Die alten Steinkreuze am Wege

Bei Wanderungen im schönen Tirol trifft man öfter „Marterln„: irgendwo an einem rauschenden Gebirgsflusse, an einem Holzabfuhrwege im Walde sieht man eine Holztafel an einer
Stange, wie bei uns etwa eine Warnungstafel.
Darauf hat wohl der Dorftischler, meist mit rührend kindlichem
Ungeschick, in einem Bilde einen Unglücksfall dargestellt,
durch den ein Mensch an dieser Stelle jäh aus dem Leben dahingerafft wurde.
So erfahren es alle Vorübergehenden, auch die, die nicht des
Lesens kundig sind, deren Zahl aber in jenen Gegenden nicht
allzu klein sein mag.
Für alle, die Iesen können, steht auch noch die traurige
Begebenheit unter dem Bilde kurz verzeichnet.
Durch diese Tafeln erbittet man von jedem vorübergehenden
guten Katholiken, mag er den Verunglückten gekannt haben
oder nicht, die Liebespflicht, daß er dem so ganz unvorbereitet Dahingerafften ein stilles Gebet widme, damit ihm, der nicht
einmal mit den Sterbesakramenten versehen werden konnte,
gemäß der Lehre der katholischen Kirche die Qualen des
Fegefeuers verkürzt werden.
Die Zahl der helfenden Gebete kann gar nicht groß genug sein; darum eben wendet man sich an alle, selbst an die Ungelehrtesten.    Diese „Marterln“ im katholischen Tirol erschließen uns den Sinn
von ähnlichen Gebilden in unserer Heimat.
Bisweilen trifft man hier ein altes Steinkreuz, so verwittert durch
die Länge der Zeit, daß mitunter kaum noch die Kreuzesform erkennbar ist.

Manches mag ursprünglich eine bildliche oder gar christliche Darstellung gezeigt haben; sie ist natürlich durch jahrhundertelange Witterungseinflüsse verschwunden; denn selbstverständlich müssen wir die Errichtung dieser Steingebilde in die katholische
Zeit setzen, also noch vor Luthers Zeit; sie sollten ja wie die
heutigen Marterln den frommen Katholiken zu einer Fürbitte
für einen unvorbereitet Abgeschiedenen auffordern.
In der Regel wird es sich um Ermordete gehandelt haben,
nennt man diese Steingebilde doch geradezu
„Mord- und Sühnekreuze.“
Mörder wurden vom Gericht dazu verurteilt, ein Steinkreuz für
den Getöteten zu errichten und Seelenmessen zu stiften.
Übrigens kommt uns Heutigen die Rechtsprechung früherer
Zeiten in mancher Beziehung sonderbar vor.
Während man bisweilen ungemein harte Strafen verhängte,
wo wir viel milder urteilen z.B. wurden rückfällige Diebe mit
dem Tode bestraft, so folgte auf Mord durchaus nicht immer
die Todesstrafe, wohl aber hielt man es von Gerichtsseite für notwendig, in dem Urteil das Seelenheil des Ermordeten zu bedenken.
Auch in unseren Gegenden kamen solche Fälle vor.
Natürlich lassen sie sich nur selten aktenmäßig belegen.
Umso mehr freut man sich über einen Fund wie den folgenden
aus alten Wittenberger Gerichtsakten:

1498.  Zu wissen, daß auf heutigen Dienstag nach Scholastika
(d. i. 10. Febr.) sind in der Güte freundlich vereinigt (geeinigt) und entschieden Ludwig Lehmann von Hohndorf an einem – und
Peter Schmeye als rechter Schwertmagen (nächster männlicher Verwandter) des seligen Hans Schmeye (am) anderen Teile – des Totschlags halben so genannter Ludwig Lehmann an Hans Schmeyen, dem Hirten von Hohndorf, in dem Stadtgerichte hier
zu Wittenberg, begangen hatte, inmaßen wie hernach folgt und also, daß Ludwig Lehmann ehergenannt soll aufs schierste bestellen und des Erschlagenen Seelen zu Troste noch halten lassen 50 Vigilien (Betstunden) und 50 Seelenmessen.
Dazu soll er geben einen Stein (20 bis 25 Pfund) Wachs; (der) soll in solcher Weise ausgeteilt werden:
– nämlich – an verschiedene Kirchen und Klöster.
– „Dorzcu sall er ein steinern Creuz, bei dem heiligen Creuz ober setzen lassen“
(d.H. der Kapelle zum Heiligen Kreuz, die auf dem heutigen
„Alten Friedhofe“ stand, gegenüber, also wohl an der
Dresdener Straße am „Alten Friedhofe“).
Auch soll genannter Ludwig Lehmann zu „Mangeld“
(d.i. Abfindungssumme) geben (an) Peter und Kilian, die
(Gebrüder Schmeye genannt, neunzehn Gulden oder
(falls nicht auf einmal, so in genau bestimmten Raten bis
Galli. d.i. 16. Okt., des Jahres 1500).
Auch soll er bestellen, daß des Erschlagenen Seelen zu Troste
eine Achfahrt (Bußfahrt, Wallfahrt) soll noch geleistet und
getan werden.
(Mehrere Bürgen mußten von Ludwig Lehmann gestellt werden. Nachdem alles so in Ordnung gebracht worden war, sollte
Ludwig Lehmann hinfürder unbeleidigt bleiben)
Geschehen am obenerwähnten Tage anno 1498.

Leider hat sich gerade dieses Steinkreuz nicht erhalten;
denn der Standort in nächster Nähe der Festung war mehrfachen Veränderungen und Verwüstungen unterworfen, so daß z. B.
nicht einmal die Gräber von Luthers Kindern aus dem
„Alten Friedhofe“ erhalten geblieben sind, viel weniger
besagtes Kreuz.
Jedenfalls steht durch die mitgeteilte Urkunde fest, daß solche Kreuze dem Seelenheile Getöteter dienen sollten.

Folgende sieben alte Steinkreuze ließen sich im Wittenberger Kreise feststellen:

1. das eben besprochene Sühnekreuz am Wittenberger
„Alten Friedhofe“, errichtet 1498, jetzt aber nicht mehr vorhanden.

2. In der Wittenberger Elstervorstadt das „Steinerne Kreuz“, so heißt es in Akten um 1740,
1653 aber „der Kreuzstein“.
Vermutlich stand es etwa an der Ecke des Grundstücks
der alten Elstervorstadtschule.
Es muß schon seit langem verschwunden sein, da selbst
älteste Leute nichts mehr davon wissen, obwohl die „Kreuzstraße“ noch heute ihren Namen davon trägt.

westlicher Stein         östlicher Stein
Die sogenannten „Brüdersteine“ 
Foto: Richard Möbius, Zahna 1938
aus: Archiv des HV WB

3. und 4. Die beiden „Brüdersteine“ neben der Dresdener Straße bei Wittenberg. Der eine ist 70 Zentimeter hoch
und hatte früher wohl Kreuzform;
nach den Angaben des Grundstücksbesitzers stand er
ehemals etwa fünf Meter weiter südlich, jedoch ist sein
alter Standort dem Eisenbahnbau zum Opfer gefallen, denn dazu wurde dort Kies entnommen.
Der andere ist 45 Meter davon entfernt und ist nur eine
rohe, oben zugespitzte Granitplatte von einem Meter Höhe; der Teil in der Erde soll ebenfalls etwa einen Meter betragen und nach unten zu immer breiter werden; an der Straßenseite trägt diese Steinplatte ein noch ziemlich gut sichtbares Kreuz eingehauen. Daß es nicht etwa erst später durch Kinderspielerei oder ähnliches entstanden ist, dafür bürgt
die Härte des Gesteins.
Nach der Sage duellierten sich hier auf Pistolen zwei Brüder, Ferdinand und Gottlob, nach der einen Lesart um ein Mädchen, namens Dorothea, nach einer anderen um geerbten Acker; beide Brüder fielen gleichzeitig. Die verschiedenen Lesarten der Sage sind bereits in Heimatblättern gedruckt worden. Für das hohe Alter der beiden Steine und für die Errichtung in vorreformatorischer Zeit spricht wohl auch,
daß die Wittenberger Totenregister, die bald nach der Reformation beginnen, nichts hierzu Passendes berichten,
daß auch in anderen Akten der Stadt und der Kirche bisher noch nichts gefunden wurde.

