1924.02.07. Wittenberger Zeitung
Bald nach unserer letzten Wanderung Wittenberg – Bülzig – Zahna setzte heftiges Tauwetter ein, und in weniger als 48 Stunden war des Winters Herrlichkeit verschwunden. Weg war die blendend weiße Schneedecke (man hat sie vielleicht zur Weißen Woche“ benutzt), die Flur und Feld und Wald in dichter Fülle bedeckte, nirgends hörte man das klanghelle Geläut der Schlitten, nicht mehr das Gejauchze froher Kinderscharen beim Schlittschuhlaufen und Rodeln eine trübe, zähe Schmutzmasse, der „Matsch“, bedeckte die Straßen. Schlechte Aussichten für Wanderer. Aber bald änderte sich das Bild wieder; des Winters Macht war noch nicht gebrochen. Stunden genügten, das Erdreich, das gierig das Schmelzwasser aufgenommen hatte, wieder zu festigen, und frohen Mutes entschlossen wir uns zu neuer Wanderung in den winterlichen Wald, diesmal dem Norden zustrebend, mit einer Linksschwenkung nach dem Anhaltinischen zu, wo es sich ganz leidlich leben lassen soll. Zwar blies auch heute
ein scharfer Südwest, aber das scheert den Wanderer nicht.
Rüstig geht es die Linden- und Eichstraße hinaus, allwo uns ein alter Freund erwartete, der uns eine kurze Vorlesung über die früher vor x Jahren in der Wittenberger Schloßvorstadt bestandenen Gastwirtschaften hielt.
Heute ist nur noch der „Graue Wolf“ vorhanden, und auch dieser
dient mehr landwirtschaftlichen, als gastwirtschaftlichen Zwecken.
An der Haberlandschen Schmiede vorbei, die bei mir stets heimatväterliche Erinnerungen an die dörfliche Schmiede in den weinbaugesegneten Gauen Schlesiens erweckt, geht es Reinsdorf entgegen. Am Reinsdorfer Wege fallen wieder die Spuren der Walddiebereien ins Auge, nur mit dem Unterschiede, daß nicht nur junge Kiefern geschlagen und gestohlen worden sind, sondern auch junge Birken. Immer zahlreicher treten die Baumstumpfe auf, stumme Zeugen freventlicher Uebergriffe in das Eigentum anderer.
Reinsdorf (etwa 500 Einwohner) mit seinen drei gut. geleiteten Wirtschaften – Hohe Mühle, Gesundbrunnen und Obstweinschänke – lassen wir diesmal unbesucht zurück und wandern an dem schöngelegenen Denkmal für die im Weltkriege gefallenen Helden des Dorfes und an der Friedenseiche von 1870 / 71 vorbei auf gepflastertem Wege der höchsten Erhebung in der Umgebung Wittenbergs – 137 Meter – hinter Reinsdorf treten links dem Gallun – Berge, zu . Bald des Weges die ausgedehnten Fabrikanlagen
der Weftfälisch – Anhaltischen Sprengstoff-Aktien-Gesellschaft
bis zur Straße heran.
Eine massive Windmühle, ein sogenannter „Holländer“, steht still, und wir können deshalb nicht feststellen, ob die in geflügelter Tätigkeit noch ihrem altehrwürdigen Berufe dient.
Ein früher in leitender Stellung in dem genannten Werte tätiger Mitwanderer erzählt uns interessante Daten aus dem Werdegange der „Dynamit-Werke“, wie das Werk früher allgemein genannt wurde, während des Krieges, wo es, jedem Wittenberger wohl bekannt, innerhalb weniger Wochen eine Riesenausdehnung annahm, ein reichliches Dutzendtausend Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigte, die aus allen Gegenden des deutschen Vaterlandes hierher strömten und reichlich gelohnte Tätigkeit fanden. Auch von den leider kaum zu umgehenden Unglücksfällen erzählte er, die mehrfach größere Ausdehnung annahmen und vereinzelt zahlreiche Menschenleben forderten.
