Hubertusberg

1924.08.27. Wittenberger Zeitung
Wanderung zum Hubertusberg

Ein Waldmärchen 
Die Zeit der Ferien nach der anstrengenden Arbeit eines ganzen Jahres war da. Es war nötig, daß ich einmal ausspannte und mich erholte. Aber wer kann jetzt eine weite Reise machen? Ich mußte schon in der Nähe bleiben, wollte doch aber auch gern etwas Neues kennen lernen. Da war guter Rat fast ebenso teuer als das Leben in dieser kostbaren Zeit. Ich klagte einem Freunde meine Not.
„Kennst du denn den Fläming?“ fragte er.
Die Sandhaufen da drüben über der Elbe ? Nein!“ antwortete ich geringschätzig. Wie kann man so absprechend urteilen über etwas, das man nicht kennt. Glaub‘ mir, das ist was für dich. Herrliche Wälder, noch nicht von der Kultur beleckt und darum auch noch nicht mit Sommerfrischlern überschwemmt. Und überall historischer Boden. Verfallene Dorfstätten und Kirchen. Alte, zur Abwehr der Wenden und Slawen errichtete Schlösser, wie der Rabenstein und das Dornröschenschloß in Wiesenburg. Geh hin, du wirst es nicht bereuen. Bescheidene Verpflegung und Unterkunft findest du überall.“
Das lockte. Ich besann mich nicht lange, packte meinen Rucksack und saß bereits am nächsten Morgen auf der Bahn. Ich fuhr bis Coswig, denn ich wollte von Süden nach Norden wandern. Mein erstes Ziel war der Hubertusberg. Ueber ihn finden sich in der Lindnerschen Chronik, die ich schnell noch zu Rate gezogen hatte, folgende Angaben: Eine halbe Stunde südöstlich von Wörpen, eine viertel Stunde von Möllensdorf, liegt der Butzberg (oder Burzberg, nach einigen Budsberg), seit dem Herbst 1832 Hubertusberg genannt, der höchste Hügel in der Umgebung (142 Meter), auf dem der letzte Fürst von Anhalt-Zerbst, Friedrich August, 1764 ein kleines Lustschloß mit einem Turme hat erbauen lassen. Daneben ist die Wohnung des Aufsehers. Von diesem oft besuchten Berge hat man eine schöne und weite Aussicht, besonders auf das jenseitige Elbufer, nicht nur auf Coswig, Wittenberg, Wörlitz, sondern bei heiterem Himmel auch nach Torgau, dem Petersberg, Zerbst und Magdeburg hin. Ehemals war der Berg mit Wein, jetzt ist er mit Obstbäumen besetzt. Entfernung von Koswigk (Coswig), von wo eine Pappelallee, zum Teil Chaussee, hierherführt, ein und eine halbe Stunde, von Wittenberg zwei gute Stunden.
Die Pappelallee ist längst verschwunden. Man ist auch jetzt nicht mehr gezwungen, die Fahrstraße zu gehen, sondern hat die zwischen ihr und dem weit schönern, schattigen Bismarksteig. Ich zog den letzteren natürlich vor, und was ich da sah, zwang mich schon in mich zu gehen und mein Urteil über die „Sandhügel“ zu bereuen. Auf dem Hubertusberg selbst gefiel es mir so, daß ich beschloß mindestens einen Tag zu verweilen. Der Wirt gab mir aber zunächst einen Korb: Bei den schlechten Zeiten sei er nicht auf Nachtgäste eingerichtet, er könne mir gar nichts bieten. Erst als ich erklärte, daß ich gar keine Ansprüche mache, mit jeder Kost und dem einfachen Nachtlager zufrieden sei, willigte er ein. Selten habe ich in mein Leben eine so angenehme Enttäuschung erfahren, denn ich bin, das gleich vorauszuschicken, auf der Reise fast nie so gut verpflegt worden wie hier. Dazu bekam ich ein freundliches Eckzimmer mit zwei Fenstern, das eine nach Norden mit Aussicht auf den Wald, das andere nach Osten auf Felder und bewaldetes Hügelland. Ich packte meinen Rucksack aus und brachte meine paar Habseligkeiten im Zimmer unter. Meine kleine Schreibmappe, von der ich mich nie trenne, legte ich auf den Tisch und stellte das Reisetintenfaß daneben. Mechanisch zog ich den Tischkasten auf. Da lagen ein paar Münchener und Dresdener Zeitungen aus dem Jahre 1921. Ich nahm sie heraus, um einmal hineinzusehen. Dabei entdeckte ich darunter eine Anzahl engbeschriebener Blätter, zusammengehalten durch ein Streifband, dem geschrieben stand: „Ich schrieb einst flüchtig auf, was mir begegnete. Ich weiß, ich werde mich nie dazu aufraffen, diese Skizzen auszuführen. Lieber Unbekannter, der du sie findest, schalte mit ihnen nach deinem Belieben.“
Diese seltsame Widmung machte mich neugierig. Ich steckte die Blätter ein und ging in den Wald. Auf einem schattigen Plätzchen begann ich zu lesen. Es waren mehr oder minder ausgeführte Naturschilderungen, phantastische Bilder und Träumereien, manches nur mit wenigen, treffenden Worten angedeutet. Ich las in einem Zuge von Anfang bis Ende. Für mein Leben gern hätte ich gewußt, wer der Verfasser sei. Als ich gegen Abend ins Gasthaus zurückkam, erkundigte ich mich beim Wirt, wer denn vor mir in dem Zimmer gewohnt habe.“
So viel ich mich erinnere nur ab und zu ein Jagdpächter,“ war seine Antwort.
