Vor Weihnachten 1891 hatte der Schnee den ganzen Kreis Wittenberg zugedeckt. Die Straßen und Plätze lagen übervoll.
Die Jugend, die immer der Stadt hilft, hat sich den Kirchplatz zur Reinigung ausgesucht.
Es ist der letzte Markttag vor Weihnachten, als ca. 30 Kinder mit ihren Schlitten den Schnee zusammen fahren. Hieraus wurde vor jeder Kirchtür ein über 2 m hoher Schneemann errichtet.
Wenn der Musikdirektor Karl Stein am ersten Feiertag zur Orgel will, soll er durchs Fenster kriechen.
Schmidts-Liese, die auf Markses-Emil seine Schulter sitzt, frisiert gerade den mächtigen Schneemannkopf mit Kohlen, als der Pfiff des Herbergsvaters über den Platz schallt.
In der Annahme, daß wieder ein Betrunkener zur Wache zu bringen ist, rennt alles zur Holzmarkt-Schluppe. Diesmal ist es ein Irrtum. Statt dessen übergibt mir Onkel Rennert ein ca. 8 Pfd. schweres Paket mit der Weisung, es sofort an den Botenmann Döring abzuliefern.
Döring hat das Paket mit Hefe für die Kaufleute und Bäcker in Kropstädt in Rennerts Laden liegen gelassen und ist vor ¾ Stunden abgefahren. Die Kropstädter können keinen Weihnachtskuchen backen, schnell hole Döring ein. Er muß ja einen Vorsprung mit seinen beiden Hunden bis Karlsfeld oder Königgrätz haben,
Nur ein schnelles Pferd kann ihn einholen.
Leider sind sie alle unterwegs. Pump dir die Lotte von Oberst
Strensch, rät Grossens-Otto.
Lotte ist eine 8jährige Stute, die wir im Sommer zur Schwemme und Hufschmied reiten, den alten Oberst zum Schießen nach Kleinwittenberg fahren usw.
Er spart dadurch den Kutscher, denn er ist sehr genau.
Lotte freut sich, wenn sie mal raus kommt.
Also rennt die ganze Meute zum Markt (jetzt Kaffee Stock).
Ich bitte um die Lotte auf 2 Stunden.
Nein, mein Junge, Lotte hat keine Stiefeln und der Weg ist zu glatt! Draußen gibt mir Kurt Bosse seinen langen Rodelschlitten, damit ich das Paket nicht tragen brauche, Spann unse Katze vor, dann brauchste nich zu loofen, rät Teo Kimstädt.
Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand, rufen die andern.
Aber ich habe noch einen Freund, der mitgeht durch dick und dünn. Nach 3 Min. finde ich ihn schlafend und tute ihm ins Ohr:
Kommste mit?
Mit seiner großen Zunge leckt er mich dreimal über die Backen, springt auf und schüttelt sich als Zeichen der Bereitschaft.
Schnell ins Geschirr, das Stachelhalsband mit den Leinen angeschnallt und fertig zur Abfahrt.
Cäsar heißt mein Freund, den ich vor 3 Jahren in einer Zigarrenkiste aus Zahna holte. Mit Milch und Eiern haben wir ihn gepäppelt. Später sorgte Gottlieb Karius (jetzt Günter Merkt) schönes Hundefutter, daß er sich zu einer prächtigen deutschen Dogge a la Fürst Bismark entwickeln konnte.
Er war genau so groß wie unser Stubentisch, und wenn er mit dem
Schwanz wedelte, lagen die Tassen unten. Deshalb war er meist
bei den Pferden, deren Touren er 3-4fach mitmachte, indem er durch die Felder jagte. Als er ein Jahr alt war, spannte ihn die Jugend mit dem Ziegenbock zusammen. Später einspännig gefahren, war er für die ganze Nachbarschaft zu haben.
Hatte Karius ein Kalb gekauft, holte es ein Lehrling mit Cäsar.
Bei Gerischer kriegten wir sogar pro Mann 2 Bonbon, wenn wir ein Faß Saft holten. Es durften aber nicht mehr als 2 Mann beteiligt sein, sonst wurde es zu teuer.
Cäsar hat auch eine Braut, die er heute besuchte und dadurch nicht mit auf Tour ging. Es ist ein fettes Vieh wie die aus dem Einnehmerhaus an der Elbbrücke.
