Das Wittenberger Schulunternehmertum im 19. Jh.
Schulunternehmertum gab es in Wittenberg zu jeder Zeit, denn bereits 1309 unterrichtete im Franziskanerkloster ein Meister Ludolf Bürgersöhne im Lesen, Schreiben, Rechnen und Recht und heute befähigen 16 verschiedene Bildungsträger die Menschen in unserer Stadt, damit diese den Forderungen unserer Tage gerecht werden können.
Über die Jahrhunderte entwickelten einzelne Personen, kirchliche und weltliche Institutionen, Verbände, Kuratorien, Vereine, Organisationen und Betriebe schulunternehmerische Initiativen zur Anhebung und Wahrung der Allgemein- und Spezialbildung mit dem Ziel, gesellschaftliche Erfordernisse ihrer Zeit lösen bzw. praktisch umsetzen zu können.
Legitimiert wurde z.B. das Schulunternehmertum auf Grund des Artikels 22 der Preußischen Verfassungsurkunde vom 31.01.1850, in dem es heißt: „Unterricht zu erteilen und Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten steht jedem frei, wenn er eine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewiesen hat“; 3,50 Reichsmark und ein vom Unternehmen engagierter Lehrer genügten z.B. 1917, um in unserer Stadt eine private Handelsschule in der Lutherstraße zu gründen.
Die industrielle und agrarwirtschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert, die freie Entwicklung der Konkurrenz, die Gewerbefreiheit, revolutionierende Erfindungen und Entdeckungen, veränderte politische Bedingungen für unsere Stadt, vor allem nach 1815 und 1873, die neue Zugehörigkeit zum preußischen Staat, der Verlust der Universität und die sich bereits abzeichnende Bedeutungslosigkeit der Wittenberger Festung bedingten eine rasche Industrialisierung, neue Strukturen in der Gewerbetätigkeit sowie neue Lösungen für den Verkehr und die Befähigung der Menschen für herangereifte Aufgaben. Im Vorfeld der progressiven Forderungen dieser Zeit erhielt Peter Freiherr von Hohenthal, sächsischer Minister, vom König Friedrich August von Sachsen die Zustimmung und vom Rat der Stadt Wittenberg am 7. 4. 1756 die Approbation, in der Claußstraße eine „nützliche Realschule“ zu errichten mit Unterricht im Christentum, im Manufactur- und Grundgewerbe, in der Herstellung von Instrumenten und Modellen, im Zeichnen der Umgebung sowie in Arithmetik, der Geometrie, der Mechanik, der Naturlehre und des Handwerks sowie der Grundlagen der Confection in wichtigen Gewerben.
Diese Schule, in 3 Gebäuden untergebracht, war zugleich Waisenhaus und wurde bereits 1760 von den Preußen zerstört. Bedeutsam aber war sie insofern, daß sie am Anfang einer bildungspolitischen Entwicklung errichtet wurde, die Fröbels, Pestalozzis und in Wittenberg vor allem die die Handschrift von Johann Julius Hecker zeigte. Hecker war ehemals Lehrer in den Franckeschen Stiftungen in Halle und später Gründer der ersten „Ökonomisch-mathematischen Realschule“ zu Berlin im Jahre 1747; er war zugleich Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Hecker forderte: „… die nicht studierende Jugend solle von den verschiedenen Künsten und Handwerken und von deren Materialien und Werkzeugen eine genauere Kenntnis und Einsicht erlangen, um dieselbe dereinst mit Nutzen in ihrem erwählten Beruf anzuwenden.“
Das sächsische Schulsystem versuchte im 1. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, sich in diesem Sinne neu zu orientieren. Das neue Fach „Handwerkskunde“ für alle Kinder sollte bei Erhöhung der Eigentätigkeit Erfahrungen durch Handtätigkeit und Arbeitsverbindung mit dem Unterricht bringen. Dabei sollte es folgende Hauptformen der Tätigkeit geben: Modellieren in Ton, Papierarbeiten, Flechten, Falten und Ausschneiden, leichte Papparbeit, körperliches Darstellen, einfache Holzarbeiten, Übungen in der Metall- und
Glasbearbeitung, Gartenarbeit. Leider fanden im sehr bald preußischen Wittenberg erst ein Jahrhundert später solche Inhalte Eingang in die Schulen.
1828 entsteht dann an der neuerbauten Elementarschule in der Töpferstraße eine erste Sonntagsschule mit vorwiegend weltlichem Lehrinhalt für Lehrlinge und Gesellen, mit Unterricht in Deutsch/Geographie, Zeichnen, Rechnen, ein Unternehmen der an der Schule beschäftigten Lehrer. Unterrichtet wurde an 40 Sonntagen im Jahr in der Zeit von 11.00 bis 1.00 Uhr. Mit der Einrichtung leitete dort Frau Selfisch, aus der berühmten Wittenberger Bürgerfamilie stammend, eine Ausbildung zur Stickerin, alle Teilnehmerinnen kamen aus dem städtischen Armenhaus.