Ich erzählte ihm von meinem Funde und deutete ihm den Inhalt an. Glauben Sie, daß einer von den Herren so etwas geschrieben haben könnte?“
„Das halte ich für ausgeschlossen,“ meinte er lachend.
„War denn auch so vor zwei bis drei Jahren niemand anders hier?“
„Vor zwei bis drei Jahren : Richtig , jetzt erinnere ich mich. Das war so eine Art Sonderling, der fast gar nicht sprach, sich hier aber sehr wohl fühlte, den ganzen Tag im Walde lag und nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen ins Haus kam. Er war sogar mehrere Male hier. Vor zwei Jahren zum letzten Male. Als er sich verabschiedete, war er zum ersten Male gesprächig. Er sagte, er werde voraussichtlich sobald nicht wieder kommen, denn er gehe nach Süddeutschland und denke dort zu bleiben.“
Ich zeigte dem Wirt nun die Blätter und den Umschlag und fragte, ob er irgendwelchen Anspruch darauf erhebe.
„Was soll ich denn damit?“ sagte er. „Die Blätter haben zwei Jahre da oben im Tischkasten gelegen, ohne daß sich jemand darum gekümmert hat. Wenn Sie sich dafür interessieren, nehmen Sie sie ruhig mit. Der Verfasser hat sie dem glücklichen Finder ja förmlich testamentarisch vermacht, das sind zweifellos Sie! Also gehören sie Ihnen!“
So durfte ich die Blätter also als mein rechtmäßiges Eigentum ansehen. Ich blieb noch einige Tage dort, und es gelang mir nach den Schilderungen leicht, die Schauplätze im Walde aufzufinden. Ich versuchte mich an Ort und Stelle in des Verfassers Gedankenwelt zu versetzen, die einzelnen, mosaikartigen Skizzen zu ordnen und zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzupassen.
Dieses Bekenntnis vorauszuschicken, war ich mir selbst und dem unbekannten Verfasser schuldig. Nun hat er das Wort:

Ich saß , nachdem ich oben im Zimmer den Reisestaub abgeschüttelt hatte, in leichter Joppe auf der offenen Veranda des freundlichen „Gasthauses zum Hubertusberg“, duftenden Kaffee, Butter, Honig und kräftiges Landbrot vor mir. Der Weg herauf am frühen Nachmittage des heißen Augusttages hatte mich erschöpft und hungrig gemacht. Während ich meine schmackhafte Mahlzeit verzehrte, hingen meine Augen an dem schönen Bilde vor mir, das, so oft ich’s schon gesehen hatte, mir immer neue Reize enthüllte. Da war der Rasenplatz mit den Tischen und Stühlen unter den alten Maulbeerbäumen, weiter die rings vom Wald eingerahmten, bereits abgeernteten Felder, durch die sich wie ein breites helles Band die Fahrstraße zog, und als Abschluß grüne Hügel, über denen der blaue Himmel sich wölbte. Behaglich dehnte ich meine Glieder. Hier durfte ich nun wieder ein paar Tage fern vom Hasten des Alltags und aller Sorgen ledig nach Herzenslust umherschweifen in der Einsamkeit der Wälder, wo man nur selten einen Jäger, einen Holzhauer oder einen Mäher mit der Sense auf dem Rücken antrifft. Die grünen Hügel vor mir lockten mächtig, und doch widerstand ich ihrer Anziehungskraft, denn es gab noch einen stärkeren Magneten für mich. Ich hatte in der Nähe ein Lieblingsplätzchen, das mußte ich zuerst aufsuchen. So zündete ich mein Pfeifchen an und schlenderte linker Hand hinunter dem Bismarksteig zu, folgte ihm aber nicht, sondern ging querfeldein durch die Kiefern, die dicht beieinanderstehend alle ihre in der Enge verkümmerten Zweige abgestoßen hatten und mit schlanken, kahlen Stämmen nach oben strebten, wo sich ihre Kronen gleich Wedeln ausbreiteten, um in freier Höhe aus Licht und Luft Leben zu saugen. Eine Kiefer war’s auch, die ich suchte, aber eine auserwählte, die auf einer Lichtung stand und ihre Zweige frei nach allen Seiten wie einen Schirm hatte entfalten können. In ihrem Schatten wollte ich zuerst ruhen. Da blitzte es auch schon hell durch die Stämme; noch wenige Schritte und ich hatte die Lichtung erreicht.
