Das Flämingsdorf

Kennst du Marienhaide?
Fünfzehn, sechszehn Gehöfte, laß es siebzehn oder achtzehn sein, bestimmt aber nicht mehr, alle aus Lehmfachwerk, die meisten mit Flegelstroh gedeckt und mit dem Giebel der Straße zugekehrt und mit dem charakteristischen Spieker (Speicher) versehen – so sieht Marienhaide aus, ein kleines Flämingsdorf – zu klein fast, wie es scheint, um den Namen Dorf mit Recht zu tragen.
Marienhaide, das als Siedlung von Friedrich dem GroBen gebaut ist, hat zwei kleine Höfereihen aufzuweisen, die einen länglichen Anger umschließen;
Teich, Kirche, Schmiede, Gasthof befinden sich auf ihm.

Der Anger ist die landschaftliche Umrahmung von Friedhof und Kirche, der Mittelpunkt aber für die Höfe, der die Flurmark gewissermaßen in das Dorf verlängert.
Es ist sehr verwunderlich, daß diese Siedlung als Angerdorf angelegt ist, da fast alle von Friedrich dem Großen gegründeten Dörfer und Siedlungen sich eng an das Schema des straffen, nüchternen, prosaischen Straßendorf anlehnen.
Marienhaide nun ist ein Angerdorf, an dem man, sage ich euch, seine helle Freude hat: nicht ein einziger Backsteinsbau, sondern alles saubere Fachwerkhäuser.
Ein Gehöft sieht wie das andere aus und ist genau so gebaut, nur das von Gottfried Seehausen ist etwas größer als die übrigen.
Die Giebel haben ein schönes, braungestrichenes Balkenwerk, die Felder dazwischen sind weiß gekalkt.
Das sieht hübsch und redlich aus; so etwas gehört in ein echtes Flämingsdorf.
Durch den Giebeleingang kommst du vorn auf den Flur.
Links liegt die Stube, rechts drei kleinere Gelasse. Hinter dem Flur befindet sich die Küche, und von hier aus zugängig erstreckt sich der Kuh- und Pferdestall über die ganze Breite des Hauses.
Dieser Stall, der natürlich auch noch einen besonderen Zugang vom Hofe hat, liegt etwa sechzig Zentimeter tiefer als die anderen Räume. Es entsteht darum eine Art Grube, in welcher der Mist liegen bleibt und nur einmal im Jahr, gewöhnlich zu Lichtmeß, auf die Felder gefahren wird.
Derartige Grubenställe wie hier auf dem Fläming findest du auch in Vlamland, dem Stammland der Fläminger. –

Marienhaide ist arm, die Feldmark klein.
Im Osten läßt der Fluß, im Norden und Nordwesten der ungeheuere Staatswald keine Ausdehnung zu.
Im Süden liegt abriegelnd der Edelhof – das Rittergut Golm mit seinen 2253 Morgen. Da können die Bauern noch zupachten, gewiß, aber die Pachtzinsen sind bald unerschwinglich, weil der Alte den Hals nicht vollkriegen kann.
Ein paar Hügel, Wiesen, Moor, aus dem der Nebel wie frischgemolkene Milch kommt, Heide, und immer wieder Heide. Zwei Pferdestunden mindestens ist das nächste Dorf entfernt, die kleine Stadt noch weiter.
Aus den ungeheueren staatlichen Wäldern, Heiden und Moorflächen wechselt manches Raubwild herüber; die Wildsauen buddeln oft allein im Herbst die Kartoffeln und verwüsten die Rübenäcker.

Alles das gehört zum Gesicht von Marienhaide.
Sie säen mit der Hand. Wie das leibhaftige Wort Gottes fliegen die Körner aus den verarbeiteten Bauernhänden, sie mähen das Korn mit der Sense und dreschen es mit dem Flegel.
An den langen Herbst und Winterabenden spinnen die Frauen und Mädchen beim Ölkrüsel oder beim rot zuckenden Polderlicht den im Herbst gewonnenen Flachs und die im Frühling geschorene Wolle, die Männer flechten Saatkörbe und binden Heidebesen, und da werden dann Märchen erzählt und Volkslieder gesungen, die hier in unseren weltsvergessenen und waldverschollenen Flämingsdörfern schön wie Wildrosen blühen, während das gelbe Honigbier, manchmal auch ein Gläschen Grog oder Wachholderwein, schäumend die Runde macht.

