1928.08.25. Unser Heimatland
Zu ben charakteristischsten und anziehendsten Festen in unserer Lutherstadt Wittenberg gehört unstreitig das alte beliebte Volks- und Heimatfest, das Schützenfest, die Vogelwiese, wie es landläufig genannt wird. Jene Wittenberger Schülerin hatte gewiß nicht so unrecht, als sie auf die Frage bes Lehrers nach den großen Festen des Kirchenjahres antwortete: Weihnachten, Ostern, Pfingsten und die Vogelwiese.
Der Ursprung der Schützenfeste reicht bis in das Mittelalter zurück. Sie ersetzten die ritterlichen Turnierspiele und entfalteten sich mit dem Aufblühen der Städte inmer glänzender. Bereits um das Jahr 1400 finden wir diese Feste, die häufig mehrere Wochen dauerten. Feierliche Züge, denen die „Pritschenmeister“, Polizisten und Possenreißer in bunter Narrentracht vorangingen, eröffneten das Fest. Meist wurde auf dem Schützenfestplatze, wo sich jeder Schütze einzuschreiben hatte, auf ziemlich weite Entfernung geschossen. Der gewöhnliche Abstand des Zieles betrug für die Armbrust 300 bis 400 Fuß, für die Büchse 650 bis 750 Fuß. Das uralte Ziel war der hölzerne Vogel, der in der Regel reich vergoldet und mit vergoldeten Ketten und Schildern, vor allem auch mit dem Stadtwappen verziert war. Die Hauptgewinne bestanden für die besten Schützen in älterer Zeit aus einem stattlichen Pferde, einem Widder oder einem Stiere, festlich mit Bändern geschmückt und bekränzt und mit teurem Tuche bedeckt. In späterer Zeit wählte man zu Hauptgewinnen wertvolle Silbergeräte, an denen die Goldschmiede zeigten, was sie an Kunstfertigkeit und Geschmack zu leisten vermochten. Noch später kamen die Geldpreise auf. Zu jedem Gewinne gehörte eine Fahne, die mit den Stadt- oder Landesfarben, mit einem Wappen oder Kranz bemalt war und an der die Geldgewinne in einem seidenen Beutel hingen. Diese Fahnen brachten die Schützen voll Stolz mit in die Heimat, und sie wurden von den einzelnen Schützengilden als Siegestrophäen in ihren Schützenstuben aufgehängt.
Die Hauptgewinne erhielten diejenigen Schützen, welche die meisten Zirkelschüsse getan hatten, außerdem erhielt aber auch der Schütze des Zweckschusses und jener, der die meisten Schüsse am Nagel getan, einen solchen Gewinn. Für die schlechten Schützen, die „Schlumpschützen“, gab es sogenannte „Vexiergewinne“, gewöhnlich Karikaturen der Hauptgewinne denen ebenfalls eine Fahne, aber von grober Sackleinwand und mit zweideutigen Emblemen, beigegeben war.
Zur Erhöhung der Festesfreude fanden nach Beendigung des Schießens noch allerhand Wettkämpfe, Spiele und Volksbelustigungen statt. Die Schützen selbst wetteiferten miteinander im Steinwerfen, Laufen, Ringen und Tanzen. Sehr häufig nahmen der Fürst und die Fürstin, sogar Erzbischöfe Bischöfe, Äbte und Domherren mit den Bürgergeschlechtern an dem Schießen teil. So schoß Erzbischof Sigismund_im Jahre 1556 am Dienstag und Mittwoch nach Pfingsten mit mehreren Domherren und vielen von Adel nach dem Vogel.
Die Kosten solcher Schützenfeste waren meist sehr hoch, da sie nicht nur, wie schon bemerkt, lange dauerten, sondern auch die Gastfreundschaft der Bürger in hohem Grade in Anspruch genommen wurde. Hunderte von Gasten wurden auf Kosten der Stadt auf dem Festplatze mit Speise und Trank bewirtet. Vielfach bot auch die Stadt den Gästen einen festlichen Abendschmaus mit Tanz im Saale des Rathauses. Nicht selten machte diese Gastfreundschaft ein tiefes Loch in den Stadtsäckel.
Der Dreißigjährige Krieg machte den Schützenfesten vielfach ein Ende. Im Laufe der Zeit aber lebten sie wieder auf und haben sich, wenn auch in mannigfach veränderter Form, bis auf unsere Tage erhalten. Und gewiß möchte kein rechter Wittenberger Einwohner seine „Vogelwiese“ entbehren.