Aber hatte ich mich denn geirrt? Nein, das ist der grünviolette Teppich von Farren und Heidekraut, das sind die Birken mit ihren grüngoldenen Blättern. Dahinter leuchten die weißen Tonberge. Alles ist da nur meine Kiefer ist verschwunden! Hier muß sie gestanden haben. Aber da ist nur ein Stumpf mit den noch frischen Spuren von Art und Säge!
Wie hatte ich mich gefreut, sie wieder zu sehen! Wie schön war’s, wenn ich, den Kopf zwischen ihre mächtigen Wurzeln gebettet, lang ausgestreckt in wohligem Behagen ruhte, hinaufsah in die Höhe, wo am blauen Himmel die weißen Wolken langsam vorüberzogen, während die Vögel lustig zwitscherten und die Grillen zirpten. Wenn sie von der Sonne geküßt ihren herben Duft ausströmte, wenn ihre Nadelzweige vom Winde gefächelt mir leise , ganz leise liebe Märchen ins Ohr raunten, dann kam über mich eine süße Betäubung, ich träumte, und ich fühlte den Frieden Gottes in mir, der höher ist als alle Vernunft.
Darum gewann ich sie so lieb; darum kam ich auf meinen Wanderungen immer wieder zu ihr, um auszuruhen; darum schlang ich, wenn ich Abschied nahm, die Arme um ihren Stamm und rief ihr: ,,Auf Wiedersehen!“ zu wie einem lebenden Wesen. Für mich atmete sie, für mich hatte sie eine Seele!
Und nun hat nach dem Kriege die Geldgier, diese greulichste aller Seuchen, auch ihre entlegene Waldheimat nicht verschont. Mir war’s, als stände ich auf dem Friedhof am Grabe eines lieben dahingeschiedenen Freundes. Betrübt sank ich auf ihren Stumpf.
Wärst du mein gewesen, ich hätte lieber gedarbt, als geduldet, daß Axt und Säge dich berührten. Nun habe ich dich auf immer verloren! War’s eine Ahnung, die mich im vergangenen Jahre zwang, dich mit meinem ungeschickten Stift zu zeichnen und so zu versuchen, dein liebes Bild festzuhalten? Möchten wenigstens die, denen du im Winter Wärme spendetest, während du glühend dich verzehrtest, dankbar empfunden haben, daß du ihnen noch im Sterben Gutes tatest!
Lange saß ich, den Kopf in beide Hände gestützt. All meine helle Freude war trüber Schwermut und Niedergeschlagenheit gewichen. Müde erhob ich mich endlich und schritt halb unbewußt den Tongruben zu. Um mich breitete sich in üppiger Pracht der große Heidekrautteppich aus. In mildem Licht leuchteten die unzähligen kleinen Blütenglöckchen auf ihren zarten Stengeln mit den feinen grünen Blättchen. Wie beruhigend wirkte das auf Auge und Gemüt.
Da gewahrte ich plötzlich ganz versteckt in dem gleichförmigen Violett einen lichten, schneeigen Schimmer. Was für ein fremdes Blütenwesen hatte sich hierher verirrt? Neugierig ging ich dem Schimmer nach. Das waren ja dieselben zierlichen Blütenglöckchen, nur schneeweiß, ein lieblich schönes Bild der Unschuld und Keuschheit. Weiße Erika, auch deine Blüten dauern, auch deine Blättchen sind immer grün, dich sollen die deutschen Bräute im Haar tragen, statt der ausländischen Myrthe!
Ich kniete nieder, pflückte behutsam die winzigen Stenglein und fügte sie zu einem Sträußchen zusammen. Ihre Schönheit leuchtete in meine Seele. Ich empfand wieder, daß die Sonne schien, daß überall blühendes Leben war, daß alles Daseinsfreude atmete. Meine Müdigkeit schwand, ich stieg noch auf die höchste Erhebung der Tonberge. Tief unten am Grunde der mit Brombeerranken überwucherten Gruben glänzte ein kleines lichtgrünes Gewässer, an den Rändern hohes Schilf mit plumpen braunsamtenen Fruchtkolben.
Von Süden her, wo das Jagdschlößchen und das eherne Feuerbecken des Bismarckturmes die Baumkronen des Hubertusberges überragten, zog ein Bussardpaar heran, kreiste über mir und grüßte mit schrillen, langgezogenen Pfiffen die Abendsonne, die ein goldiges Lupinenfeld bestrahlte, von dem der linde Westwind süße Düfte zu mir herüberwehte.