Ihrem Einfluß war es auch zu verdanken, daß am 1.4.1829 im Armenhaus eine Industrielehrerin eingestellt wurde, mit dem Ziel, „eine lohnende Hausindustrie“ durch den Rat der Stadt zu fördern, und zwar, durch das Nähen einfacher Kleidung, die Herstellung von Stickereien, durch Strohflechterei, die Förderung des Strickens und Weißnähens. Das Erlernen des Weißnähens, des Zuschnitts und das Nähen von Kleidung und das private Lehren wurde bald zu einer Tradition, die sich in Wittenberg mehr als hundert Jahre gehalten hat.
Im Jahre 1858 gründete der Rektor der Elementarschule in Kemberg Ludwig Wilhelm Seyffarth die erste „Fortbildungsschule unseres Kreises, weil ihn … das Volk jammerte“ und man „… die in den unteren Ständen schlummernden Kräfte freimachen müßte.“ Er stand für das Entstehen von Gewerbeschulen für Lehrlinge und Gesellen ein, für eine „theoretische Lehre“ in den „Feierstunden“.
Naturwissenschaftliches Wissen war nach seiner Meinung notwendig, damit die jungen Menschen „… ihr Einwirken auf das Gewerbe klar auffassen.“ Seyffarth war Herausgeber der Werke Pestalozzis und wurde auf Grund seiner Verdienste anläßlich seines 70. Geburtstages Ehrendoktor der Universität Zürich.
Mit seinem Werk „Schulpraxis“, bei Göschen/Leipzig erschienen, leistete er wertvolle Beiträge zur Arbeitskunde. Vor allem waren seine Lehrplaninhalte aus seiner Kemberger Zeit bestimmend für die spätere Tätigkeit der Wittenberger Fortbildungsschulen. Das Fach Deutsch enthielt Aufsatzlehre, Diktate, Berichte, Quittungen, Schuldver-schreibungen, Rechnungen, einfache Buchführung, Schönschreiben, Kalligrafie. Das Fach Rechnen: Kopfrechnen, 4 Grundrechenarten, Bruchrechnung, Zeit- und Maß-rechnung, Zinsrechnung, Flächen- und Körperberechnung. Einige Stunden in Geographie stellten die Gewerbetätigkeit der anderen deutschen Länder vor; immerhin war Anhalt schon Ausland. Das allgemeine Zeichnen beinhaltete geometrisches und Freihandzeichnen, Konstruktionen, Zeichnen mit Reißfeder, Konstruktionen von Winkeln, Dreiecken, Vier- und Vielecken, die Bildung von Auge und Geschmack, das Kopieren von Vorlagen. Das spezialle Zeichnen wurde nach Gewerken getrennt, es beinhaltete das Abzeichnen von Vorlagen in veränderter Lage und Größe, Zeichnen nach verjüngtem Maßstab, Grund- und Aufrißzeichnungen nach vorangegangenen eigenen Messungen, Elemente der Projektionslehre, die Schattenkonstruktion, das Zeichnen in der Perspektive.
Diese Inhalte nahmen die Gründer des ersten Wittenberger Gewerbevereins 1864 bei der Gründung ihrer Schule im Jahre 1867 auf und verwendeten wiederum als Organisationsform die Sonntagsschule. Gründer waren der Bäckermeister Große, der Schmiedemeister Fischer, der Klempnermeister Lattolf, der Drechslermeister Kellner, der Brauereibesitzer Lysius und der Fotograf und Malermeister Döring. Der Fotograf Döring betrieb unter dem Einfluß von Hermann Krone, Professor für Fotografie am Königlichen Polytechnikum Dresden, selbst bis 1882 ein „Fotografisches Lehrinstitut“ und unterrichtete auch auswärtige Lehrlinge im Hause Collegienstraße 1. Einzelförderer der Neuen Gewerbeschule mit 69 Lehrlingen aus 18 Gewerken war der Rentier und Wittenberger Stadtrat Gartz, der beim Bankhaus Gröting ein Sonderkonto „Gewerbeschule“ aus eigenen Mitteln in Höhe von 1500 Goldmark einrichten ließ. Anläßlich einer Leistungsschau der Lehrlinge erläuterte er, warum er Förderer sein wollte: „Lehrlinge sollen… nicht nur Ablesen und Nachahmen, Wissen ist nicht nur eine Summe von Fähigkeiten,“ „…Handwerk muß vor allem auch mit dem Kopf betrieben werden…“, „…es ist mehr als mechanisches Vervielfältigen. Gewerbliche Tagesfragen sind Stoff zum Nachdenken, geeignet, Verstand und Selbständigkeit zeigen.“
Im Jahre 1888 entstanden im Handwerk und Gewerbe auf Initiative ihrer Innungen (es gab damals in Wittenberg 22) drei sogenannte berufliche Fachschulen für Barbiere und Friseure in der Töpferstraße, für Maler im Cranach-Haus Schloßstraße 1, für Schneider in der Töpferstraße. Bei den Friseuren gab es als Spezialität das Schröpfen und erste Hilfe im Gesundheitsdienst. Nach dem Neubau der Herberge zur Heimat für wandernde Gesellen wurden bis zum Jahre 1938 bis zu 87 Lehrlingen mit 6 Wochenstunden jeweils vom 1.10. bis 31.3. eines jeden Jahres gleichzeitig unterrichtet. Die Übungsmodelle im Saal der Herberge waren die wandernden Gesellen.
