Das Bier

Heute wird der Stammtisch erzählen, wie das helle Lagerbier nach Wittenberg kam und wie es vorübergehend alle wird.
Unsere Stadt hatte in den 80er Jahren bei ca. 15 000 Einwohnern 167 konzessionierte Gast-, Schank- und Verkaufsstellen.
An Hotels waren es 4 und zwar:
– Schwarzer Adler,
– Kaiserhof,
– Weintraube und
– Gesellschaftshaus.
Ferner gab es 18 Gasthöfe, 82 Schankstätten mit voller Konzession, 30 Schankstätten mit halber Konzession und ca. 30 Verkaufstellen von geistigen Getränken.
Alle lebten herrlich und in Freuden von dem vielen Militär und seinen trinkfesten Bürgern.
An Tanzsälen existierten 20 und zwar:
– Gesellschaftshaus,
– Balzers,
– Sichlers-,
– Theils-,
– Ackermanns-,
– Bürger-,
– Schweizer-, Kaisergarten,
Stern,
– Mehlhase,
– Scheinig,
– Palmbaum,
– Geißlers,
– Schwan,
– Hecht,
– Luthersbrunnen,
– Bratpfanne,
– Weinberge,
– Kasino,
– Elbhafen und
– Schützenhaus Klein-Wittenberg.
Die innere Stadt hatte von altersher 92 brauberechtigte Häuser. Davon gab es nur noch 5 Braunbier- Brauereien, die ihr Wasser aus den Rohren des alten und neuen Jungferbrunnenwassers bezogen.