Es war, als wollte Mutter Natur mich trösten. Das empfand ich schon hier und noch in viel höherem Maße, als ich nach Hause kam. Da war der ganze westliche Horizont in Blut getaucht, die Zinnen des Bismarckturmes funkelten, über die vom leichten Winde bewegten Birken rann es wie flüssiges Gold. Und drüben im Osten leuchteten die Hügel in Purpurglanz. Baumgipfel hoben sich deutlich von einander ab, und die einzelnen Kiefernstämme glänzten wie Kupfer. Frau Aventüre (Zufall, Geschick) ritt durchs Land. Ich dachte nicht daran, daß hinter den Feuerhügeln nur ein paar nüchterne Dörfer liegen, ich sah dort nur das Märchenland in seiner prangenden Schönheit.
Als der Glanz langsam zu verbleichen anfing, ging ich noch ganz feuertrunken hinauf in mein Zimmer und barg meinen kleinen Schatz in einer Vase.
Nach tiefem, erquickenden Schlaf erwachte ich am nächsten Morgen, richtete mich im Bett auf und blickte zum Fenster hinaus. Noch war die Sonne nicht aufgegangen. Ueber den Bergen im Osten lag eine violette Dunstschicht, die sich, der Sonne Nahen verkündigend, rosig zu färben begann und allmählich durch orangefarbene, gelbe und hellgrüne Töne sich auflöste in den fast farblosen Aether. Kein Blättchen regte sich an den Maulbeerbäumen und Eichen, die noch im Schatten lagen. Ich legte mich nieder und versank noch einmal in Halbschlummer.
Plötzlich fuhr auf. Mir war´s , als hätte ein ganz feines Klingen vernommen, wie von Silberglöckchen. Aber alles war still. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was mich geweckt hatte: es war gerade zur rechten Zeit geschehen. Ueber den Bäumen in der ersten Talsenkung lag jetzt ein weißer Nebelschleier. Der rosige Schimmer war lebhafter geworden, da: ein glühender Funke über den Bäumen, noch einer, wieder einer. Jetzt wird’s ein Diadem von Feuerperlen, die ineinanderfließen in ein schmales, flammensprühendes Band. Ganz leise bewegten sich die Blätter der Maulbeerbäume. Es war, als durchrieselte sie ein heiliger Schauer, als grüßten sie dankbar ihren Schöpfer. Immer stärker ward der Glanz. Ich riß das Fenster auf und ließ die frische Morgenluft ins Zimmer strömen.
Den ganzen Vormittag schlenderte ich planlos im Walde herum. Ich hatte zu Anfang meiner Wanderung einen Steinpilz entdeckt, nicht weit davon einen zweiten, und dann kam ein kleines Nest Pfefferlinge. Nun ließ mich’s nicht mehr los. Wenn ich Pilze suche, geht mir’s wie dem Jäger auf der Fährte des Wildes. Die Zeit verrann im Fluge, und als ich mittags nach Hause kam, war mein Rucksack ziemlich voll. Ich lieferte ihn in der Küche ab, um mir den Inhalt zum Abend zubereiten zu lassen. Als heute nachmittag die grünen Hügel wieder so freundlich lockten, konnte ich nicht widerstehen. Ich folgte der Fahrstraße nach Möllensdorf bis zur Luthersäule, wo der Luthersteig nach Süden abzweigt.
Als der Altreichskanzler gestorben war, wurden in ganz Deutschland Denkmäler zu seinem Gedächtnis errichtet, meistens in Gestalt von Türmen und Säulen, von deren Höhe an Feiertagen lodernde Freudenfeuer weit ins Land hinein leuchten und einander grüßen sollten. Im östlichen Anhalt wurde für die Errichtung eines solchen Turmes als die höchste Erhebung der Hubertusberg ausersehen. Da durch die ausgedehnten Waldungen seiner Umgebung nur eine breite, zum Teil sonnige Fahrstraße führte, lag es nahe, durch die schönsten Teile des Forstes einen schattigen Fußweg zu schaffen und ihm den Namen „Bismarcksteig“ zu geben. Was das kleine Anhalt fertiggebracht hatte, konnte dem großen Preußen nicht unmöglich sein.
Die Wittenberger wanderten ebenso gern nach dem Hubertusberg wie die Anhaltiner. Sie schufen sich also auch einen Waldweg da hinauf. Nach wem hätten sie den wohl besser benennen können, als nach ihrem großen Reformator? So kommt’s, daß sich Bismarck und Luther auf diesem schönen Fleckchen Erde gleichsam die Hände reichen und die Schutzpatrone des Hubertusberges geworden sind.
