Drei Fünftel des Landes Sachsen kamen
aufgrund des Wiener Kongresses an Preußen, darunter auch der Wittenberger Kurkreis. Bis dahin hatte unsere Stadt eine bevorzugte Stellung hinsichtlich der Rechtsprechung inne. Seit 1441 hatten
wir das Recht der „oberen Gerichtsbarkeit“,
d. h., die Stadtgerichte konnten Todesurteile fällen und vor dem Rathaus die Hinrichtung durchführen. Vom Gerichtsbalkon wurden alljährlich die so genannten Weistümer vorgelesen, und aus jeder Familie musste ein erwachsener Angehöriger diese Rechtsbelehrung anhören.
Nachdem wir die Universität 1817 verloren hatten, war der Rat der Stadt Wittenberg erfreut, dass uns der preußische Staat ein Kreisgericht zu wies, das kurze Zeit später ein Königliches Amtsgericht wurde. Bereitwillig stellte man die Ganze obere Etage im Rathaus der neuen Behörde zur Verfügung. 13 Fenster Vorder- und Rückfront hatte die Justizverwaltung. Ja, man ging sogar noch weiter und ließ die Juristen mietfrei wohnen und bemerkte protokollarisch, dass dieses freie Wohnen ein Verzicht auf das Recht der Kündigung seitens der Stadt mit einschloss. Diese überschnelle Bereitwilligkeit sollte sich später verhängnisvoll auswirken.
Kaum waren 70 Jahre vergangen, da benötigte infolge des Wachstums der Stadt die städtischeVerwaltung die von der Justiz benutzten Räume. Die Rechtsvertreter ließen sich auf nichts ein, sie hatten ja auch tatsächlich das Recht auf ihrer Seite. In weiser Voraussicht hatte aber der preußische Staat bei der Aufteilung des Festungsgeländes einen Bauplatz vor dem Schlosstor gekauft. Ende 1900 wurde ihm im Rathaus alles zu eng, und nun kam es zu langwierigen Verhandlungen zwischen dem Rat der Stadt und dem preußischen Fiskus. Bei Zahlung einer Entschädigungsgebühr von 37 400 Mark wollte man ausziehen, die Stadt machte ein Gegenangebot in Höhe von 25 000 Mark.
Die Justizverwaltung ging darauf nicht ein, sondern bot später das alte Gerichtsgefängnis in der Pfaffenstraße (Jahnstraße, heute Pfaffengasse), die ehemalige Antoniterkapelle, der Stadt an. Diese war nicht abgeneigt und schätzte Grundstück und Gebäude, insgesamt 760 Quadratmeter, mit 8 360 Mark ein. Wieder herrschte Stillschweigen.
1904 endlich war der preußische Fiskus mit 30 000 Mark Abfindungssumme einverstanden,
es kam zur Vertragsregelung und nun auch zum Bau des neuen Gebäudes. 1907 begann man mit den Erdarbeiten, und 1909 war der stattliche Bau vollendet und mit ihm auch das dahinterliegende Amtsgerichtsgefängnis, in dem als erste Insassen 15 Gefangene Einzug hielten.
Einige rechts- und volkskundliche Darstellungen fanden hier damals Platz, die leider nicht mehr alle vorhanden sind. So zeigte man Hund und Katze, am kleinen Aufgang eine Schwurband, freundliche und griesgrämige Gesichtsausdrücke, je nach Ausgang der Gerichtsverhandlung, Schwert und Waage und einen Spiegel, den sich jeder vorhalten sollte, ehe er zum Kadi rennt.
Heinrich Kühne †