Sie hat Teckelbeine wie du, Schlappohren wie du und bellt, daß die Schwaben das
Haus verlassen wiedu, wiedu, wiedu, von früh bis spät.
Heute ist es schon 3 Uhr, als wir mit dem festgebundenen Paket im Hundetrab über den Kirchplatz schlitten.
Unsere Freunde begleiten uns mit vielen Schneebällen bis durch die Bürgermeisterstraße. Wir brauchen auf der glatten Berliner Chaussee nicht zu eilen, denn in einer Stunde sind die 15 km hinter uns. Am langen Witten Berg trabe ich nebenher und schaffe Erleichterung.
Oben fällt Cäsar von selbst in Galopp und Karlsfeld, Königgrätz, das Krätzer-Häuschen, Köpnick fliegt vorbei. Wir kennen jeden Baum, jeden Seitenweg, und mit einem klugen Hund fährt sich besser als mit einem dummen Mann.
Am herrschaftlichen Hochwald beginnt das Kropstädter Revier. Dort am Friedentalweg halten wir, denn man kann nun schon nach Kropstädt zeigen.
Das Stück Zucker, was schon 3 Wochen in der Hosentasche liegt, beiße ich durch.
Ein Teil für mich, der andere Teil liegt auf Cäsars großer schwarzer Nase.
Dann deklamiere ich:
„Wenn der Jäger jagen geht
und der Hund vor Hühnern steht,
geht es Püff, Paff, Puff.“
Erst bei Puff wirft Cäsar den Zucker in die Höhe, fängt ihn auf und frißt ihn mit viel Freude.
Nach 10 Min. scharfem Trab halten wir bei Döring.
Er legt aus dem Paket 6 kleine in einen Korb.
Weil ich die Namen unserer Kunden lese, bringe ich die Hefe selbst hin.
Bei Schütze/Freidank, Hagendorf, Grabo, Garz – überall gibt es Bonbon, Schokolade.
Bäcker Garz hat Pfannkuchen gebacken, wovon Cäsar gleich 5 Stück verschluckt. Es ist ja alles so billig. Laß dir von Ehlen-Muhmen einen Kaffee geben, hatte die Mutter nachgerufen, also hin zum Gasthof Wilh. Ehle.
Vor der Tür halten 4 Fleischerwagen mit 8 Pferden.
Zwei Treuenbrietzener, Frommholz Zahna und Aug. Anger Wittenberg, alles Bekannte.
Wir fahren gleich über den Hof bis in den Kuhstall, schirren
ab und stellen den Schlitten hoch.
Die stramme Magd sitzt unter der Kuh und singt das flamsche Melkerlied:
Frühlingsluft und Blumenduft,
unsse Hund hat Flehn,
immerzu fortzt
de Kuh übers linke Been.
Strip, strap, strull der Emmer
is bald vull.
Ich mache mit ihr Mund auf, Augen zu und stecke ihr 1/2 Tafel Schokolade in ihre Futterluke.
Ohne vom Melken aufzusehen, wird sie zerkaut.
Dann stehen wir bei Ehlen-Muhmen in der Küche.
Sie sieht sofort was los ist und zieht uns zum großen Ofen in der Gaststube. Dort ist viel Radau.
Brachwitz, genannt der lange Saul, und Teckel-Kley, die Aufkäufer vom Hundepark, haben das Pferd von Aug. Anger zu Hundefutter angekauft.
Die Briezener wollen an Anger eins ihrer Pferde verkaufen.
Cäsar legt den großen Kopf auf den Tisch.
Ehlen-Muhme bringt einen Topf heiße Milch und eine schrecklich lange Butterstulle.
Ein Brietzener langt den flamschen Kower vom Haken und gibt uns ein handlanges Stück Schlackwurst.
Jetzt geht es uns mal wieder ein Weilchen gut, denn ich teile mit Cäsar ahne Beschupp. (Zur Belehrung)
Der Kower bestand aus zwei gleichen, ca. 50 cm hohen, ovalen aus Spanholz geflochtenen Teilen. Sie wurden ineinander geschoben und mit einem Strick über der Schulter getragen.
Vorläufer vom Rucksack.
Plötzlich fragt Frommholz Zahna:
Saul! Was kostet der Hund bei euch im Park?
Saul antwortet: Nicht weniger als 300 Mark.
Dies löst einen Proteststurm aus, aber Saul behauptet:
Keins eurer Pferde ist so schnell wie der Hund.
