Besuch bei einem 96. jährigen Künstler

1957.01. Wittenberger Rundblick

Emil Stuckhardt – Meister der Intarsienkunst
Vor drei Jahren besuchte ich anläßlich einer Forschungsarbeit über
Volkstrachten einen alten Handwerker, der mir aus seinem persönlichen Erleben heraus verschiedene strittige Fragen klären sollte.
Herr Emil Stuckhardt tat dies auch bereitwilligst, und wir kamen miteinander ins Gespräch.
Während unserer Unterhaltung schnitzte er fleißig mit einem scharfen Messer allerlei dünne Ornamente aus den verschiedenen Holzblättchen und klebte sie auf einen Bogen Papier. Ich interessierte mich natürlich auch für diese Tätigkeit des Alten und konnte so einen Einblick davon erhalten, wie man als über 90 Jahre alter Greis noch sein volkskünstlerisches Schaffen zeigen kann, wenn man sich neben der körperlichen und geistigen Frische auch die Liebe dazu bewahrt hat.
Heute, nach drei Jahren, hatte ich wieder einmal meinen alten Bekannten besucht. Bedauernd sagte er mir, daß er nun allerdings endgültig für immer das Schnitzmesser aus der Hand gelegt hat. Aber die noch erhaltenen Meisterwerke seiner Intarsienkunst werden noch lange Zeugnis von seinem reifen Können ablegen.
Mitten im Gespräch erhob er sich, und wir betraten das Wohnzimmer, dessen gesamtes Mobiliar er als junger Mann selbst angefertigt hatte. Er lüftete ein Wolltuch, und vor mir stand eine Nähtruhe auf einem hochbeinigen Tischchen.

Nähtruhe mit Intarsien
Truhe wie Tischchen sind mit wunderbaren Einlegearbeiten geschmückt, die auch hier und da Perlmutteinlagen haben. Wie neu glänzen die verschiedenen Maserungen der verarbeiteten Hölzer. Auch die blaue Innenausstattung der Truhe ist geschmackvoll. Hier hat ein wahrer Volkskünstler in zweijähriger mühevoller Arbeit sich selbst übertroffen. Ohne Vorlage fertigte er für seine Tochter, deren Initialen den Deckel zieren, dieses Meisterwerk im Jahre 1910 an.
„Am schwierigsten waren die Handwürfelchen, die alle einzeln geschnitzt werden mußten,“
sagte Herr Stuckhardt, und ich glaubte ihm das gern. Auch das Tischchen ist ein kleines Meisterwerk und paßt sich harmonisch der Nähtruhe an.
Diese beiden Teile sowie auch die im Familienbesitz befindliche Aktentruhe mit eingelegtem Familienwappen waren oftmals der Anziehungspunkt bei handwerklichen und volkskünstlerischen Ausstellungen. Das gleiche gilt für die kleine Schmucktruhe, die der alte Herr in jungen Jahren für seine Ehefrau anfertigte.
Sie wirkt mehr durch das edle Holz und die Renaissance-Formen.
Nun setzten wir uns wieder, und unser Meister erzählte mir einiges aus seinem langen Leben.
Ich erfuhr, daß er am 4. Dezember 1860 zu Wittenberg als Sohn eines Nagelschmiedes geboren wurde. Bereits als Tischlerlehrling fiel er durch die Anfertigung eines kleinen Nähkästchens mit Intarsien, das er für seine Meisterin schuf, anläßlich einer Handwerksausstellung auf.
Dann ging er auf die Wanderschaft, um in Kassel – wie er sagte – „hängen zu bleiben“.
Nach Beendigung seiner Militärdienstzeit kam er wieder nach Wittenberg. Hier arbeitete er mit einigen Holzbildhauern zusammen an der Inneneinrichtung der erneuerten Schloßkirche. Voller Stolz sprach er von diesen Tagen und erwähnte immer wieder die künstlerischen Fähigkeiten seiner Arbeitskollegen; doch es ist uns bekannt, welchen großen Anteil er selbst an diesem gemeinsamen Werke hat.
Sein hohes handwerkliches Können blieb nicht unbeachtet. so daß er gemeinsam mit einem anderen Tischler im Jahre 1898 die Reise nach Jerusalem antrat. Dort war nämlich die deutsche Erlöserkirche soweit erbaut worden. daß mit dem Einbau aller in Wittenberg geschnitzten und gearbeiteten Holzwerke begonnen werden konnte.
Die in Zinkkisten verpackten Einzelteile wurden dann von Arabern durch die schmalen Straßen Jerusalems an Ort und Stelle getragen. Seine Augen glänzten, als er von dem Erlebten in Palästina und von den Pyramiden Ägyptens erzählte.
Jede kleine Episode ist ihm noch in Erinnerung, als ob sie gestern erst geschehen wäre.
Nach seiner Rückkehr arbeitete er noch einige Zeit in der Holzbildhauerwerkstatt, um anschließend jahrzehntelang als Spezialtischler in einer Wittenberger Klavierfabrik tätig zu sein. Dann legte er „seinen Hobel hin“ und fertigte zu Hause kleine Intarsienarbeiten an mit volkskünstlerischen Ornamenten.
Er ist immer wieder erstaunt darüber, welche Förderung unsere heutige Jugend in beruflicher und künstlerischer Hinsicht hat.
Wie anders war es dagegen in seinen Jugendjahren und auch später noch. Was hätte aus diesem hochbegabten Sohn eines kleinen Handwerkers werden können, dessen handwerkliche und volkskünstlerische Arbeiten uns heute so erfreuen, wenn ihm das notwendige Rüstzeug gegeben worden wäre!

Heinrich Kühne

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