Der Luthersteig ist aber nicht so leicht zu finden wie der Bismarcksteig. Schon nach dem Ueberschreiten der sandigen Grieboer
Straße hatte ich ihn verloren, als ich zum ersten Male hier war. Erst viel später entdeckte ich durch Zufall die Fortsetzung: ein ganz schmaler, kaum wahrnehmbarer Pfad führt über eine sanfte mit Kiefern bestandene Erhebung auf eine Wiese. Ihr sattes Grün und das dichte mit hohen Farren durchsetzte Strauchwert, das sie umgibt, läßt die Nähe eines Gewässers ahnen.
Mitten auf der Wiese stand ein äsendes Reh. Um es nicht zu verscheuchen, trat ich leise hinter einen Haselstrauch. Zu spät, es hatte mich bereits bemerkt. Es hielt ein paar abgerupfte Grashalme im Maule, hob zögernd den rechten Vorderlauf und äugte mich mit seinen großen braunen Lichtern erwartungsvoll an. Ich rührte mich nicht. Da wurde es dreister, kam auf mich zu und knabberte an seinen Halmen ruhig weiter. Plötzlich stutzte es, sprang mit gewaltigen Sätzen über die Wiese und war im Nu unter den nickenden Farren verschwunden. Ein Planschen und Aufspritzen von Wasser, dann kam es wieder zum Vorschein und flog drüben die Anhöhe hinauf. Ich hatte mich also nicht getäuscht: Da unten plätscherte ein kleiner Bach. Silberklar floß das reine Wasser über den braunen Grund. Ein schmaler Holzsteg führte hinüber. Drüben stieg der Pfad im Hochwald zwischen moosbedeckten Steinblöcken auf künstlichen Bretterstufen ziemlich steil an. Auch hier wucherten wieder außergewöhnlich schöne Farren. Sie erinnerten mich an die Kaiserfarren in der böhmischen Schweiz, deren Namen mir einst ein Förster erklärt hatte: macht man ungefähr eine Spanne über der Wurzel einen schrägen Schnitt durch den Stiel, so erscheint im Mark ein deutlich erkennbares Bild des österreichischen Doppeladlers. Ich machte auch hier die Probe, aber was ich zu sehen bekam, waren nur schäbige Ueberreste des k.k. Vogels. Ich wiederholte meinen Versuch noch ein paarmal; immer das gleiche Ergebnis. Da gab ich’s auf. Vielleicht war’s ein Zeichen der Zeit. Von dem Doppeladler ist ja nach dem Kriege auch so gut wie nichts übrig geblieben.
Eine vom Sturm entwurzelte, schon halb verdorrte junge Tanne lag mir im Wege. Etwa ein Meter unter der Spitze war der Stamm merkwürdig verwachsen: er war gekrümmt wie ein liegendes S und reckte sich dann wieder kerzengerade nach oben. Ein Stück unter der Krümmung war eine Bruchstelle. Da ich mein Taschenmesser noch offen in der Hand hatte, schnitt ich den oberen Teil an dieser Bruchstelle ab und setzte mich mit dem verschnörkelten Gebilde auf einen Felsblock. Ich glättete das untere Ende. Wie von selbst spitzte es sich zu und nahm die Gestalt einer Gnomenkapuze an. Und seltsam, darunter waren ein paar Narben im Holz, die aussahen, wie kleine, geschlossene Augen. Zwischen ihnen saß ein Aststumpf, der nach einigen Schnitten einer im Verhältnis zu den Augen unförmig großen Nase ähnlich wurde. Nur stand das ganze auf dem Kopf. Als ich’s herumdrehte, war es wirklich ein Gnomengesicht. Eifrig arbeitete ich weiter. Unter dem Gesicht streckten sich zwei Zweige abwärts, die zu steifausgestreckten Armen wurden und der gekrümmte Teil des Stammes sah aus wie ein kurzer Leib mit einem kräftigen Bein. Nie hatte ich mich mit Modelieren oder Figurenschnitzen beschäftigt und war deshalb erstaunt, wie mir alles von der Hand ging. Ich stellte das kleine Ding vor mich auf ein Stein. Es war ein Zwerg, der auf zwei Armen und einem Bein stand. Unter dem Kinn saßen gar noch graue Flechten, die wie ein struppiger Bart aussahen. Nur war das Gesicht mit den geschlossenen Augen seltsam starr und leblos. Trotzdem war ich ganz glücklich über den kleinen Kerl, und als ich den Heimweg antrat, steckte ich ihn vorsichtig in den Rucksack. In meinem Zimmer suchte ich nach einem passenden Platz für ihn. Der Tisch stand vor dem Fenster und war etwas höher als das Fensterbrett. Auf dieses stellte ich das Bein, die Arme auf den Tisch. So machte es den Eindruck, als wolle er gerade hinaufklettern zu der weißen Erika.
Ich setzte mich an den Tisch und weidete mich an dem Anblick des kleinen drolligen Kauzes.
Da klopfte es. Ich rief „Herein!“, ohne mich umzudrehen. Ich wußte, es war das Mädchen, das mich zum Abendessen rufen und unterdes mein Zimmer für die Nacht in Ordnung bringen wollte.
