1928.06.30. Unser Heimatland
Inmitten unseres Vaterlandes, dort, wo der märkische Sand aus des Heiligen römischen Reiches Zeiten über der Erde liegt, und wo der Wind über Kiefern, dürftige Felder und nochmals Kiefern streicht, steht auf einem Berge, der sich hoch über die Ebene erhebt, das Gemäuer einer alten Burg, des Rabensteines. Um die Ruine stehen hohe düstere Kiefern und Tannen, die sie dem Auge verbergen, bis man fast gegen die Mauern streicht. Durch die Luft ziehen im ewigen Winde schwarze Raben seit altersher. Nach ihnen heißt die Burg der Rabenstein.
Die Kiefern und Tannen und Birken recken ihre Wipfel zur Höhe. Sie eifern dem Bergfried und den beiden alten Tannen nach, deren Spitzen die Schlußsteine des Turmes beschatten. Es raunen die Bäume auf dem Bergabhange des Rabensteins einander zu, bis weit ins Tal hinein, und die beiden uralten Tannen schütteln ihre Wipfel. Es ist eine Mär gewoben um das alte Gemäuer, von altersher.
In der Burg lebte in längst vergangenen Zeiten ein gar wilder Jägersmann, Herr Dietrich von Rabenstein. Er hatte eine edle Dame zum Ehegemahl, von deren Schönheit und Sittsamkeit manch artiges Liedlein gar weit und breit gesungen ward. Die Burgherrin hielt auf dem Rabenstein einsam Haus mit ihrem schönen Töchterlein Mechthild. Sie verzehrte sich vor Gram und starb noch jung an Jahren, denn Herr Dietrich folgte ihren inständigen Bitten nicht, sondern zog auf seinen Jagdfahrten weit ins Land hinein.
Nach dem Tode seiner Gemahlin wurde es noch schlimmer mit ihm, und er war kaum jemals zuhause. Das junge Burgfräulein, das an Schönheit und Gesittung seiner Mutter glich, aber war sich ganz allein überlassen.
Auf einer Hatz, die er bis in die Gegend von Treuenbrietzen unternahm, lernte der Herr von Rabenstein eine schöne Bürgerstochter kennen. Der eigenartige Reiz des Mädchens nahm den Ritter gefangen. Ihren Künsten gelang es bald, Herrn Dietrich zu umgarnen und vollkommen in ihren Bann zu legen. Sie hieß Helene Rietz und hatte einen bösen Sinn. In ihrer Valerstadt Treuenbrietzen munkelte man von ihr, daß ihr eine böse Macht zur Seite stände.
Eines Tages zog denn auch die Helene Rietz als rechtmäßige Herrin auf dem Rabenstein ein. Für das Burgfräulein begann von da ab eine böse Zeit. Die Stiefmutter erkannte nämlich, daß die Schönheit des Fräuleins eine reine und edlere war als die eigene. Sie versuchte deshalb, ihren Sinn auf das Böse zu lenken. Fräulein Mechthild aber ließ sich von den Künsten der bösen Frau nicht verwirren, sondern bewahrte sich ihre reine Seele.
Herr Dietrich von Rabenstein lag unterdessen noch immer in den Netzen seiner zweiten Frau. Er war ihr in allem zu Willen und erkannte nicht mehr, ob es gut oder böse war, was zu tun sie ihn bestimmte. Mit der Zeit aber wurde die Treuenbrietzerin seiner überdrüssig und hatte sich unter dem Gefolge ihres Gemahls einen Liebhaber erwählt. Ihr Ehegemahl stand ihr im Wege. Sie vergiftete ihn daher mit dem Safte des roten Fingerhutes und war nun die alleinige Herrin der Burg. Für das Burgfräulein wurde die böse Zeit noch ärger. Die Stiefmutter wollte sie auch gar gerne verderben. Als der Junker Otto von Lypzk um die Hand der Burgjungfrau anhielt, wurde er von der bösen Stiefmutter mit Spott und Hohn abgewiesen. Der Junker aber liebte das Burgfräulein und sie ihn wieder. So beredeten denn die Beiden, wie sie sich von der bösen Stiefmutter befreien könnten.
Kurz darauf kam der junge Ritter mit seinen Mannen des Nachts vor bie feste Burg. Des Burgfräuleins Güte und Sittsamkeit hatte sich unter der Besatzung der Burg manch ehrliches Herz zum Freunde gewonnen. Von diesen wurde der Ritter mit seinem Gefolge durch einen unterirdischen Gang in die Burg hereingeführt. Die böse Frau wurde samt ihrem Anhang erschlagen. Ihre verruchten Taten fanden die verdiente Strafe. Der Junker Otto von Lypzt aber nahm Besitz von der Burg und heiratete das Fräulein Mechthild. Es begann eine bessere Zeit für den Rabenstein, denn das junge Paar bewies seinen edlen Sinn durch manche gute Tat. – –
Noch immer aber raunt die Mär von der bösen Frau durch die düsteren Tannen und die Mauern der alten Burg. Denn ihr Geist ist an die Stätte ihrer Untaten gebannt, und das Wort zu ihrer Erlösung wissen nur die beiden hohen Tannen und der Bergfried. Die drei aber haben darüber einander unverbrüchliches Schweigen gelobt.
Eine Mär aus alter Zeit von H.P. Walter