Die Fachschule für Maler bestand nur 6 Jahre. Als Spezialität wurden Fachkunde, Plastischmalen und Buntmalen vermittelt. Die Fachschule für Schneider bestand bis 1901, „Zuschneidekunst wurde im Selbstunterricht erteilt, und zwar die Messung der Proportionskonstruktionen der Bekleidung und die Darstellung von Proportions-konstruktionen an 56 Demonstrationsbeispielen.“
1889 entsteht im Nebengebäude der heutigen Wirtschaftsberufschule in Kleinwittenberg, Lugstraße, (1891 dann auch in Elster und Pretzsch) auf Initiative der Elbschiffer eine der 3 Schifferschulen in unserem Kreis. Über 400 Schiffseigner unseres Kreises ließen im Laufe der Zeit hier ihren Nachwuchs ausbilden, in Winterkursen von je 5 Monaten mit 30 Wochenstunden. In Kleinwittenberg wurden von 1889 bis 1914 427 Schiffer ausgebildet. Eine Fortbildung der Fischer bestand parallel bis 1947. Das Schulhaus war von 1890 bis 1908 auch Gemeindekirche und ab 1896 Schulort der ersten obligatorischen kommunalen gewerblichen Berufsschule für männliche Lehrlinge des Einschulungsjahres 1882 mit 44 Lehrlingen: die erste gewerbliche Schule in unserem Kreisgebiet mit einem durch die Gemeinde initiierten und bestätigten Ortsstatut.
1894 wurde die erste kaufmännische Fortbildungsschule auf Initiative der Kaufmannschaft in der Töpferstraße eingerichtet mit Unterricht im Winterhalbjahr und den Fächern Kaufmännische Buchführung (schon doppelte Buchführung), Kaufmännische Korrespondenz, Kaufmännisches Rechnen, Deutsch/Kalligrafie und Schriftverkehr für die männliche Jugend, weibliche Lehrlinge gab es erst ab 1938.
Einige Besonderheiten des Wittenberg Schulunternehmertums:
1. das Wittenberger Hebammenlehrinstitut,
2. die Landwirtschaftliche Winterschule zu Wittenberg,
3. die Gärtnerfortbildungsschule.
Zur Verbesserung der geburtshilflichen Versorgung und zur Senkung der Säuglingssterblichkeit entwickelte 1786 der Wittenberger Medizinprofessor Christian August Langguth Vorstellungen von einem Gebärhaus. Kursachsen beschloß daraufhin, bereits 1788 in Wittenberg und Leipzig zu diesem Zweck je ein Hebammenlehrinstitut einzurichten, in Wittenberg in einer inneren Beziehung zum Auditorium medicum und Theatrum anatomicum. Für eine dazu später vorgeschlagene Lösung reichte das Geld nicht aus, eine kommunale Lösung war aber bereits beschlossen, und zwar unter Beaufsichtigung durch das Sanitätscollegium der Universität. Gekauft wurde dann 1804 das Haus Schloßstraße 3; es wurde dann aber bis 1809 von den Franzosen als Kaserne benutzt und trotzdem im gleichen Jahr ein Ordinariat für Geburtshilfe an der Universität errichtet. Als eine Geste der Entschädigung für Wittenberg schließlich entstand ebenso wie das Predigerseminar 1817 das Hebammenlehrinstitut. Es nahm nach preußischem Recht ab Januar 1817 seine Lehrtätigkeit auf. Die erste Institutshebamme Charlotte Scheuerlein mußte den Hebammenschülerinnen zu Beginn noch das Lesen und Schreiben beibringen. Die Zahl der Schülerinnen schwankte zwischen 30 und 40; 1854 übernahm Dr. Ottomar Wachs das Institut. Dr. Ottomar Wachs war der Senior der verdienstvollsten Wittenberger Ärztedynastie, der medizinische Neuerungen in die
Ausbildung einführte: die Anwendung der Chloroformnarkose, die künstliche Geburtseinleitung, die Nahtversorgung bei der Dammverletzung während der Geburt und brachte auch das preußische Hebammenlehrbuch heraus. 1875 kaufte Dr. Wachs das Gebäude Schloßstraße 4 und konnte so sein Institut erweitern. Olga Gebauer, Lehrerin und Hebamme am Institut, wurde später Oberhebamme an der Berliner Charitè, sie gründete den deutschen Hebammenverein und brachte die Fachzeitung ihres Berufsstandes heraus. Ihr Leiter Dr. Ottomar Wachs gehörte zu den Medizinern Wittenbergs, die in die Geschichte der Medizin eingegangen sind.
