1992.04.10. Mitteldeutsche Zeitung
Umworbene Braut – die Wahl wird offentsichtlich zur Qual
Eigentlich könnten die Reinsdorfer sich glücklich schätzen. Sie sind besser dran als die Bürger anderer Gemeinden. Sie haben die Wahl. Aufgrund der winzigen Entfernung zu Wittenberg bieten sich der Gemeinde zwei Alternativen. Sie kann der Verwaltungsgemeinschaft Südfläming beitreten oder aber als Ortschaft mit eigener Vertretung der Kreisstadt angehören. Die Gemeindeverwaltung beschäftigt sich seit Monaten mit dieser brisanten, für die Zukunft des Ortes und seiner Bewohner enorm wichtigen Problematik, hielt sich die Tür in den Fläming und in die Lutherstadt offen. Vertragsentwürfe für beide Varianten wurden vorbereitet. Am Mittwoch nun sollten die Reinsdorfer Bürger zu dieser schwierigen Entscheidung gehört werden.
In dem Raum waren kaum mehr Plätze zu finden. Die Luft war stickig, die Atmosphäre gereizt. Emotionen schlugen hoch. Nicht im mer blieben die Umgangsformen demokratisch. Bissige Kommentare und böse Bemerkungen flogen durch den Raum. Ganz offensichtlich wird die Wahl in Reinsdorf zur Qual. Und der Termin drängt. Bis zum 30. April, so Bürgermeister Manfred Melchior, müsse eine Entscheidung gefallen sein.
Eingeladen waren Landrat Littke und Bürgermeister Naumann, um die Stärken und Schwächen der Alter nativen aufzuzeigen. Beide betonten, nicht überzeugen zu wollen, das Prinzip der Freiwilligkeit sei gültig, und blieben auch, wenngleich nicht unbedingt unparteiisch, so doch sachlich und fair.
Der Landrat skizzierte kurz die fünf Verwaltungsgemeinschaften, die sich im Kreis bilden. Die Gemeinschaft Südfläming habe bisher nur 4 600 Einwohner, mit Reinsdorf würden die 5000, die als Mindestzahl für eine effektive Arbeit betrachtet werden, lässig überschritten. Die Verwaltungsgemeinschaft, brachte er die vermutlich wesentlichsten Punkte zur Sprache, würde mehr Selbständigkeit für Reinsdorf bedeuten, der Beitritt zu Wittenberg höhere Zuweisungen.
Die Gefahr der zu heftigen Umarmung, so der Wittenberger Bürgermeister, sei sicher da und verursache Angste, aber es käme schließlich auf die Verhandlungen an. Er sei für die Erhaltung föderaler Strukturen und billige den Vertrag, der einen Ortsrat vorsieht. Für Wittenberg sprächen die erhöhten Finanzzuweisungen, die der Gemeinde zumindest bis 1994 zugute kämen, daß es zu keinen Konkurrenzsituationen bei Gewerbeansiedlungen beispielsweise kommen würde und der Name der Lutherstadt, von dem Firmen wohl profitieren könnten. Allerdings seien auch von Wittenberg keine Wunder zu er warten.
Die folgende Diskussion wurde hitzig und lang. Der Gemeindeverwaltung wurde ein Kursschwenk in Richtung Wittenberg, vorgeworfen, das Argument der Finanzen als Augenwischerei bezeichnet, der Termindruck als undemokratisch zurückgewiesen.
„Wittenberg sucht nur mehr Leute, um die Kosten für’s Klärwerk umzulegen“, hieß es, oder
„Was wird aus unserem Schwimmbad, wenn Piesteritz ausgebaut wird“. Andere gaben zu bedenken, daß die wirtschaftliche Potenz eindeutig bei der Lutherstadt läge, die Beziehungen seit eh und je eng wären und um die Frage des Geldes käme man halt nicht herum. Man müsse konkretere Forderungen in die Verträge aufnehmen. Schließlich wurde ein Volksentscheid gefordert. Der sei aber laut Gesetz, so die Gemeindeverwaltung, nicht üblich.
Empörung in den Reihen.
Auseinander ging man unzufrieden und ohne sichtbare Annährung der Standpunkte. Die Entscheidung für die Abgeordneten wird schwer und spannend.