5. und 6. Zwei Steinkreuze „hinterm Amt“ bei Pretzsch,
sehr stark verwittert, 1,10 Meter hoch, 42 Zentimeter breit. Nach der Sage sollen zwei Ritter hier miteinander gekämpft haben und gefallen sein;
andere erzählen von Offizieren aus der Franzosenzeit.
Im Pretzscher Kirchenbuche wird schon 1598 auf diese
Steine hingewiesen; da steht, daß am 20. September ein Reiter
„bei dem Kreuz gegen den Scheunen über“ begraben worden sei. Es sollen „früher“ (gewiß weit vor 1800) sogar drei Kreuze gewesen sein, die einen Betplatz bezeichnet hätten
(nach einer Nachricht aus der Zeit um 1820).
Erdarbeiten halber sind die beiden Steine augenblicklich weggenommen worden, werden aber sicher wieder an ihrem alten Standorte aufgerichtet.

7. Steinkreuz an der Straße Pretzsch-Gollmer Weinberg;
etwa einen Meter hoch.
Soweit ich mich erinnere, stand es 1892 an der Straße selbst unter den letzten Kirschbäumen der Südseite, befindet sich aber jetzt einige Meter von der Weinbergstraße ab auf einem Feldwege.

   Die noch heute vorhandenen Steine Nr. 3, 5, 6 und 7 zeigen keinerlei Zeichnung oder Verzierung. Sonst ist in Mitteldeutschland, das wohl ein Hauptverbreitungsgebiet dieser alten Kreuze bildet, auf vielen ein großes Schwert, bisweilen auch ein Beil eingehauen. Das dürfte auf gerichtliche Dinge hinweisen.
Der Zweck der Kreuze war, wie schon die oben mitgeteilte Wittenberger Urkunde erkennen ließ, dem Seelenheile Getöteter
zu dienen.
Wenn eine andere Ansicht dahin geht, daß sie Grenzsteine des Bistums Meißen gegen die Nachbar- bistümer seien, so dürfte diese Annahme wenigstens bei den von mir jeſtgeſtellten sieben Kreuzen unseres Wittenberger Kreises nirgends zutreffen. Hier sind die Standorte niemals meißnische oder andere Bis- tumsgrenzen gewesen.

Eine dritte Ansicht, es handle sich um Flurgrenzen, erscheint mir
bei 5 dieser 7 Kreuze (Nr. 1, 3, 4, 5, 6 des vorstehenden Verzeichnisses) ganz ausgeschlossen, wäre immerhin bei zweien
(Nr. 2 und 7) möglich.

