1926.01.26. Wittenberger Zeitung
Das Wittenberger Chamottewerk
Niet- und nagelfest ist heutzutage eine sehr schätzenswerte Eigenschaft, wo bei den fortgesetzten Arbeiterentlassungen die Not des Volkes immer höher steigt und der hungernde Mensch in der Drangsal des knurrenden Magens eben um sich greift und mitgehen heißt, was nicht niet- und nagelfest da steht. Die Errungenschaften der Revolution, die uns in erster Linie Brot und Arbeit versprach, haben nun einmal diese brot- und arbeitslosen Zustände gezeitigt und ehe nicht mit der korrupten Parlaments- Cliquen- Wirtschaft aufgeräumt und wieder wirklich gearbeitet und gespart wird, statt jedes Jahr ein Paar Dutzend Minister zu verbrauchen, die sich mit ihren fetten Pensionen stillvergnügt ins Privatleben zurückziehen, bevor nicht wieder Leute ans Ruder kommen, die von dem Kram etwas verstehen und nicht nur nach Parteirücksichten regierend die teure Partei über das Vaterland stellen, eher werden die Zustände ohne Brot und Arbeit wohl nicht aufhören.
Aber davon wollte ich ja eigentlich garnicht reden, sondern ich wollte mich hier mit Dingen beschäftigen, die ebenso schätzenswert sind wie niet- und nagelfest, das sind feuerfeste Sachen; und wer sich ansehen will, wie Gegenstände mit diesen wertvollen Eigenschaften hergestellt werden , braucht nur das hiesige Chamottewert zu besuchen, dann kann er sich über diese feuer- und auch sonst handfesten Sachen gründlich belehren.
aus: Archiv des HV WB
Als Urstoff für die feuerfesten Waren dienen verschiedene Tonarten, die aber mit dur und moll nichts zu tun haben, denn der fertige Gegenstand ist beim Umgang nichts weniger als mollig (d.h. weich), dagegen erweist er sich seinem Endzweck entsprechend später als recht durabel (dur d.h. hart). Aus aller Herren Länder werden die Tonerdearten herangeschafft, denn bei der sehr vielgestaltigen chemischen Zusammensetzung der einzelnen Tone eignet sich naturgemäß nicht jeder Rohstoff allein und an sich zu allen feuerfesten Waren, sondern die Feuerfestigkeit der Masse, vermöge welcher sie selbst in anhaltender Weißglut nicht berstet, mürbe wird oder schmilzt, beruht lediglich auf der Reinheit des Tons, d.h. auf der Abwesenheit von Alkalien, Kalk und Eisenoxyd.
Hergestellt werden auf verhältnismäßig einfache Weise, bei der Maschinen- und Handarbeit zusammenwirken, allerhand Formsteine für Schmelz- und Glühöfen, Verpackungen für Feuerungsanlagen, Kapseln zum Porzellanbrennen, Schmelztiegel, Retorten usw. in Gestalt von Ziegeln, Platten verschiedenster Größe und Stärke je nach Verwendungszweck mit sorgsam eingebrannten Kennmarken, Muffeln, Röhren, Ringen usw.; sogar Türen für die Öfen von Krematorien werden auf Bestellung und nach Maß angefertigt. Überhaupt werden diese feuerfesten Steinwaren zu allen Baulichteiten verwendet, die einer andauernden heftigen Hitze ausgesetzt sind.
Die verschiedenen Tonarten werden nach sorgfältiger chemiescher Voruntersuchung entweder rein, aber untereinander gemischt, oder mit bereits gebrannten Tonstücken, die aus der Tschechoslowakei bezogen werden, versetzt gemahlen, nach Körnigkeit sortiert, angefeuchtet und dann ein paar Tage gelagert, wodurch sich die Masse gleichmäßiger ausgestaltet. Steine nach Art der Ziegeln und kleine Platten werden mit Maschinen zu ihren Formen gepreßt und gestrichen. Bei Formstücken mit geschwungener Linienführung, bei denen es auch hinsichtlich der Abmessungen auf Präzisionsleistung ankommt, müssen in Handarbeit hergestellt werden, die viel Geschicklichkeit und Erfahrung erfordert, und deren Gelingen ferner abhängt von der Genauigkeit der in eigener Modelltischlerei angefertigten Holzmodelle. Auch in dieser Werkstatt muß Präzisionsarbeit geleistet werden, denn von den genauen Ausmaßen hängt die Verwendungsfähigkeit der Fertigware ab.
