, den Ungarn reichlich giebt,
Zwölf Böhmen kost das Maß, er wird auch sehr geliebt;
Und von der dritten Art, den Meißen fleißig bauet,
Vier Groschen gilt das Maß, den man mit Lust anschauet,
Und von der letzten Art, den Böhmen häufig trägt,
Zehn Kreutzer gilt gilt das Maß, den Magen er wohl fegt.
Er will nun solchen Wein in eines zusammen gießen,
Wie theuer kommt das Maß, das möcht ich gern wissen,
Von dem gemengten Wein, den er ins Faß gebracht.
Aus viererleyer Art nur einen Wein gesucht?
Antwort: 7 Groschen und 4/5 Pfennige.„
Schnell mußte der Bauer handeln, wenn das Vieh erkrankte.
Konnte der Dorfschäfer nicht helfen durch Kräuter, Besprechen und Bestreichen, so las der Bauer Bölke in einem Buch seiner Bibliothek. Auf 118 Seiten fand er die Hinweise für die
„Krankheit und Arzney des Thierisch-Sinnlichen Lebens“.
Eine Schrift,die zuerst in Leyden in Holland 1711 herauskam und zwei Jahre später in Frankfurt/Main und Leipzig in Deutsch erschien.
War jemand in der Familie krank, so nahm er das Buch
„Zeug-Hauss der Medicin oder der Gesundheit“
von Georguis Daniel Coschwitz zur Hand.
Es war 1703 in Halle erschienen.
Auf 714 Seiten Text war so gut wie alles aufgezählt,
was an Krankheiten in der Familie sein konnte,
und gleichzeitig die ersten notwendigsten Handlungen
zu deren Beseitigung aufgezählt.
Besonders bevorzugt war dabei das Ansetzen der Blutegel.
Damit war die Bibliothek des Bauern Bölke in Berkau vervollständigt. Später kamen die Bücher in einen dafür
besondern angefertigten Schrank.
Zu diesem Zweck wurde ein alter Nußbaum gefällt.
Das feste Holz erhielt der Dorftischlermeister zwecks Anfertigung des Möbelstückes.
Es soll ein wahres Meisterstück gewesen sein in der Form des Klappschrankes, der gleichzeitig als Schreibtisch diente.
In den kleinen Schubfächern wurden wichtige Papiere
aufgewahrt und es in einen besonderen Geheimfach war
der Platz für die blanken Taler.
Dieser Tischlermeister war gleichzeitig der Lehrer im Ort.
Wenige Kilometer von Berkau entfernt war Brandenburg-Preußen, dort regierte Friedrich Wilhelm I. und in seinem
„Generalschulen- Plan“ konnte man unter Punkt 10 lesen:
„Ist der Schulmeister ein Handwerker, kann er sich schon ernähren, ist er keiner, wird ihm erlaubt, in der Ernte sechs Wochen auf Tagelohn zu gehen.“
Otto Bölke beherrschte seine heimatliche Mundart ganz hervorragend und gab 1927 ein Buch unter der Titel
„Wat van heem“
heraus. Darin gedachte er auch des alten Bücherschrankes mit dem wertvollen Inhalt aus Berkau. Einige Zeilen daraus lauten:
„Kiek an! Doa steht e noch
Noa mehr as zwee moal hunnert Joahre!
Wat‘ s dat voar‘ n Meesterstick,
As ik sust no nich gesiehn hä!
Den gä’k nich hä, den gä’k nich hä,
Den Schrank van’n ollen Kister.“
Seite73 2. Absatz
Dann erzählt Bölke in breiter Fläminger Art weiter über den bereits oben beschriebenen Inhalt des Schrankes und schließt dann sein Gedicht:
„Un – Kinger! Kummt de Noad voar Jou moal groot:
Hoallt demn Schrank jou wert, den Schrank van’n oll‘ Kister
Un ward’t jei ook moal wedder
In dat, wat jei ook warrn meegt:
Meester!
Hoalllt jou den Schrank in Ehr’n, den oll‘ Biekerschrank
Der jou noch vill kann lehr’n!“-
…
Der Zufall wollte es, daß ich noch eine weitere Büchersammlung eines Bauern in Trajuhn, einen Dorfes das heute nach Wittenberg eingemeindet ist, erfuhr. Neben der stets vorhandenen Bibel und den Gesangsbuch standen da vor hundert Jahren viele schön geistige
Bücher und eingebundene Zeitschriften.
Ferner waren Werke von Charles Darwin und Wilhelm Bölsche im Besitz des Bauern Wolter.
In vielen Familien war dann noch der Heimatkalender vorhanden, wie beispielsweise Freire Liebenwerda.
Dort lieferte der Herausgeber gleich einen Faden zum Aufhängen mit und ließ in der linken Ecke oben der Kalenders gleich ein Loch stanzen, wodurch der Faden gezogen wurde.
So hing der ein Kalender bis zum nächsten Jahr meist am Spiegel
in der Stube, des Landwirts.
Abschließend möchte ich den großen Mediziner, Forscher und Humanisten Rudolf Virchow zu diesem Thema zitieren, der in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nach Reise durch verseuchten oberschlesischen Gebiete an die preußische
Regierung berichtete:
„…Kaum ein Buch, außer dem Gebetsbuch, war dem Volke zugänglich, und so ist es denn möglich geworden,
da mehr als eine Million von Menschen hier existieren,
denen jedes Bewußtsein der inneren Entwicklung des Volkes, jede Spur einer Culturgeschichte abgeht,
weil sie schrecklicherweise keine Entwicklung,
keine Cultur besitzen.“
Heinrich Kühne †