Auf einmal kreischte sie auf.
„Was ist denn?“ fragte ich ärgerlich.
„Da da ! Was ist denn das für ein kleines Ungeheuer?“ rief sie entsetzt und starrte auf meinen Zwerg.
,,Ach so!“ lachte ich. „Beruhigen Sie sich, das ist kein Ungeheuer, das ist ein lieber, kleiner Herr. Ich kann Sie leider nicht näher mit ihm bekannt machen, denn noch weiß ich nicht, wie er heißt. Aber unser erstes Zusammentreffen war mit so wunderlichen Umständen verknüpft, daß ich zweifellos sehr bald seinen Namen er fahren werde.“
Sie seufzte erleichtert auf: ,,Bin ich aber erschrocken! Wie kann man so schreckhaft sein“, sagte ich. Es ist doch im Grunde genommen nur ein merkwürdig geformtes Stückchen Holz.“
„Nee so was!“ sagte sie und sah ihn immer noch mißtrauisch an. Dann machte sie einen großen Bogen um den Tisch. Um die Welt hätte sie ihn nicht angerührt.
Ich ging hinunter und verzehrte mein Pilzgericht. Ich war ganz allein auf der Veranda, denn die Gäste, die Tagsüber kommen, verschwinden gegen Abend wieder und höchst selten kommt es vor, daß hier jemand übernachtet. Es war ein warmer Abend, der Himmel ohne Wolken.
Ich ging noch ein Stück die Straße hinunter, es begann bereits zu dämmern. In den Industriewerken an der Elbe blitzten die elektrischen Lichter auf, am Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Vom Dörfchen klang das Bellen eines Hundes herauf, drunten in der Ebene ratterte ein Zug vorüber. Dann war’s wieder still, eine erhabene, weltentrückte Ruhe, ein qui si sana ( sinngemäß übersetzt „hier heilt man“, „es ist gut“) für Leib und Seele. Als ein heller Schein im Osten das Nahen des Mondes anzeigte, ging ich hinauf in mein Zimmer. So schön der ganze Tag gewesen war, so schön sollte der Abschluß werden. Das trauliche Licht der Lampe schien auf mein weißes Heidekraut und meinen Gnomen. Ich holte das einzig Buch hervor, das ich mitgebracht hatte, und begann zu lesen: „Das letzte Märchen.“ Nach wenigen Minuten war ich im Zauberlande Herididasusoturanien. —
Ein feines, süßes Klingen umflutete mich. Betroffen lauschte ich. Das klang ja gerade wie heute morgen, wo es mich zum Sonnenaufgang weckte. Jetzt täuschte ich mich nicht. Es kam von meinem Heidekrautsträußchen. Inmitten der Blüten bewegte sich etwas. Ein zierliches kleines Wesen, kaum so groß wie mein kleiner Finger, in langwallendem, weißen Gewande mit Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken. Lange, blonde Locken mit einem Kränzlein weißer Blüten umrahmten ein zartes Gesichtchen mit funkelnden Aeuglein, einem winzigen Näschen und einem ganz kleinen Mund. In der rechten Hand hielt das Elfchen, denn nur ein solches konnte es sein, ein silbernes Stäbchen mit silbernen Blütenglöcklein. Von dem kam das süße Klingen, das auf mich wirkte wie ein Schlummerlied, das eine Mutter an der Wiege ihres Kindes singt. Wie ein ganz feiner Schleier legte es sich über meine Augen. Ich wachte nicht und schlief doch nicht, denn ich sah und hörte alles, was um mich vor ging. Die hellen Aeuglein funkelten mich an, und ein Silberstimmchen tönte an mein Ohr noch feiner, noch zarter als das Klingen der Glöckchen.
„Hörst du mich, Menschenfind?“
„Ich höre“, antwortete ich wie im Traum. „Was begehrst du von mir?“
„Danken will ich dir!“
„Du? Mir danken? Wofür denn?“
„Hast du mich nicht gefunden? Mich, die unter tausenden kaum einer bemerkt, da ich einsam und versteckt unter Millionen meiner violetten Schwestern blühe. Hast du mich nicht mit lieben Worten gepriesen? Mich nicht für würdig befunden, die Locken der Bräute zu schmücken?
„Daß ich dich fand, mur doch nur ein glückliches Ungefähr. Ist es denn ein Verdienst, das Schöne schön zu finden? Ich trug Leid und dein Anblick beruhigte und tröstete mich. Deshalb muß ich dir danken, nicht du mir!“
,,Nein, nein! Und nicht nur ich, auch alle meine Schwestern, ja alle Waldgeister sind dir zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Du bist zu einem großen Befreiungswerk berufen.
„Ich staune und verstehe ich nicht!“
„Sie den da an! Weißt du, wer das ist?“
Sie zeigte mit ihrem Glockenstäbchen auf meinen Gnomen.