Das Bier, welches die Brauerei Lysius, Seiler, Weber, Fuhrmann und Maiwald herstellten, war Pupe, weil der Pfropfen beim Öffnen den allbekannten Ton von sich gab.
Es kostete die Tonne 2 ½ Taler, später 9 Mark.
Jeden loten Hektoliter gab es umsonst, ferner bekamen die Wirte zu Weihnachten und zum Geburtstag bis 1 Hektoliter gratis.
Im Anstich wurde es meist in halben Tonnen geliefert.
Damit es unter Druck kam, wurde Luft aufgepumpt, denn Kohlensäure gab es noch nicht.
Für den Flaschenverkauf wurde es in Steingutflaschen abgezogen und im Keller zur Reife gebracht.
Besonders im Sommer ein erfrischendes Getränk für 13 Pfg pro
Liter. Die Flaschen lieferten die Straacher und die Coswiger Töpfereien. Vom Oktober ab verschwanden die leeren Flaschen in
die Betten der Bürger als Wärmeflaschen.
Waren sie im Winter nicht zum Polterabend verwandt, brachten sie die Kinder zurück und erhielten einen Dreier.
Selterwasser lieferten die Firmen Lemmer und Harrihausen, später durch Lorenz und Kirsten kam die Brause-Limonade in Mode.
Für die Lieferung von Sprit zum Schnaps war allein Bourzutschky maßgebend.
In langen Wagen, beladen mit großen Fässern, fuhren die Brennereien von Buro, Klieken usw. ihr Erzeugnis durch die Collegienstraße zu Bourzutschky.
Hier wurde es zu Brennspiritus oder Trinkbranntwein verarbeitet und den Destillationen Bosse, Fuhrmann, Reinicke, von 1890 auch Schnellrath zugeleitet.
Schon am nächsten Tage konnte man dort 20-jährigen Rum, Kürassierhieb oder Schloßkirchen-Likör für 5 Silbergroschen kaufen.
Aus damaliger Zeit entwickelten sich die Bierabende.
Die alten Wittenberger liebten es nicht, in großen Sälen zusammenzukommen, ihnen war das kleine, gemütliche lieber.
Die Geschicke der Stadt wurden hier beeinflußt.
Drei Bierabende bei Malchen Müller wollen wir mal erleben. Malchen stammt aus der Kupfergasse und ihre Schulkameraden blieben ihre treuen Gäste.
Sie schlachtete alle 14 Tage und sorgte für die Bedürfnisse jedes einzelnen ihrer Gäste.
Donnerstag Abend 8 Uhr tritt der Schuster Ackermann, eine große Erscheinung, aus seinem Hause in der Kupfergasse.
Er hat die Fortschrittsmütze auf, die Schürze spitz zur Seite geschlagen und die 1,20 m lange Pfeife angebrannt. So stolziert er auf der rechten Seite der Collegienstraße zum Holzmarkt.
Bei Wurst-Fischers grüßt er ins Geschäft und sofort macht sich der Stadtrat fertig, um mit Töpfer Wehner aus der Bratpfanne und Karl Krüger aus 81 zusammenzumarschieren.
Auf der Mittelstraße kommt der erste Wittenberger Tenor, der kleine Schmied Klei, Feilenhauer Gehrke, Töpfer Hecht und der temperamentvolle Stellmacher August Koch.
Von der Marktseite hat sich Eßbach, Ulrich, Lindau, Scheuer, Friesicke, Paasch und Oberst Strensch in Marsch gesetzt.
Alle kommen zu spät, nur der Stadtrat Hermann Lauter sen. sitzt schon in seinem Großvaterstuhl am Ofen.
Jeder hat seinen Platz.
An den beiden Fenstern sind 2 reichgeschnitzte Lutherstühle eingebaut. Unter dem langen Spiegel steht auf dem hochbeinigen Tisch die duftende Tabaklade und davor die silberne Schnupftabakdose.
Malchen hat sie heute mit Pastorentabak und Nutschi-Tutschi
mit Grand-Kardinal zur allgemeinen Benutzung gefüllt.
In der Täfelung an den Wänden sind Schränke für die Pfeifen.
Hier hingen Kunstwerke in Elfenbein, Bernstein, neben echten Wiener Kaffeehauspfeifen.
Aus weißem Ton mit gelbem Reifchen, was wollt ihr für den Kopf? Wittenbergs Bernsteinschnitzereien und Drechslerarbeiten standen hoch in der Leipziger Messe und finden ihre Krönung später in der Schloßkirche.
Um ½ 9 Uhr ist die Stube voll. Lenchen, die rechte Hand von Malchen, bringt erst jedem eine Prise, die gestopfte Pfeife und Fidibus. Schwefelhölzer waren erst im Entstehen.
Dafür wird sie in die roten Backen gekniffen oder auf die Schoßkelle gekloppt.
Indessen schenkt Malchen ein, pro Mann eine kleine Fuhre.
Einen halben Liter Braunbier und einen Kümmel sind 10 Pfg.
Das Gespräch dreht sich immer um die Stadt, hier erfahren die Stadtverordneten die wahre Meinung der Bevölkerung.
Nur wenige belauschte Gespräche wollen wir festhalten, übel wird nichts genommen.
Heute attackiert man allseitig den Rammelmeister Wilhelm Schlabig (Steinsetzmeister) wegen der schlechten Straßen.
Es geht hart zu, bis sich Schlabig in aller Ruhe erhebt und weissagt: Liebe Freunde, solange wie Ihr noch auf die Katzenköpfe in den Straßen trampelt, solange wird es allen Bürgern gut gehen.
Sobald Ihr aber auf das schon zur Probe benutzte Asphalt spaziert, werdet Ihr alle arm sein wie die Kirchenmäuse.
Deshalb bleibt bescheiden!
Als der erste Asphalt 1928 in Wittenberg gelegt wird, stehe ich, arm am Beutel, krank am Herzen, durch die Hose pfeift der Wind, Schuh
und Strümpfe sind zerrissen, armes Wittenberger Kind.
Ich sehe den verhungerten Arbeitern zu und den zum Skelett heruntergekommenen alten Wittenbergern in den Straßen.