Die Landwirtschaftliche Winterschule zu Wittenberg wurde am 1.11.1871 eröffnet. Gründer war der Landwirtschaftliche Kreisverein unter Vorsitz des Barons von Muschwitz vom Rittergut Gentha eines der Kuratoriumsmitglieder dieses Unternehmens war der Wittenberger Bürgermeister Dr. Schirmer. Die Schule entstand im Sinne der Lehren von Albrecht Thaer und Justus Liebig mit dem Ziel: Bestrebungen zur Entwicklung der Ökonomie der Landwirtschaft, der Verbesserung der Pflanzen- und Tierernährung und eine moderne Landwirtschaft überhaupt zu fördern. Sie setzte aber auch eine Tradition des Pastors August Müller aus Klebitz fort, der die ständige Unterweisung der Bauern bereits um 1750 forderte, um den ständigen Mißernten im Fläming vorzubeugen, und der selbst schon um diese Zeit die künstliche Düngung demonstrierte. Die Winterschule bestand bis 1949 und verstand sich bei ihrer Gründung als Bildungsstätte für die Söhne von kleinen und mittleren Landwirtschaften mit dem Bildungsauftrag, ihnen „… eine allgemeine und fachliche theoretische Bildung so weit zu geben, daß sie später Ursache und Wirkung der wichtigsten Erscheinungen in der Landwirtschaft erkennen und zu erklären vermögen, und diese Kenntnisse bei der Einrichtung ihrer Betriebe in zweckmäßiger Weise zu vermehren verstehen und demnach imstande sind, ihre Betriebe rationell zu führen.“ Eine erstaunlich präzise Aussage. Unterrichtet wurde über 2 Jahre in 5 Wintermonaten. Die Schüler dieser Schule wurden von den Wittenbergern liebevoll als ihre „Mistgabelstudenten“ bezeichnet. Von 1871 bis 1895 studierten 265 Preußen und 25 Ausländer, bis 1945 2960 männliche und ab 1935 254 nationalsozialistische Jungbäuerinnen.
Von 1946 bis 1949 gab es 234 männliche und 113 weibliche Absolventen. Die Kinder von Großbauern wurden nach 1945 ausgeschlossen. Ab 1933 gab es eine neue Zielstellung: „der Bauer ist des Führers Sohn, er ist Ernährer und Erneuerer des deutschen Volkes, wir erstreben eine Erziehung nach germanischem Maß.“
Der Sitz der Schule war zu Beginn der Zeichensaal der Bürgerschule Töpferstraße, später die Gaststätte „Balzers Festsäle“ und schließlich im Schulgebäude des Bankhauses Gröting in der Lutherstraße 9. Unter der Schirmherrschaft dieser Schule entstand unter Dr. Steinriede im Gefolge einer Gartenausstellung der Wittenberger Gemüsegärtner an der Schloßvorstadtschule Eichstraße 1881 eine Gärtner-Fortbildungsschule.
Unterrichtet wurde bei ständiger Unterstützung durch die Landwirtschaftliche Winterschule über 2 Jahre im Winter mit 6 Stunden, im Sommer mit 4 Stunden pro Woche. Träger war der Wittenberger Gartenbauverein. Gelehrt wurde in den Fächern Deutsch, Rechnen, Raumlehre, Feldmessen, Pflanzenkunde, Insektenkunde, Chemie, Bodenkunde, Düngerlehre und Obst- und Gemüsebau.
Über das Wittenberger Schulunternehmertum der vorangegangenen Jahrhunderte einerseits und das des 20. Jahrhunderts andererseits zu schreiben wären 2 gesonderte Themen. Bewußt wurde das obligatorische staatliche allgemeine Bildungssystem bei der Betrachtung ausgeklammert.
Quellen: Preußische Verfassungsurkunde vom 31.1.1850, Art. 2
aus: Wittenberger Bürgergeschichten
Dr. Wolfgang Senst †