„Nein! Ich schnitt ihn vorhin aus einer halbverdorrten Tannenkrone, weiß selbst nicht wie’s geschah. Da der kleine Herr mir gefiel, nahm ich ihn mit.“
Wie du auch mich mitgenommen hattest. Damit hast du dein Teil an dem Befreiungswerk getan, und jetzt kann ich es vollenden.“ „Du machst mich neugierig, Elfchen. Ich verstehe nichts von alledem.“
So höre denn:
Vor langen Jahren lebten die Menschen in Städten und Dörfern ruhig und bescheiden ein beschauliches Dasein. Wenn sie nach getaner Arbeit den Wald kamen, waren sie voll eitel Seligkeit. Ihre empfänglichen Seelen tranken die Schönheit der grünen Welt, ihre Augen waren aufgetan, die Seele des Waldes erschloß sich Ihnen, und sie sahen die Waldgeister und hielten Zwiesprache mit ihnen. Erquickt und gestärkt kehrten sie in Ihre Behausungen zurück und widmeten sich mit frischen Kräften ihrem Tageswerk. Das verdroß Wamusalito, den bösen Geist des Begehrens. Er blendete die arglosen Menschen, gaukelte Ihnen Ruhm, Ehre, Reichtum und alle möglichen Genüsse vor, und je empfänglicher sie für seine Gaben wurden, je heftiger sie ihnen nachjagten, je unzufriedener sie dadurch wurden, desto mehr verloren sie den Blick für die Wunder des Waldes. Wenn ihnen ihr rastloses Treiben jetzt überhaupt noch Zeit ließ, hinauszuziehen in das grüne Paradies, geschah’s mit blöden, glotzenden Augen. Sie sahen die Bäume und Blumen noch, aber nur ihr Aeußeres, ihre Seelen blieben ihnen verborgen. Für sie waren das alles nur noch leblose Dinge. Sie freuten sich nicht ihrer Schönheit, sie überlegten und rechneten nur, wie sie alles für ihre Zwecke und ihren Vorteil verwenden könnten. Andere jagten auf den eisernen oder steinernen Fesseln, mit denen Wamusalito den Wald umschnürte, in großen rollenden Kasten oder fauchenden Ungeheuern, die üble Düfte verbreiteten, hindurch, und gingen sie zu Fuß, johlten und schrien sie und zupften auf drahtbespannten plumpen Holzkästen mit langen, buntbebänderten Hälsen herum, daß die entsetzten Waldgeister sich schnell in ihre verborgensten Verstecke zurückzogen, und selbst die Tiere des Waldes mit eingezogenen Schwänzen davonliefen. So hatte es Wamusalito gewollt. Er triumphierte. Aber er hatte die Sonntagskinder unter den Menschen vergessen. Die ließen sich nicht blenden, ließen sich ihre Zufriedenheit und Ruhe nicht rauben und blieben all seinen Bemühungen zum Trotze in stetem, herzlichen Verkehr mit den Waldgeistern. Alle seine Mittel versagten Ihnen gegenüber, er konnte ihnen nichts anhaben. Da beschloß er, die Waldgeister zu verderben und schickte seine Schwester, die Trulle Kasularowi, in den Wald, die sie verzaubern sollte, damit die Sonntagskinder sie nicht mehr sehen und nicht mehr mit Ihnen sprechen könnten. Auch die Sinne der Sonntagskinder, so rechnete er, würden stumpf werden, auch sie würden erblinden und sich seiner Macht unterwerfen, wären ihnen die Waldgeister nur erst entrückt. Der König der Waldgeister war Tanneplutz, den du hier vor dir siehst. Auf den hatte Kasularowi es besonders abgesehen. Unablässig stellte sie Ihm nach. Aber Tanneplutz war klug und verstand es, der bösen Verfolgerin geschickt auszuweichen. So lange sie ihn nicht in Ihrer Gewalt hatte, konnte sie auch seinem Volke nichts anhaben. Es blieb alles beim Alten. Nach wie vor erschienen die Sonntagskinder im Walde und besuchten Tanneplutz und sein Volk. Wamusalitos Wut kannte keine Grenzen. Er machte seiner bösen Schwester die härtesten Vorwürfe und drohte ihr die schwersten Strafen an, wenn es ihr nicht gelänge, ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Trulle verdoppelte ihre Anstrengungen, sie war dem armen Tanneplutz immer auf den Fersen. Und da geschah eines Tages das Furchtbare.
