1990.11.02. Mitteldeutsche Zeitung
120 eingetragene Vereine um 1930
Das Radio kam erst um 1930 in wenige Haushalte, bis zum Fernsehempfang war der Weg noch lang. In den 30er Jahren bis
zum Beginn des zweiten Weltkrieges 1939 verfügten die Bürger also fernseh- und radiofrei über den Feierabend in der Woche und dem Sonntag. So fanden sich die Wittenberger Städter und auch Dörfler in recht unterschiedlichen Vereinen aller Art zusammen. Zahlenmäßig dominierten natürlich. die Fußball- und andere Sportvereine für die Jugend und Förderer.
Sie trugen Namen wie „FC Preußen Pratau“, „FC Rasensport“, Anglerclub „Neptun“ und Schützenverein Tell“.
Vier Radfahrervereine hielten sich in dieser autolosen Zeit mit den Namen „Fahr wohl“, „Sturmvogel“ „Victoria“ (Dobien) und sogar „Urania“ und „Solidarität“.
Vom Tennis bis Boxen, Schwimmen, Rudern und Schießen standen 29 Vereine zur Auswahl für Interessenten.
Sie waren alle auf Eigenfinanzierung angewiesen, die Mitglieder zahlten nicht nur Beiträge, sondern waren selbst verantwortlich für Bekleidung, Geräte und Fahrkosten zu Vergleichen und Wettbewerben.
Viele Vereine nutzten Gaststätten, Säle zum Treff und zum Sporttreiben. Ausnahmen bildeten z. B. der starke Männerturnverein von 1862 mit eigener Turnhalle in der Jahnstraße, der KTV mit Standort Stadion Wallstraße. Der KTV, ab 1933 Kursächsischer Turnverein, mit dem Förderer Arthur Lambert und den damaligen Leichtathleten von Rang wie Syring, Schönrock, Böttcher u. a
In Piesteritz nutzte die Turn- und Sportbewegung unter Max Kulms hervorragende Sportanlagen im Volkspark und in den Schulen. Die Piesteritzer Turnhalle an der Mädchenschule war weit und breit die modernste Anlage, mit indischem Korklinoleum belegt, mit Rundlauf- und versenkbaren Reckanlagen. Als eine der ersten Einrichtungen Deutschlands mit Ölbeheizung und Warmwasser-Duschräumen für alle. Die Piesteritzer Jugend konnte alle Anlagen kostenfrei nutzen. Die Gemeinde war nicht kleinlich bei Zuschussen bis zum Klavierspielerhonorar für Abendgymnastik in der Halle.
Zum Vereinsleben gesellten sich zu den 29 Sportvereinen 16 Gesangvereine zwei Damenchöre, einige gemischte Chöre, aber überwiegend Männerchöre zählte man. Einige Namen lauteten „Postalia, „Lyra“, „Liedertafel“, „Borussia“ und „Typographia“. Musizieren konnten die Wittenberger auch in einem Zitherverein und in einem Turner- Spielmannszug. mehr war hier nicht.
Die damals hier eingetragenen Vereine waren nicht nur sportlich oder musikalisch determiniert.
Da Wittenberg lange Zeit Garnisonsstadt war und demzufolge auch traditionell Kriegs- und Soldatenruhm gepflegt wurden, gab es die hohe Zahl von Krieger- und Militärvereinen aller möglichen Waffengattungen und Regimentsnummern von Infanterie bis Marine. Darunter befanden sich Vereine ehemaliger Kriegsgefangener oder alter Kolonialkämpfer.
Weitaus segensreicher und allgemein nützlicher wirkten viele christliche Männer-, Frauen- und Jugendvereine in Stadt und Land. Auch die Rot-Kreuz- Vereine einschließlich Arbeiter- Samariter-Bund, wirkten im Territorium verteilt.
Die deutsche Wiederaufrüstung und Kriegsvorbereitung ab 1935 brachte neue paramilitärische Vereinigungen und Zentralisierungen für Luftschutz. Technische Nothilfe und Wehrsport aller Art hervor. Das Sportgeschehen überwachte der neue Dachverband „Reichsbund für Leibesübungen“.
Mit dem Kriegsbeginn erloschen die vorab genannten Vereinsaktivitäten mehr und mehr bis zum völligen Zerfall im totalen Krieg und 1945.
Das Nachkriegs-Hunger- und Existenztief, das unsere Generation durchstehen mußte, wurde nur allmählich überwunden. Allmählich packten Pioniere wenigstens die sportliche Vereinigung interessierter Menschen wieder an.
Militärvereine waren sofort durch alliierten Befehl verboten
Wieviel Traditionen sich nach der zentralen Steuerung heute in der Freiwilligkeit wieder beleben ist noch offen.
Franz Willer