Wer erinnert sich heute noch jenes Augustabends 1915, als gegen 8.45 Uhr der nördliche Himmel plötzlich in einem grausig-schönen Farbenkontraste von lichtesten Rot bis zum tiefsten Dunkelblau in allen Schattierungen erstrahlte, um dann plötzlich in lautes schauriges Krachen überzugehen, das bis in die späten Nachtstunden anhielt und ein halbes hundert blühender Menschenleben vernichtete!
Die Zeitung durfte infolge der strengen Zensurvorschriften damals kein Wort darüber bringen, und so entstanden die übertriebensten Gerüchte. Doch genug der grausigen Erinnerung.
Heute haben sich auch die Sprengstoffwerke in ihrer Erzeugung umstellen müssen: sie wandten sich friedlicheren Wirtschaftszweigen zu, und ihre Belegschaft ist erheblich verringert worden.
Vom Gallunberge genießt man eine recht ergiebige Aussicht, jedoch ist mir nicht bekannt, ob das Betreten des Geländes, das jetzt ebenfalls den Sprengstoffwerfen gehört, gestattet ist. Vom Elbtale her grüßen Dörfer und Einzelhäuser, die Stickstoffwerke haben den oberen Teil ihrer Anlagen mit einem dichten Schleier umgeben; der
Apollensberg – 128 Meter hoch – ist als ein von Naturfreunden gern besuchter Ausflugspunkt wohlbekannt, und ich erinnere mich gern eines wunderschönen Frühlings-Pfingstmorgens im Mai 1921, als hier angesichts des silbernen Bandes der Elbe, umgeben von lichtem Maiengrün, von Blütenduft und Sonnenschein der überall gern gehörte Pfarrer von Apollensdorf, Lic. Geibel, eine erbauungsvolle Ansprache, umrahmt von Harmoniumklängen, Chorälen und Liedern, an eine zahlreiche Gemeinde hielt.
Weiter ziehen wir unsere Straße.
Die festgefrorenen Reste von schmelzendem Schnee und Eis liegen hier zwischen den Kieferwaldungen noch in größerer Ausdehnung, und oft müssen wir die gangbareren Stellen des Weges suchen. Festgefrorene , eisbedeckte Flächen mahnen zur Vorsicht und hindern das rasche Fortkommen.
Braunsdorf mit seinen Pappen- usw. Fabriken bleibt rechts liegen; wir kreuzen die preußisch-anhaltische Grenze, ohne uns dieser
Tatsache richtig bewußt zu werden: wir sind, um uns eines früher
in Anhalt dem übrigen Deutschland gegenüber gebräuchlichen
Ausdrucks zu bedienen, „im Auslande“ oder, wie der Wittenberger
sagt: ,,im Calvinschen“. Auf Waldpfaden geht es weiter,
Möllensdorf (180 Einwohner) zu. Am Eingange des Dorfes fällt uns „die Mühle am Bache“ auf, ein wenig gepflegtes Besitztum, jetzt dem Müßiggange, dem Verfall überlassen, dessen Eigentümer in einer Großstadt wohnen soll. Auch mit Stroh gedeckten Häusern begegnen wir hier, die ja im Winter recht warm sein sollen (Merkwürdig, daß sie sich bis heutigen Tages halten konnten). Wir schwenkten scharf links um und kommen zum Gasthause Joachim, in dem wir unser Frühstück einnahmen.
Der Besitzer hackt Holz, die Frau Wirtin betätigt sich in der Küche, und die Großmutter wartet des jüngsten Buben – so findet man es vielfach auf dem Lande. Das mitgebrachte Brot ist bald vertilgt, angenehm befeuchtet von Gambrinus‘ Gaben, unter denen sich sogar Erzeugnisse von „Bio“-Fuhrmann in Wittenberg befinden . Treuherzig erzählten die Wirtsleute von ihrem Ergehen, der Sohn
vom Kriege, und wir hören, daß auch die Großmutter einen Sohn,
den ältesten, dem Vaterfande zum Opfer bringen mußte.
Voll Stolz zeigt uns der jüngere, der den Feldzug als sächsischer Artillerist mitmachte, den Extrarock seines gefallenen Bruders als bayrischer Ulan. Das Gespräch wendet sich Jagdgeschichten zu, die ich jedoch lieber verschweige, weniger des Jägerlateins als des Umstandes wegen, daß sich Mitwanderer lieber in Möllensdorf anpachten wollen als in der Elbaue bei Bodemar oder Seegrehna.