Seltsame Menschen bringt Marienhaide hervor, Menschen mit krausem und buntem Heideglauben, der von dem ewigen Wälderbrausen, von der Einsamkeit und dem Weben der Heide herrührt, die im Spätsommer wie eine wildsüße Duftwolke, von den ewigen Vogelliedern, die wie silberklingende Girlanden das Dorf umkränzen.

Da ist der Windmüller Merten Timmermann, dessen Mühle heideumsponnen abseits von dem Dorfe liegt, dann Gottfried Seehausen, den die kurze Zeit nach seiner Wiederkehr aus der Stadt schon zu einem Träumer und Sinnierer gemacht hat, da ist Hille Greeven, die in ihrer Iknorrigen Wurzelpfanne tausend Mittel gegen Piephacken und Dummkoller bei Pferden, gegen die Traberkrankheit bei Schafen, überhaupt gegen alle Leiden bei Menschen und Tieren, angeblich auch gegen alles Liebesleid, braut.

Sonst aber sind die Männer hier rauh quant eckig;
der harte Kampf mit Wald und Heide um das tägliche Brot, der eiserne Fleiß, durch den sie den Äckern die Ernten abringen, hat sie ernst, streng und fromm werden lassen.
Langsam sind sie im Überlegen, aber gewichtig, wenn Kopf oder Fäuste ihre Ansicht kundtun.
Keine Feinheit oder Unterwürfigkeit findest du in ihren schmalen, pastoralen Gesichtern, dafür aber ein elementares Ungestüm, Selbstbewußtsein, Unnachgiebigkeit, manchmal auch einen Zug von Verbissenheit oder Mißtrauen, Gesichter, wie sie die immer mustergiltigen Meister aus Vlamland Ravesteyn, van der Helst, Brueghel gemalt haben.
Das sind noch Männer aus vollen Stücken, aus einem Guß, ganze Kerle, vollblütige Bauern, in denen das alte Vlamenblut noch heute rumort und manchmal an Festtagen, wie Fastnachten, jubelnd alle sonst so sorgsam gewahrten Dämme niederreißt.

Wie die See die alten Vlamländer jung und in ihrer rohen Ursprünglichkeit frisch erhalten hat, so ist bei ihren Nachkommen der Wald der ewige Wunderbrunnen ihrer Kraft und ihrer selbstverständlichen triebsicheren Wesensart.
Das Branden des Meeres hat die Väter in den Schlaf gesungen, das Brausen des Waldes ruft die Kinder zu neuen Abenteuern.
Keiner hat die Schöpferkraft des Meeres so erfühlt wie der Vlame Ruysdael, keiner den Wald in seiner ganzen Vielfältigkeit so inbrünstig gemalt wie er. –

Die Starklebigkeit und der große gottsucherische Ernst der Marienhaider Bauern spricht auch aus den gedämpften ruhigen Farben ihrer Trachten.
Dunkelgrün, Schwarz, Violett (das die Fläminger braun nennen) findest du, Rot und andere helle Farben wirst du vergeblich suchen.

Wie lebendig gewordene Holzschnitte alter vlamischer Meister wirken die Frauen in ihrem kieferndunklen Trachtenschmuck, wie schön sehen die Mädchen gleich wandelnden Heideblumen in ihren kurzen, gefälteten, dunkelbunten Röcken aus, wie reizvoll wirken die großen Flügelhauben, wie hübsch leuchten die buntgewebten Kopfbänder, die bei den verheirateten Frauen zum Festhalten des Haares dienen, und mit denen oft ein gewisser Luxus getrieben wird, daß es scheint, als habe sich in diesem Bande möglicherweise eine Erinnerung an die mit silbernen Buckeln und schöner Filigranarbeit geschmückten Stirnbänder erhalten, die heute noch in Holland auf den Inseln Walcheren und Seeland üblich sind.
Aber das ist Sache der Forscher.

 

Marienhaide, Roman einer Landschaft.
von Arthur Jaenicke.
Verlag: Müller und Kiepenheuer in Potsdam.

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aus: Unser Heimatland vom 25.01.1936