Der Älteste der Briezener will den Handel mit Anger beenden und erklärt:
August du bekommst mein Pferd für den gebotenen Preis, wenn
du eher in Mailand bist als der Hund.
Mußt aber den geforderten Preis zahlen, wenn der Hund überholt. Anger will dem Verkäufer die 10 Taler, um die es geht, nicht lassen. Da macht Vater Ehle folgenden Vorschlag:
Anger zahlt den vollen Preis.
Ehle nimmt davon 10 Taler und zahlt sie dem Gewinner aus.
Als Saul an Anger noch einen Vorsprung von 150 Meter gibt, schlägt er zu. Schnell wird bezahlt, die Pferde umgespannt, auch Cäsar ist fertig.
Da befiehlt mir Saul: Du fährst auf der Spitze des Mailand-Berges nicht eher und nicht später vorbei (jetzt Mailandshöh).
Es ist inzwischen ganz dunkel, eine Menge Leute haben sich angefunden, als August mit dem neuen Pferde losrasselt.
Als er 150 Meter. vor ist, beginnt das Rennen.
Der Hund ist nicht mehr zu halten.
Im hohen Holz sehe ich Angers Laterne wackeln und am Friedentalweg läuft Cäsar direkt hinter dem Wagen.
August schlägt mit dem Peitschenstiel dauernd auf das Pferd.
Vom Wagen sind wir nicht zu sehen, denn ich liege auf dem Bauch, die Lenkleine um die Hand.
August ruft immer, wir sollen uns melden, denn zum Umdrehen ist er viel zu fett.
Als wir den langen Kretzerberg anfahren, ist das Pferd ausgepumpt. Der Köpnickerweg und das Krätzer-Häuschen mit der großen Kastanie fliegt noch vorbei, dann fällt das Pferd in Schritt.
Ein Weilchen läßt sich der Hund zurückhalten, dann muß ich absteigen, gehe mit ihm hart an das Vorderrad und rufe:
Onkel August! So kommen wir nicht nach Mailand!
Ihm geht die Mütze hoch, er schlägt wie besessen auf das Pferd und ist bald im Dunkel verschwunden.
Vor Königgrätz haben wir ihn an.
Karlsfeld liegt schnell hinter uns, schon sehe ich die 3 hohen Pappeln, wo nach kurzem Anstieg der scharfe Abfall nach Wittenberg folgt.
Vorsichtig muß Cäsar vom Wagen weg, er trabt schon neben dem Wagen.
August muß jetzt aufpassen, sonst fällt das Pferd.
Jetzt sind wir oben, da rufe ich:
Los! Hurra! Mit wildem Gekläff jagt der Hund am Pferd vorbei, was nach rechts ausbricht.
Der Wagen rutscht quer über die Straße, der Hund setzt mit langen Sprüngen den Mailandsberg hinab.
Kaum sehe ich Bayers Windmühle und die Lichter von Wittenberg, da taucht rechts die alte Schmiede auf, und wir sind am Ziel.
Ein scharfer Ruck an der linken Leine und Schlitten, Hund und Junge
wälzen sich in den Schneemassen vorm Gasthof zur Stadt Mailand.
Schnell mit Hund und Schlitten in die Stube.
Dort sitzt mit mehreren Bauern mein Lehrer Fritz Köhler, der noch einen Hasen zum Fest braucht.
Er beschützt mich, als Anger mit dem Peitschenstiel eintritt.
Nach kurzem Radau erklärt er:
Wärest du nicht durchgefahren, hättest du zu Weihnachten eine große Wurst gekriegt.
Aber Köhler entschied:
Hier ging es nicht um die Wurst, sondern um die Hundeehre und die siegte.
Auf meinem Weihnachtstisch stand von den Treuenbrietzner
Fleischern ein schmuckes Pferd als Briefbeschwerer, von den Zahnaern ein Hund als Tintenwischer und von Vater Ehle ein Lederbeutel mit 10 harten Talern.
Pferd, Hund und Geldbeutel sind noch heute auf meinem Schreibtisch. Der Geldbeutel war mein Begleiter, so lange es noch Hartgeld gab.
Er zog mit mir nicht nur durch alle Dörfer des Kreises Wittenberg, sondern auch durch viele Städte unseres lieben Vaterlandes.
Cäsar wurde wegen versuchter Wilddieberei in Tateinheit eines abends im Wiesenburger Forst erschossen.
Und wäre er nicht gestorben, würde er bald
70 Jahr.
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