Weiter. Auf von der Sonne wenig berührter und deshalb noch recht glatter Straße, die jedoch vielfach mit Sand bestreut ist – wir gedenken dankbar der Urheber dieser Vorsichtsmaßnahme, geht es in etwa halbstündigem Marsche in gerader Linie dem Hubertusberge – 142 Meter – zu.
Schon von weitem winkt der Bismarckturm uns entgegen. Kurz vor dem Hubertusberge fesselt den Wanderer links der Straße der „Lutherstein“, der, an der nördlichen Seite diesen Namen, an der östlichen aber „Luthersteig“ tragend , letzteres in Rücksicht auf den schönen, heute leider nicht gangbaren Steg von den Sprengstoffwerken her, uns eine freundliche Erinnerung an Luthers Werte auch in Anhalt bieten. In freundlich durchwärmter Wohnstube finden wir dort Rast. Eine gute Tasse Kaffee erfrischt unsere Lebensgeister, und bald ist auch hier eine an geregte Unterhaltung mit den Wirtsleuten im Gange.
Wir hören, daß vor wenig Tagen vaterländische Verbände dort eine wohlgelungene Reichsgründungsfeier veranstaltet haben, die ohne Störung verlief.
Bekanntlich war die Bismarck-Erinnerungsfeier am 1. April 1923
von der Anhalter Regierung untersagt worden, und der Stahlhelm-Bund Wittenberg mußte seine Feier daheim abhalten. Die gute Verpflegung brachte es mit sich, daß wir hier länger als beabsichtigt verweilten, und so unterblieb der Rundgang um den Bismark Turm, dessen Höhe von dem großen Gefäß zur Aufnahme des Leuchtfeuers gekrönt ist. Grund und Boden befindet sich übrigens in Privatbesitz, und es erschien uns fraglich, ob der Zutritt gestattet worden wäre.
Wir werden unsern Besuch im Frühjahr oder Sommer wiederholen
und dann ,“Lied und Beschreibung“ bringen .
In strammem Marsche, der über die Mühl-Berge -107 Meter- führt , erreichen wir, durch die glatte Straße gezwungen langsamer marschierend,
Coswig, dessen hohe Fabrikschornsteine uns schon von weitem grüßen. Zahlreiche große Industrielle Werte haben sich hier ansässig gemacht und bringen so Leben in das etwa 10 000 Einwohner zählende kleinstädtische Gebilde.
Wenn Kurt Seibert seine, eine humoristische Schilderung (wer lacht da!) darstellende sollende Skizze über Wittenberg auf Coswig zugeschnitten hätte, würden wir das verständlich gefunden haben. Und doch läßt es sich auch hier gut sein. Mehrere Gastwirtschaften laden zum Besuche ein; wir nennen unter ihnen den Ratskeller, den Coswig vor Wittenberg voraus hat (dafür hat Wittenberg ein Wellblechhäuschen), das Bahnhofs Hotel (Besitzer: Bruchmüller), wo wir einige Zeit verweilten und an preiswerter Verpflegung wohl sein ließen. Alle unsere Wünsche konnten hier restlos befriedigt werden.
Der hereinbrechende Abend ließ es uns inanbetracht der glatten Waldstraßen ratsam erscheinen, den Rückweg mit der Bahn zurück zulegen. Als wir jedoch in Kleinwittenberg den wundervollen Mondschein sahen, der milde vom Himmel leuchtete und Feld und
Wald mit silbernem Lichte überstrahlte, da litt es uns nicht länger im engen „Abteil“, und wir zogen es vor, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.
Über das Gelände des ehemaligen Gefangenenlagers ging es, wo unser alter Herrgott einst seine Sonne scheinen ließ über schwarze, braune, gelbe und sonstwie farbige Franzofen, Russen und was weiß ich sonst was für Völker, den ,,Gipsdielenweg“ entlang, wo heute noch nach fünf Jahren viele, viele wenig schöne Ueberreste von Baumaterial an unsere einstige Größe und Herrlichkeit mahnen,
der Heimat entgegen.
Noch lange wird die Erinnerung an den schönen Wintertag in uns nachtklingen.