Daß die Kreuze bei der Missionierung unserer Gegend als
Zeichen der Einführung des Christentums errichet worden seien,
ist mindestens bei Nr. 1 nicht der Fall;
auch deuten die Sagen bei Nr. 3. 4, 5,  6 und die Lage von Nr. 7 (mitten im Felde, fern von jeder menschlichen Siedlung!)
auf andere Zwecke; ebenso liegen Nr. 3 und 4 ehemals weit außerhalb des Ortes.
Noch andere Deutungen sind bei unsern 7 Kreuzen recht unwahrscheinlich. Weichbildgrenze z.B. hätte höchstens Nr. 2
aus einer dem Namen nach unbekannten Wüstung
(vielleicht Ammendorf) sein können.
Jedenfalls scheint für die hier behandelten Steine der Ausdruck „Mord- und Sühnekreuz“ das Wesen am besten zu treffen.
Da zwei dieser Kreuze nicht mehr vorhanden, sondern uns nur
aus alten Akten bekannt sind, so ist ihre Zahl früher also größer
und nach meiner Vermutung viel größer als heute gewesen;
denn Mord und Totschlag waren in alten Zeiten noch mehr in
Übung als jetzt.
Auf ein Steinkreuz am Dorfeingange von Kähnitzsch in der
Nähe von Pretzsch möchte ich etwas genauer eingehen,
wenn es auch schon im Nachbarkreise liegt, weil es nämlich
in mehrfacher Hinsicht interessant ist.
Zunächst seine besondere Größe: es ist gut mannshoch.
Früher soll es sogar noch höher gewesen sein.
Doch ist es öfter umgefallen und wieder ausgerichtet worden.
Dabei soll einmal ein Stück des Fußes abgebrochen sein,
wie mir Vorübergehende berichteten.
Sodann das große, eingeritzte menschliche Brustbild mit einem Heiligenschein. Die Hände sind auf der Brust zusammengelegt.
An dem linken Kreuzarm ist eine Zeichnung, die deutlich wie ein moderner Spaten ohne Stiel aussicht; daneben ein Gebilde,
das die Leute für eine Sense erklären.
Man sagt, ein Riese sei hier mit einem Spaten und einer Sense ermordet worden. Die Einritzungen am rechten Kreuzarme sind
auf einer etwa tellergroßen Fläche vollständig abgerieben.
Diese Stelle ist etwas vertieft.
Ob es sich hier um Sympathiekuren handelt, zu denen
abgeschabte Teile des Steinkreuzes verwendet wurden, wie anderwärts berichtet wird? Durch den unteren Teil des Kreuzes
ist eine enge Öffnung gebohrt worden.
Wozu?
Im obersten Teile ist ein Kreuz von der Form des Eisernen
Kreuzes zu sehen. Von den schristähnlichen Zeichen an den
Enden der drei oberen Kreuzesarme ist kaum etwas zu entziffern. Wer mag mit der dargestellten menschlichen Figur gemeint sein? Einen Heiligen mit dem Symbol eines Spatens (und einer Sense?)
gibt es nicht. Soll es Christus selbst sein? Etwa Christus, der Gärtner? Dazu würde nicht unrecht passen, wenn am Rande
des linken Kreuzarmes neben anderem die Buchstaben … PAZ… zu lesen und pax zu deuten wären, und wenn die Zeichen am
rechten Kreuzarme möglicherweise Alpha und Omega bedeuteten. Jedoch möchte ich das bei der schweren Erkennbarkeit durch
starke Verwitterung nicht entscheiden.
Schon diese immerhin kurze Beschreibung wird zeigen,
daß dieses alte Steingebilde einer genaueren Untersuchung
wert wäre. Mich überraschte, daß eine Anzahl Dorfbewohner,
die während meines Abzeichnens vorübergingen und die ich natürlich alle auszufragen suchte, doch nur das wenige oben
mit Angeführte berichten konnten.

Wie im katholischen Tirol die wenigen Evangelischen die Sitte
der Marterln, wenn auch evangelisch umgedeutet als Erinnerungsstätten an trarige Begebenheiten, die einst die
Seelen aufwühlten übernommen haben, so gibt es in unserm
Kreise aus evangelischer, ja neuester Zeit ähnliche Gedenksteine
an Unglücksplätzen oder an Orten, wo ein bedeutsames Ereignis sich vollzog. Es seien kurz ausgeführt:

a) Gedenkstein am Wittenberger Schwanenteiche,
wo am 9. Dezember 1885 vier Kinder einbrachen und ertranken, ebenso der Soldat Steinert beim Rettungswerk.

b) Steinkugel am Hause von Lantzsch, Wittenberg,
Elbstraße, zur Erinnerung an das Hochwasser von 1432.

c) Gedenkstein an der Chaussee Pratau-Wachsdorfs
(zwischen Kilometerstein 42,5 und 42,6).
Inschrift:
„An dieser Stelle wurde der Hüfner Gottlieb Fehse aus Rackith am 10. Juli 1871 vom Blitz erschlagen.“

d, e, f) Hier aufführen könnte man das Zigeunergrab von 1840 und das Jungferngrab in der Schmiedeberger Vorderheide
(in der Nähe der „Schönen Aussicht“),
sowie das Jungferngrab am Wachtmeister in der Dübener Heide, wenn diese Stätten auch keine Gedenksteine haben.

g) Der „Zeppelinstein“ in der Nähe der Chaussee Labetz-Bülzig zur Erinnerung an die Landung des Luftschiffes „Zeppelin III“ am 30. August 1909, der jüngste aller dieser Steine und sonderbarerweise der einzige im Flämingsteil des Kreises sowohl aus neuer wie auch aus alter Zeit.

Durch diese sämtlichen Zeichen aber sollen tiefe Eindrücke in
der Erinnerung festgehalten werden, und wenn wir auch die erstgenannten alten Steinkreuze nur so ansehen, sollen sie
uns verehrungswürdige Zeugen unserer Vorjahren aus alten,
alten Seiten sein und bleiben, die unseren Schutz wert sind.

Paul Hinneburg †

aus: „Glaube und Heimat“ 1933
Kalender für den Kirchenkreis