Vortrag – Ein Gang durch die Geschichte der Stadt Wittenberg

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Lutherstadt Wittenberg dankt Ihnen, dass sie dieses Jahr
unsere Stadt zum Tagungsort Ihres Bundes gewählt haben.
Sie konnten keinen würdigeren Rahmen für Ihre Tagung finden.
Das Ziel Ihres Bundes ist: die evangelische Erziehung in Haus
und Schule zu pflegen und zu fördern.
Hier aber in der Stadt Martin Luthers liegen die Quellen und Wurzeln der Erziehung im christlich-evangelischen Geist.

Wittenberg!
Wem tauchte beim Klange dieses Namens nicht die Erinnerung
auf einen jene größte Zeit deutschen Geisteslebens,
die Erinnerung an die Reformation, die den Namen unserer
Stadt bekannt und berühmt gemacht hat in aller Welt!

Auf Schritt und Tritt begegnen wir ihren Spuren, und wenn auch
die Menschen schweigen wollten, so würden doch die Steine laut und vernehmlich reden von jener gewaltigen Epoche deutscher Geschichte und von denen, welche die Träger dieser großen Vergangenheit sind – von Luther und seinen Mitstreitern.

Und so denke ich, werden Sie mir gerne folgen, wenn ich Sie
bitte, mit mir einen Gang durch die wechselvolle Geschichte
unserer Lutherstadt anzutreten, der freilich bei der Kürze der
mir zugemessenen Zeit nur sehr kurz sein kann.

Bereits in der Hohenstauferzeit begegnen wir den ersten Spuren Wittenbergs. Vermutlich ist der Ort im Jahre 1174 gegründet; urkundlich wird sein Name zuerst 1180 genannt.

In langen und schweren Kämpfen hatte der askanische Markgraf Albrecht der Bär auch unsere Gegend den Sorben abgerungen.
In das entvölkerte Gebiet berief er Ansiedler aus den Niederlanden, besonders aus der Provinz Flamland, die hier eine emsige Tätigkeit entfalteten. Von ihnen wurde auch unser Ort gegründet und nach den weißen Sandhügeln am Elbufer Wittenberg oder Weißenberg genannt (witt= niederdeutsch weiß).
Der Ort entstand neben einem zum Schutz des Landes dienenden Burgwart. Noch heute hält der nahe Landrücken Fläming in
seinem Namen das Andenken an die niederdeutschen Gründer
der Stadt Wittenberg fest.

Nach dem Tode Albrecht des Bärens teilten sich dessen Söhne in
das Erbe. Bernhard erhielt die anhaltischen Stammlande nebst
dem späteren Kurkreise. Im Jahre 1179 verlieh ihm Kaiser Friedrich Barbarossa außerdem den östlichen Teil des Herzogtums Sachsen, dass dem treulosen Herzog Heinrich dem Löwen abgenommen wurde. Bernhard wohnte bereits zeitweilig in Wittenberg,
wo er sich ein Schloss bauen ließ. Da er sich von seinen Brüdern durch ein besonderes Wappen unterscheiden wollte, so fügte der Kaiser auf seine Bitte dem alten Askanier Wappen, das aus fünf schwarzen Balken im goldenen Felde bestand, den sächsischen Rautenkranz bei, der nichts anderes als die Herzogskrone bedeutet. Von dem schwarz goldenen Wappen der Askanier stammen die Wittenberger Stadtfarben wie die Farben unserer Provinz Sachsen.

Auf Bernhard folgte sein Sohn Albrecht I., der sich zuerst Herzog von Sachsen, Engern und Westfalen nannte. Seine fromme Gemahlin Helene erbaute da, wo sich jetzt der Arsenalplatz befindet, das Franziskanerkloster, in dessen Kirche die Nachkommen Albrechts beigesetzt wurden. Bei den im Jahre 1883 vorgenommenen Nachforschungen fand man dort die Überreste von 27 Leichen, die in Särge gebettet und nach der Gruft der Schlosskirche überführt wurden.

