Der Engel im Südturm der Stadtkirche
Steigt man den Turm hinauf, hängt in einem leeren Raum ein Engel an der unverputzten Wand. Bekannt war, dass diese Skulptur etliche Jahre im Inneren der Stadtkirche St. Marien hing. Der Engel »schwebte« an der Decke auf Höhe der Orgelempore. Davon ist immerhin ein Schwarz-Weiß-Foto erhalten, das in der von Oskar Thulin verfassten Broschüre »Die Lutherstadt Wittenberg und ihre reformatorischen Gedenkstätten« abgebildet ist.
Nach umfangreichen Erneuerungsarbeiten in und an der Stadtkirche im Jahr 1928 gab es am 16. Dezember eine Einweihungsfeier mit einer Ansprache des Superintendenten Maximilian Meichßner sowie einer Reihe von Reden, unter anderem vom Berliner Ministerrat D. Hiecke, Oberbürgermeister Wurm
und dem Architekten Prof. Erich Blunck, der die Umbauten geleitet hatte.
Über dieses Ereignis berichtete das »Wittenberger Tageblatt« am 18. und am 19. Dezember 1928 im Beiblatt sehr ausführlich. Aus dem mehrseitigen Bericht geht hervor, dass ein »Professor Hosäus« einen »mächtigen Luther« und einen »zarten Engel« geschaffen hatte, wofür ihm während der Einweihung öffentlich gedankt wurde.
Prof. Meichßner sagte wörtlich: »Beide Werke werden von Ihrer Meisterschaft künden und eindrucksvoll zu den Menschen reden.«
Das hier erwähnte Luthersteinbild in Überlebensgröße wurde später lapidar als »Luther in Boxerhaltung« bezeichnet und – ebenso wie der Engel – bei der vorletzten umfangreichen Renovierung der Stadtkirche in den Jahren 1953 bis 1955 aus dem Kirchenschiff entfernt.
Der Bildhauer Hermann Kurt Hosaeus, der den Engel schuf, stammte aus Eisenach, wo er 1875 geboren wurde. Nach dem Besuch der Kunstgewerbeschulen in Dresden und Nürnberg und einem Studium an der Kunstakademie München gehörte Hosaeus
ab 1896 zur Berliner Kunstakademie. Ab 1918 lehrte er an der Technischen Hoch-schule Berlin, wo auch Erich Blunck als Dozent tätig war. Hosaeus schuf zahlreiche Kleinplastiken, Medaillen und Kriegerdenkmäler. Zu seinen besten und zugleich öffentlich zugänglichen Schöpfungen gehören der »Mozartbrunnen« [1907] in Dresden und das »Löwendenkmal« [1926] in Bad Kösen. Hermann Kurt Hosaeus starb am 26. April 1958 in Berlin.
Nachdem der Engel über Jahrzehnte verstaubt in einer Ecke lag, erlöste Kirchmeister Bernhard Naumann ihn 2015 aus seinem Schattendasein. Mit Seilen und vereinter Muskelkraft wurde die etwa vier Quadratmeter große Skulptur innerhalb des Südturms durch einen geöffneten Zwischenboden nach oben gezogen und an der Wand befestigt. Foto: Bernhard Naumann
Noch unbeantwortet ist die Frage, ob der Engel eine Chance hat, ins Kircheninnere zurückzukehren. Vielleicht ist er ja bei der nächstfälligen Sanierungsmaßnahme wieder genehm. Ansonsten wird es ein Privileg sein, ihn in voller Größe und Schönheit im Südturm der Stadtkirche betrachten zu können. Dazu muss man die Treppen des Südturms erklimmen, was allerdings nur am Tag des Offenen Denkmals und in Ausnahmefällen nach vorheriger Anmeldung möglich ist. Der Aufstieg lohnt sich. Die richtigen Ansprechpartner dafür sind der Wittenberger Heimatverein und die Stadtkirchengemeinde.
Quelle: Wittenberg – alles außer Luther;
Mathias Tietke; Mitteldeutscher Verlag