Der 27. Juni 1293 bedeutet einen wichtigen Markstein in der Geschichte unserer Stadt. An diesem Tage erhielt Wittenberg vor 725 Jahren durch Herzog Albrecht II. städtische Gerechtsame, wodurch der Weg zu seiner weiteren Entwicklung freigemacht wurde.
Herzog Albrecht II., der von 1268 bis 1298 über das Herzogtum Sachsen regierte, schlug als erster Landesfürst seinen dauernden Wohnsitz in Wittenberg auf. Er lebte in beständiger Fehde mit dem Erzbischof Günther von Magdeburg, der ihn 1278 besiegte. Er wetzte zwar diese Niederlage in einem Treffen an der Peine wieder aus, konnte aber nicht verhindern, dass die Feinde bis an die Mauern von Wittenberg streiften und vor allem Niemegk und Belzig arg plünderten. Der infolge dieser Fehden eingetretene Geldmangel und der Wunsch, sich die Einwohner Wittenberg zu williger Heeresfolge zu verpflichten, veranlassten den Herzog, dem Burgwart Wittenberg städtische Gerechtsame zu verleihen, indem er dessen
Bewohner von allen herkömmlichen Lasten und Abgaben, die ihre Hörigkeit bezeichneten, gegen Zahlung einer jährlichen zu Michaelis fälligen „Bede“ von 50 Mark befreite. Die hierüber ausgefertigte Urkunde befindet sich noch heute als ältestes Dokument in unserem Stadtarchiv.
Durch die Verleihung der städtischen Gerechtsame wurde Wittenberg der Weg zu seiner Weiterentwicklung gebahnt und ein wichtiger Schritt zum Wohlstande der Stadt und ihrer Bewohner getan.
Bis dahin waren die Einwohner zum größten Teil noch Hörige (Unfreie). Ihre Lage war ursprünglich höchst ungünstig. Sie durften über ihr Eigentum nicht frei verfügen. Von ihren Hofstätten mussten sie dem Grundherrn einen Zins zahlen und von ihren Grundstücken Zins- und Frondienste leisten. Säumten sie damit, so konnte ihnen der Grundherr sämtliches Eigentum nehmen. Beim Todesfall fiel diesem die gesamte Hinterlassenschaft zu. Die Unfreiheit ging sogar soweit, dass die aus Ehen zwischen Freien und Unfreien geborenen
Kinder stets der „ärgeren Hand“ folgten, d.h. unfrei wurden. Die fortschreitende Entwicklung schaffte hierin Milderung. Die Ansprüche des Grundherrn beschränken sich beim Tode des
Unfreien auf das so genannte „Buteil“, das gewöhnlich die Hälfte des Nachlasses betrug. Späterhin wurde sein Erbrecht auf eine bestimmte Geldsumme beschränkt oder auch auf das „Besthaupt“, d.h. die Wahl des besten Tieres aus dem Stalle, oder auf den „Gewandfall“, das ist der Anspruch auf das beste Kleidungsstück oder die beste Waffe des Verstorbenen herabgesetzt.
Eine gedeihliche Entwicklung Wittenbergs war unmöglich, solange der größte Teil seiner Bewohner, namentlich die Handwerker, als Unfreie von den Rechten der Bürger ausgeschlossen waren. Als daher Herzog Albrecht nach dem Beispiel anderer Fürsten sämtliche Abgaben und Frondienste der Wittenberger Einwohner in die Bede von jährlich 50 Mark verwandelte, wurden diese mit einem Male vollberechtigte freie Bürger, was für die Stadt ein Schritt von der allerhöchsten Bedeutung war. Zwar verwaltete der herzögliche Vogt
städtische Gericht noch einige Zeit mit, aber er besaß bei der Entscheidung selbst keine Stimme. Er hatte lediglich die Schöffen zu befragen und sprach deren Urteil aus. Die Schöppen oder Schöffen schöpften, d.h. Sprachen das Recht nach dem Herkommen.
Die Bestimmungen des von dem anhaltischen Schöffen Eicke von Reppichau zwischen 1215 und 1235 geschaffenen „Sachsenspiegels“ blieben auf das platte Land beschränkt. Den städtischen Schöffen diente als Richtschnur die jährlich verlesene „Willkür“ (Rechtsvergleich) und die „Weißtümer“ (gerichtliche Aussprüche).
Der Wittenberger „Willkür“ diente die Magdeburger als Vorbild, doch galt sie später als selbstständiges Recht.
War es Wittenberg, solange seine Bewohner hörig waren untersagt, als Gemeinwesen Grundbesitz zu erwerben, so wurde das jetzt anders. Bereits im Jahre 1301 erwarb die Stadt durch Kauf von Witwe Herzog Albrechts, der 1298 in der Fehde mit dem Magdeburger Erzbischof bei Aken fiel, das Vorwerk Bruder Annendorf mit allen Äckern, Wiesen und Weiden und einige Zeit später das Dorf Hohndorf sowie den Hohndorfer und Wiesigker Lug mit allem Zubehör. Zu gleicher Zeit erhielt sie das Münzrecht gegen Erlegung eines jährlichen Münzgeldes von 14 Mark Silber. Außerdem genoss sie das Vorrecht der Zoll und Geleitsfreiheit, d.h. die Bürger Wittenbergs durften ihre Waren und Güter frei, ohne Zoll und Geleitsgeld, durch das ganze Herzogtum Sachsen führen. Im Laufe der Jahre traten dann eine Reihe weiterer Freiheiten Vorrechte hinzu. So bedeutet die Verleihung der städtischen
Gerechtsame am 27. Juni 1293 für Wittenberg den Beginn einer neuen Zeit und die Grundlage für seine ungehemmte Fortentwicklung.
Bei der 725 -jährigen Wiederkehr dieses Tages wollen wir uns daran erinnern.
(Vortrag im Heimatverein 1943) Richard Erfurth †
bearbeitet von Elke Hurdelbrink