Albrechts Sohn und Nachfolger Albrecht II. erhob 1293 Wittenberg zur Stadt und schlug hier dauernd seinen Wohnsitz auf. Unter seinem Sohne Rudolf I. wurde Sachsen-Wittenberg zum Kurfürstentum erhoben und seinem Balkenwappen die roten Kurschwerter beigefügt. Mit Albrecht III. starb das Geschlecht der Askanier im Kurkreise aus, dass fast 300 Jahre im Segen über Wittenberg regierte.

Kaiser Sigismund verlieh 1423 das Kurfürstentum als erledigtes Reichslehen Friedrich dem Streitbaren aus dem Hause Wettin.
Ihm folgte in der Regierung sein Sohn Friedrich der Sanftmütige
und diesem sein Sohn Ernst, der 20 Jahre gemeinsam mit seinem Bruder Albrecht regierte. Im Jahre 1485 wurde eine Teilung der Länder vereinbart bei welcher Ernst Thüringen mit der Residenz Weimar und den Kurkreis erhielt. Die ersten Wettiner wohnte
nicht in Wittenberg; erst der berühmte Friedrich der Weise
nahm hier zeitweise Wohnung.

Dem edlen, milden und gerechten Friedrich dem Weisen
(1486 – 1525) hat die Stadt Wittenberg viel zu verdanken.
Er erbaute hier von 1490 – 1499 das Schloss und neben diesem
die Schlosskirche. Auch ließ er anstelle der durch Hochwasser zerstörten Holzbrücke eine festere Brücke über die Elbe schlagen. Im Jahre 1502 gründete er die Universität die vor allem durch Luther und Melanchthon so berühmt wurde, dass – noch allerdings unbeglaubigten Meldungen – die Zahl ihrer Studierenden über
2900 betrug. Unter dem mächtigen Schutze Friedrichs des Weisen konnte Martin Luther sein Werk beginnen und vollenden. Auch Friedrichs Nachfolger, Johann der Beständige (1525 – 1532) und Johann Friedrich der Großmütige (1532 – 1547) traten offen und mutig für die Reformation ein. Letzterer wurde bekanntlich in der Schlacht auf dem Lochauer Felde am 24. April 1547 von Kaiser Karl V. besiegt und gefangen genommen. Er verlor das Kurfürstentum, mit dem der Kaiser seinen Vetter Moritz von Sachsen belehnte. So kam Wittenberg an dem Ernestinischen an die Albertinische Linie. Bei dieser verblieb es bis zum Jahre 1814, wo es unter preußische Verwaltung kam. Am 21. Mai 1815 wurde es endgültig dem preußischen Staate einverleibt.

Schon frühzeitig war Wittenberg mit Wall und Mauern umgürtet worden. Friedrich der Weise ließ die Stadt noch stärker befestigen, und zur Zeit Johann Friedrichs galt sie als eine der stärksten Festungen. Diese Wehrhaftigkeit aber war für die Stadt und Einwohner die Quelle vieler Leiden. So belagerten im Hussitenkriege die Hussiten 1429 Wittenberg und steckten die Vorstädte in Brand. Schwer musste die Stadt auch im Dreißigjährigen Kriege leiden. Die Vorstädte wurden niedergebrannt und viele der umliegenden Dörfer zerstört.
Noch größere Drangsale brachte der Siebenjährige Krieg.
Nach wiederholten Einschließungen wurde die Stadt am 13. Oktober 1760 heftig beschossen. Hierdurch wurden in der
inneren Stadt allein 132 Häuser völlig zerstört und 181 schwer beschädigt. In den Vorstädten in Schutt und Asche. Hart mitgenommen wurden vor allem Schloss und Schlosskirche,
von denen nur noch die Umfassungsmauern stehen blieben.
Die denkwürdige Tür, an welche Luther am 31. Oktober 1517
seine 95 Thesen schlug, wurde ein Raub der Flammen.