Ein anderer Bierabend dreht sich um Zerling.
Er ist von Treuenbrietzen nach Collegienstr.18 gezogen, kommt erstmalig zu Malchen und mischt sich in eine Meinungsverschiedenheit ein.
Vom Töpfer Hecht wird er zurückgewiesen und dann direkt beleidigt. Zerling tobt, klagt beim Rechtsanwalt, der ihm sagt:
Machen Sie wieder nach Treuenbrietzen oder einigen Sie sich,
denn Sie haben Unrecht.
Da schreibt Zerling:
Ich habe mich geirrt und bitte um Entschuldigung. Herr Hecht soll nicht böse sein. Professoren irren, warum soll sich ein kleiner Heilgehilfe nicht auch mal irren?
Der nächste Bierabend ist die Wende für den kleinen Heilgehilfen. Allseitig wird er beglückwünscht, man macht ihn zum Professor der Zahn-Athletik.
Hecht bringt ihm ein Hoch, Oberst Strensch bietet ihm die Mitgliedschaft zur Schützengesellschaft an.
Die Stadt nimmt ihn ins Städtische Krankenhaus und der bekannte Dr. Thassilo Schmidt bekommt seinen langjährigen Professor.
Er wird Hausbesitzer Bürgermeisterstr. 12, nahe dem Krankenhaus, Wittenberg hat einen Professor!
Die Stadt sagt:
Irrtümer haben ihren Wert, jedoch nur hie und da,
Nicht jeder, der nach Indien fährt, entdeckt Amerika.

Ein anderer Bierabend endet in anderer Weise.
Bei Malchen ist furchtbarer Krach.
Wir horchen.
Mehrere Stadträte werden von den Bürgern heftig angegriffen, denn es geht ums Geld.
Der Krach bricht erst nach 12 Uhr plötzlich ab, als ein Mann erscheint und auf dem Schemel an der Tür Platz nimmt.
Das eisige Schweigen unterbricht ein Bürger, indem er sagt:
Jedem Gast wird bei unserem Bierabend ein herzliches Willkommen geboten, bei dem soeben eingetretenen Gast fällt dies weg.
Wir können ihm nur raten: Gehen Sie zum Kirchhof und ersparen Sie der Stadt Ihre Begräbniskosten.
Der Schemel ist leer, der Mann erschießt sich auf dem Kirchhof in Magdeburg, denn dem Bürgermeister Dr. Schild wollte die Bürgerschaft nicht mehr helfen.
Wittenberg kriegt einen sparsamen Bürgermeister.
Da wird das helle Lagerbier erfunden, und die Bürger wakkeln, als sie vom Bierabend kommen.
Zwar hatte Pschorr schon bei Runze eine Niederlage und Dessauer Waldschlößchen in der Kugel, aber diese Biere waren zu teuer.
Im Nu sind 15 Bierniederlagen eröffnet, die alle bei uns reich werden wollen.
Es kommt die erste Wittenberger Lagerbier-Brauerei von Gebr. Zinner, Collegienstr. 63/64 hinzu.
Sie brannte im Sommer 1902 ab und ist nicht wieder aufgebaut. Dafür gründeten 5 verdienstlüsterne Herren, Direktor Buchmann, Major Ritscher, F. Fuhrmann, Th. Zinner und Joh. Mahlendorf die Aktien-Bierbrauerei Wittenberg.
Sie kauft von Witwe Kelch das Grundstück für 130 000 Mark, gab Aktien an 400 Wittenberger Bürger im Werte von 300 000 Mark aus. Da die Zinsen nicht aufzubringen waren, nahm sie eine Obligationsanleihe von 300 000 Mark hinzu und setzte das Kapital auf 200 000 Mark herab.
Wohl war das Rothemärker Weißbier erstklassig, aber für Lagerbier war das Wasser nicht geschaffen.
Man nannte es Dividendenjauche und die Niederlassungen von Schultheiß, Risbeck, Schade waren nicht zu entfernen.
Nur die Ausdauer des Aufsichtsrates, W. Lutzmann, vereitelte den Untergang.
Zur gleichen Zeit 1902 eröffnet Herr Alwin Hoch das bürgerliche Brauhaus, Tauentzienstr. 34.
Die Bierprobe ergab ein erstklassiges Bier.
Leider nahmen es die Wirte nicht auf, weil sie sich inzwischen durch Anleihe an die auswärtigen Brauereien gebunden hatten.
Heute kann man sich den Kampf zwischen den vielen auswärtigen Brauereien und den beiden einheimischen kaum vorstellen.
Oft hielten, 4 Bierwagen vor einer Wirtschaft, die alle verkaufen wollten.
Wenn sich zwei streiten, freut sich der Wirt.
Die meisten Wirte erhielten alles auf Pump und zahlten freiwillig nichts. Auch die Lieferanten von Brause, Schnaps, Zigarren wurden damit hineingezogen.
Kam man zum Kassieren in eine Wirtschaft, fand man schon 3 bis 4 Bierverleger vor, die ihren Unmut äußerten.

