Hat Wittenberg einen Roland?

Geht man mit Touristen um die Stadtkirche, so kann es vorkommen, daß man auf eine Figur an der Südseite des Südturmes hingewiesen wird, und immer ergibt sich die Frage:
„Ist es ein Roland?“

Ist die Figur an der Südseite der Wittnberger Stadtkirche ein Mauritius-Bild oder hat die Lutherstadt einen Roland

Leider kann niemand dazu eine bindende Antwort geben.
Die kunstgeschichtlichen Veröffentlichungen, worin die Stadtkirche erwähnt wird,
machen hierbei einen Bogen wie
die Katze um den heißen Brei, dh., niemand will sich auf eine direkte Antwort festlegen. Ich könnte dazu eine ganze Reihe von Beispielen anführen, doch sollen hier nur
einige genügen.

 

DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler:
„Der Bezirk Halle“ meint:
„An der Südseite des Südturms spätgotischen Rolandsfigur(?).“ Andere neuere Beschreibungen lassen diese Figur ganz weg, obgleich selbst stark verwitterte Grabsteine ausführlich
behandelt werden.
Wenn es dennoch geschieht, wird stets ein großes Fragezeichen hinzugesetzt. Winkler schrieb schon 1917 vorsichtig:
„In den gleichen Kreis gehört eine auf der südlichen Turmseite eingebaute, verschiedentlich als Roland angesprochene Figur,
die wohl aber als eine Darstellung des heiligen Wenzelaus aufzufassen ist.“
Gottfried Krüger, der die Kirchenarchivakten genauestens kannte, sagte 1926 in seinem Vortrag:
„Rings um die Stadtkirche“ u. a.:
„Noch zu erwähnen ist am südlichen Turm eine kleine Steinfigur, einen Ritter mit langen Haaren darstellend, der ein mit einem Beil geziertes Wappenschild hält. Nach Gurlitt soll es eine Rolandfigur sein, jedoch ist dies wenig glaubhaft.“

In seinen „Kursächsischen Streifzügen“ weist der Freiberger Schmidt 1913 ohne Hemmungen darauf hin:
„Von besonderem Interesse ist nur ein Roland an der Südseite
des Turms, der, den Schild in der Hand und auf das Schwert
gestützt, nach dem Markte zu blickt.“

Es ist erstaunlich, wie gerade solche versierten Kunsthistoriker
wie Bellmann/Harksen/Werner diese Figur kurz erwähnen und bemerken, daß in der Regionalgeschichtsschreibung dieses
Steinbild als Roland bezeichnet wird, was – wie wir eben sahen – nur
bei dem Freiberger Schmidt voll zum Tragen kommt, während sich alle übrigen und wirklich ernsthaften Regionalhistoriker zu dieser positiven Darstellung nicht entschließen können.
Einige Verfasser nehmen überhaupt keine kritische Stellung ein,
so z.B. Ingrid Schulze, die als gebürtige Wittenbergerin sicherlich dazu in der Lage gewesen wäre.
(Vergl. Prof. Dr. Ingrid Schulze, Die Stadtkurche St. Marien zu Wittenberg, Berlin 1981).

Wen stellt die Figur nun wirklich dar?

Winkler versucht eine Deutung mit Blick auf den heiligen Wenzel. Wenzel wird aber stets mit dem Herzogshut dargestellt,
außerdem sind seine Attribute:
Adler, Weinstock, Fahne oder Lanze mit Wimpel und Schwert. Unsere Figur ist ohne Kopfbedeckung, hat zwar Schwert und
Schild, letzteres trägt ganz deutlich ein Beil.
Offenbar ist unser Standbild ein sehr altes, vermutlich ist es
bereits vor dem Bau der Kirchtürme vorhanden gewesen.
Schon 1180 wird Wittenberg als Sprengel des Bischofs von Brandenburg genannt, doch dieser Bischof unterstand dem Erzbischof von Magdeburg.
Der große Dom zu Magdeburg ist aber dem heiligen Mauritius
(Moritz) und der Katharina geweiht gewesen.
Es liegt nahe, daß auch unser Steinbild diesen hl. Mauritius
darstellt. Auffallend ist das stark gekräuselte Kopfhaar.
In der Kunstgeschichte wird stets betont, daß dieser Heilige seit dem 12. und 13. Jahhundert mit Schwert und Schild erscheint und seine afrikanische Herkunft durch gekräuseltes Haar und auf Gemälden als Schwarzafrikaner dargestellt wird. Er war Patron des Erzbistums Magdeburg, und im Dom selbst findet man mehrmals sein Standbild. Auch in Halle und Jüterbog ist er nachweisbar.

Weder Heinrich Heubner noch Gottfried Krüger fanden bei ihren Forschungen Hinweise auf einen Wittenberger Roland, auch ich konnte bei der Durcharbeitung der gesamten Kämmereirechnungen
niemals eine Rolandfigur oder Reparaturen an dieser finden, wohl aber einen Vermerk, daß der Markt in Wittenberg bei „aufgerichteter Fahne“ stattfand.  So komme ich zu der Vermutung, dasß die Ritterfigur an dem Südturm unserer Stadtkirche die Darstellung des hl. Mauritius ist, leider auch hier wieder ein Fragezeichen.

Heinrich Kühne †

aus: „Freiheit vom 10.08.1983