Die ganze zur Fülle des Unglücks aber brachten der schwer geprüften Stadt die Jahre 1813 und 1814. Kurfürst Friedrich August von Sachsen war nach der für Preußen so unglücklichen Schlacht von Jena und Auerstädt auf die Seite Frankreichs getreten.
Für diese Willfährigkeit erhob ihn Napoleon I. zum Könige.
Die Stadt Wittenberg aber, die man dem fremden Eroberer einräumte, musste die Rechnung dafür zahlen. Napoleon erschien
in eigener Person in der Festung und ließ diese erheblich verstärken. Vom Januar 1813 ab wurde diese immer stärker mit französischen Truppen belegt, die sich gegen die Bewohner die größten Bild Willkürakte erlaubten (reformatorische Gedenkstätten: Luthereiche, Schlosskirche, Universität). Bereits im April 1813 schlossen die Preußen die Festung ein und beschossen sie. Zeitweilig wurde die Belagerung wieder aufgehoben, aber im September wurde die Stadt wiederum eingeschlossen und sechs Tage lang aufs heftigste beschossen. Hierbei fiel auch der Turm der Schlosskirche samt seinem schönen Glockengeläut zum Opfer. Nachdem die Preußen für kurze Zeit abgezogen waren, belagerten sie Wittenberg nach der Völkerschlacht bei Leipzig unter General von Dobschütz und dem Oberbefehl des Generals von Tauentziehen unterbrochen. Damit stieg die Not der Einwohner ins Ungemessene. Da der französische Gouverneur Lapoype sich beharrlich weigerte, die Festung zu übergeben, so wurde diese nach heftiger Beschießung in der Nacht zum 12. zum 13. Januar 1814 von den Preußen erstürmt. Durch diese letzte Belagerung waren 285 Wohnhäuser zerstört worden – 32 in der inneren Stadt und 253 in den Vorstädten. Unter der Willkür der französischen Besatzung hatte namentlich die Universität schwer leiden müssen, deren Gebäude man rücksichtslos für militärische Zwecke beschlagnahmte. Professoren und Studenten hatten die Stadt verlassen und sich nach anderen Orten begeben.
Im Jahre 1815 wurde die Alterung von Wittenberger Hochschule völlig aufgehoben und 1817 mit der Universität Halle vereinigt.
Als Ersatz gründete König Friedrich Wilhelm III. von Preußen am
1. November 1817 das Wittenberger Predigerseminar.

Da die Festungswerke den neuzeitlichen Ansprüchen nicht mehr genügten, so befahl Kaiser Wilhelm I. am 30. Mai 1873, Wittenberg zu entfestigen. Dadurch wurde es der Stadt möglich, sich auszudehnen und zu entwickeln. Die Festungsgräben wurden größtenteils ausgefüllt und samt den Wällen in Anlagen umgewandelt, wie sie nicht viele Städte aufzuweisen haben. Darüber hinaus entstanden neue Stadtteile mit schönen Straßen; Handel und Industrie nahm lebhaften Aufschwung.

Einen Glanzpunkt in der neueren Geschichte Wittenbergs bildet die Feier des 400-jährigen Geburtstag Martin Luthers im Jahre 1883, mit der die Eröffnung des Reformationsmuseums (Lutherhalle) verbunden wurde. Noch glanzvoller gestaltete sich die Einweihung der erneuerten Schlosskirche am 31. Oktober 1892 in Gegenwart Kaiser Wilhelms II. und der evangelischen Fürsten Deutschlands.