Zum Beispiel deklamierte der dicke, stadtbekannte Huhn stets bei seinem Eintritt:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den läßt er mit Zigarren reisen,
und is er da zu was gekummen,
dann geht er mit Versicherungen.
Hat er auch darin Schwein,
dann handelt er mit Wein.
Doch wird er nachher immer träger,
dann wird er auch noch Bierverleger.
Aber dann steht ihm der Himmel offen,
bis daß er sich hat tot gesoffen.

Diese unfreundlichen Zustände bekamen die Leute zu fühlen, welche vertrauensvoll lieferten.
Die Rothemärker Brauerei legte immer wieder das Kapital zum Leidwesen der Aktionäre zusammen, zahlte keine Zinsen und erhielt sich dadurch.
Hoch, der mit 600 000 Mark nach Wittenberg kam, mußte den Konkurs anmelden und zog als armer Mann davon.
Der Neubau kostete alleine 386 000 Mark, hinzu kamen die Maschinen, Faßtagen, Gespanne usw.
Der Konkursverwalter, Dr. Enger, brachte es fertig, die ganze Brauerei mit allem Inventar für ganze 69 000 Mark an die Firma Riebeck, Leipzig zu verkaufen.
So war das viele gute, helle Bier billig nach Wittenberg gekommen. Wie es vorübergehend alle wurde, wollen wir auch beleuchten. Wittenberg war eine Wasserfestung ersten Ranges.
Die Festungswerke zogen das Flämings- und Grey-Wasser an. Zwei Bäche, Rische- und Faule-Bach wälzten es durch die Stadt zur Elbe.
Da die Stadt an ihrem Wasserreichtum verdienen wollte, grub sie die Wasseradern ab, legte die Brunnen auf Straßen und Plätzen still und verkaufte das Wasser durch die Städtischen Wasserwerke.
Die Stadt wuchs langsam, die Saugkraft der Festung schwand, die Quellen versandeten, seit 20 Jahren fehlt in den Oberwohnungen das Wasser.
Nach 1945 steigt die Einwohnerzahl, Industrie und Wasserbedarf rapide.
Alle auswärtigen Brauereien, die Wasser haben, brauchen es für die
eigene Stadt.
Jetzt im Juli 1957 steht das Thermometer seit Wochen auf 48 Grad ohne Regen. Die Gastwirte mußten sich grundlegend ändern.
Sie mußten erst bezahlen, dann das gesamte Leergut abgeben und warten, bis Bier geliefert wurde.
Eine große Annonce in der „Freiheit“ sagt:
Kunden! Mitglieder!
Alle im Haushalt befindlichen Flaschen zurückgeben.
Die Versorgung mit Getränken ist nur so gewährleistet!
Konsum G.m.b.H.

Eine weitere Annonce:
Die Elbe ist für Badende gesperrt.
Die Einweihung des Schwimmbades in Piesteritz wird am
14.7.57 durchgeführt.
Also braucht die Stadt wieder Geld!
Wer baden will, muß zahlen,
– Kinder 25 Pfg.,
– Erwachsene 35 Pfg.,
– Schwimmschüler 12 Mark.
Wo soll da das Bier herkommen, wenn Wasser, Fässer und Flaschen fehlen?
Hoffen wir, daß es bald regnet, dann wird auch das Bier wiederkommen, und der Stammtisch kann rufen:

Prost, meine Herren!

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