Die feucht geformten Steine, Musseln, Platten und wie man sie alle benennen mag, werden nun in einem über dem Brennofen gelegenen, angenehm durchwärmten Raum der Lufttrocknung überlassen und dann in den Brennofen gebracht, dort sorgsam abgesteift zusammengesetzt, damit die Füllung sich nicht verschiebt oder zusammenrutscht und der wohltätigen Gewalt eines Steinkohlenfeuers ausgesetzt, das ihnen die gewünschte Feuerfestigteit verleiht. Als graues Vorzeug wurden die Formsteine hineingepackt, und als rötliche feuerfeste Fertigware kommen sie wieder zum Vorschein. Ein guter feuerfester Stein darf nicht zerspringen, wenn er glühend ins Wasser geworfen wird. Die absolute Feuerfestigkeit wird im Interesse der Abnehmer natürlich nachgeprüft, und zwar beschäftigt sich damit ein vereidigter Chemiker, der dieses billiger und unparteiischer bewerkstelligen kann, als die herstellende Fabrik selbst. Die Feuerfestigkeit wird mit den sogenannten Segerkegeln nachgeprüft, die bis auf 10-15 Grad genau die überstandenen Hitzegrade nachweisen. Diese nach ihrem Erfinder benannten Segerkegel sind kleine, etwa fingerlange, kegelartige Gebilde, die je nach ihrer Zusammensetzung bestimmte Hitzegrade aushalten und erst beim Üeberschreiten derselben weich werden und zusammenklappen und dadurch dem Beobachter des Schmelz- oder Brennofens ein Zeichen geben, ob der zu brennende Gegenstand noch weitere Hitzegrade vertragen kann. Fehlerfreie Chamottesteine müssen die höchsten Temperaturen und den stärksten Temperaturwechsel aushalten, ohne zu schmelzen oder zu springen. Ganz reiner Ton ist von Natur auch in der größten Hitze unschmelzbar, während Beimischungen von Kalk, Eisenoxyd und Alkalien ihn um so leichter schmelzbar machen, in je größerer Menge sie sich im Ton vorfinden.
Neben diesem wertvollen reinen Ton ist ein gesuchter Handelsartikel der Porzellanton oder Kaolin, wie der Chinese diesen Ton benennt und woraus er nachweislich schon seid dem 9. Jahrhundert vor Christi Geburt das wertvolle Porzellan herstellte.
Mit Porzellan wiederum verwandt, wenn auch nicht wesensgleich und nicht so wertvoll, aber doch außerordentlich brauchbar ist das Steingut, für das wir in Wittenberg ebenfalls eine Erzeugungsstätte haben, zu deren Besichtigung und Beschreibung uns der nächste Rundgang durch die heimischen Industriestätten führen soll.
Sehr erfreulich an dem Wittenberger Chamottewerk ist die Stätigkeit seines Betriebsumfanges, die es selbst in dieser wirtschaftlich so schweren Zeit vor Arbeitseinschränkung und Arbeiterentlassungen bewahrt haben. Zu danken ist dieser Umstand neben der umsichtigen und weitausschauenden Leistung dem regen Export in ferne Länder, auf den unsere Industrie bei der bisherigen schlechten Handelsbilanz großen Wert legen muß, wenn unsere Valuta erhalten bleiben soll.
Hoffen wir, daß unsere Gesamtwarenausfuhr wie in dem letzten Monat weiter steigt und daß die Wareneinfuhr besonders der leidigen Luxusmarken entsprechend abnimmt, damit wir wieder zu einer gesunden Außenhandelsbilanz gelangen und unsere Schulden an das Ausland leichter abtragen können.
P.W.
Wittenberger Chamottewerk – Lageskizze
ehemals Dessauer Straße 102
05.03.1915 in Betrieb – 16.03.1943 abgerissen
aus: Archiv HV WB