Als Garnisonsstadt hatte Wittenberg am Weltkriege besonderen Anteil: und die vom Beginn bis zum Ende des Krieges dauernde starke Einquartierung legte der Bürgerschaft überaus große Opfer auf, die aber von deren vaterländischen Sinne willig gebracht wurden. Zehn Säle der Stadt wurden zu Reservelazaretten eingerichtet und mit verwundeten Kriegern belegt. Für die, welche hier ihren Wunden erlagen, wurde auf dem Friedhofe ein Ehrenfriedhof geschaffen, der 185 Gräber umfasst! Im Westen der Stadt erhob sich ein umfangreiches Gefangenenlager, in dem rund 16.000 Kriegsgefangene – Franzosen, Belgier, Engländer und Russen – Aufnahme fanden. –

Einen herben Verlust erlitt das wirtschaftliche wie das gesamte Leben Wittenbergs durch die durch das Schanddiktat von Versailles gezwungene Auflösung seiner Gangversion – des 20. Infanterieregiments Graf Tauentzien und der 3. Abteilung des Torgauer Feldartillerie Regiments Nummer 74. Das Anwachsen der Industrie, insbesondere der Stickstoffwerke, in den westlichen Vororten hat diesen Verlust nicht auszugleichen vermocht.

Der Weltkrieg hat auch sonst hindernd in die Entwicklung
unserer Stadt eingegriffen. Wegen Mangel an Geldmitteln
musste der Umbau des alten Rathauses unterbleiben,
zudem schon die Pläne fertig vorlagen.
Aus dem gleichen Grunde unterblieb die so wünschenswerte Verschönerung der Stadtkirche – der Predigtkirche Luthers
und Mutterkirche der Reformation.
Doch wird diese durch die im Bau begriffene Ehrenhalle für
die im Kriege gefallenen Söhne unserer Stadt einen anziehenden und wertvollen Schmuck erhalten.
Zurückgestellt werden musste auch der Bau der elektrischen Überlandbahn, welche unsere Stadt mit den westlichen
Vororten verbinden soll.

Trotz der Ungunsten der Geschichte hat Wittenberg aber nicht gerastet, hat nicht auf den Lorbeeren seiner großen Vergangenheit geruht. Was mit den beschränkten Mitteln noch immer möglich war, ist auch in den Jahren nach dem Kriege geleistet worden. Das bezeugen unter anderem die städtischen Wohnungsneubauten, die neue Pflasterung verschiedener Straßen und Verschönerung der Anlagen, von denen die an sehr Luthereiche gegenwärtig im Vordergrund des Interesses stehen.

Für die Zukunft liegen eine Anzahl weitreichender Pläne vor, und wir dürfen hoffen, dass diese bei Befriedigung der Stadt in nicht ferner Zeit verwirklicht werden.

In kurzen Strichen habe ich Ihnen die Geschichte unserer Stadt gezeichnet. Sie führt, wie die Geschichte unseres deutschen Volkes über Höhen und Tiefen. Sie wird – so hoffen wir – wie in der Vergangenheit so auch jetzt wieder aus Nacht zum Licht führen. Auch heute wirkt die Geschichte am Webstuhl der Zeit noch wissen wir nicht, welche endgültigen Formen das Werk ihrer Hand für unsere Stadt und für unser deutsches Volk haben wird. Aber eins ist uns Gewissheit: alle Macht, alle Lügen und Ränke unserer Feinde werden am Felsen der Wahrheit zerschellen, die hier vor 400 Jahren am Bollwerk des Evangeliums und dem Glaubensmute Luthers zerschellten.

Gerade in dieser Zeit der Not erinnert sich unser Volk mehr als je seines Luther, der ihm in dem schweren Ernst dieser Tage Vorbild und Bannerträger sein will, und den es daher in dieser Notzeit besser verstehen lernte als je zuvor. Und wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart und Zukunft halten und stärken wir uns an seinen glaubensmutigen Worten, die uns von der Kuppel unserer Schlosskirche entgegen leuchten:

Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen!

Möge sein Geist und Vorbild auch die Verhandlung ihres Bundes durchziehen und leiten und durch sie Luthers Prophetenwort Wahrheit werden:

Das Reich muss uns doch bleiben!

Richard Erfurth †

aus: Ein Gang durch die Geschichte der Stadt Wittenberg

Vortrag gehalten bei der Tagung des Provinzialverbandes des
Bundes – Haus und Schule am 10.10.1924