Tanneplutz hatte müde gehetzt durch ihre Verfolgung sich einen Augenblick unter eine junge Tanne gelegt, um ein wenig zu verschnaufen. Vorher hatte er zum Glück seine Krone abgenommen und sie sorgfältig unter einem Felsvorsprung versteckt. Kasularowi schlich herbei, berührte ihn mit ihrem Zauberstabe, und im Nu war der Aermste gelähmt. Er flehte, sie möge ihn loslassen, versprach ihr alle verborgenen Schätze, die in seinem Walde schlummerten – sie lachte ihn aus. Die gehörten ja schon ihr und ihrem Bruder höhnte sie, nachdem sie ihn gefangen hätte, und sie würden sich schon holen, was sie brauchen könnten. Als er fortfuhr sie zu bitten und zu beschwören, sprach sie mit teuflischem Grinsen: Eine Möglichkeit der Befreiung will ich dir lassen: Wenn ein Sonntagskind dich entdeckt und aus den Gefängnis, das ich dir bestimmt habe, befreit, und wenn eine Blumenelfe in einer Vollmondnacht dich mit ihrem Stäbchen berührt, sollst du frei sein. Aber frohlocke nicht, du Menschenverderber! Da ich dich habe, habe ich auch alle Waldgeister. Sie alle banne ich wie dich. Und wenn die Sonntagskinder euch nicht mehr sehen können, müssen sie alle der Macht Wamusalitos verfallen.
Und käme wirklich ein Sonntagskind noch in den Wald, dann gibt’s keine Blumenelfen mehr. Nun freue dich noch auf deine baldige Erlösung.“ Ihn so verspottend, verzauberte sie Ihn in die Krone der jungen Tanne, daß ihm die Sinne schwanden. Dann vollendete sie ihr furchtbares Werk. Sie bannte alle Waldgeister tief in das Innerste ihrer Bäume und Pflanzen, daß sie fortan unsichtbar waren und sich so wenig rühren konnten wie Tanneplutz. Auch meine violetten Schwestern verfielen alle ihrem Zauberstabe. Nur mich übersah sie, die ich ganz von ihnen versteckt im Verborgenen blühte. So konnte ich allein Tanneplutz und die Geister erlösen und konnte es auch wieder nicht. War ich doch fast in derselben schlimmen Lage wie meine violetten Schwestern. Ich mußte sehr vorsichtig sein: hätte ich in der Vollmondnacht zu Tanneplutz fliegen wollen, wäre ich sicher von Kasularowi entdeckt worden und dann auch verloren gewesen. Auch hätte ja dann immer noch das Sonntagskind gefehlt. So harrte ich Jahre und Jahrzehnte lang. Wie gern wäre ich in meiner Ohnmacht verwelkt und gestorben. Nur in der Zuversicht, daß das Gute doch einmal siegen müsse, saugte ich alljährlich aus dem Schoße der Mutter Erde neue Kraft und blühte weiter. Und siehe, da kamst du, fandest mich und nahmst mich mit. Du kannst dir mein Frohlocken denken, als du heute den verzauberten Tanneplutz, wenn auch starr und ohne Leben, aber doch aus dem Gefängnis erlöst, mitbrachtest. Alles trifft sich herrlich. Dort steigt der Vollmond über die Hügel. Ans Werk!“
Wie ein Schmetterling flatterte sie von den Blumen herunter zu dem Kleinen. Lauter tönten die Glöckchen, als sie ihm mit dem Stäbchen vom Nacken über den Rücken bis zur Fußspitze und über die Arme strich und zuletzt sein Herz berührte. Er schlug die Augen auf, richtete sich auf seinem einen Bein in die Höhe, reckte die Arme, fuchtelte mit ihnen in der Luft herum und stieß einen Jubelschrei aus. Dann schlug er einen Purzelbaum nach dem andern. Das Elfchen flog zu seinen Blumen zurück. Nachdem der Kleine sich ausgetobt hatte, hüpfte er auf Bein und Armen unter die Vase und keuchte, noch ganz atemlos:
„Frei bin ich, frei! Erika, du hast mich vom Zauber Kasularowis erlöst. Nun ist’s aus mit ihrer und Wamusalitos Macht. Jetzt herrscht Tanneplutz wieder im Walde, jetzt erwacht die Märchenwelt zu neuem Leben! Habe Dank, habe Dank, meine treue Erika!“
„Spare deinen Dank an mich, lieber Tanneplutz? Ich habe das Werk nur vollendet, denn aus deinem Gefängnis konnte ich dich ja nicht erlösen. Das hat das Sonntagskind da getan, das auch mich fand und hierher brachte!“
Tanneplutz hüpfte ganz nahe zu mir heran, neigte sein würdiges Haupt und sprach: ,,Heil dir, mein Retter! Ich und mein Volk danken dir, denn mit mir hast du auch die Waldgeister erlöst.“
„Herr Tanneplutz“, antwortete ich, „ich bin in Verlegenheit, was ich sagen soll. Wenn ich dir einen Dienst erwiesen habe, ist’s ohne mein Wissen geschehen. Es war, als ob eine unsichtbare Macht meine Hand führte, als ich dich aus der Tanne schnitt, und ich war aufs höchste erstaunt, als ich dich plötzlich in der Hand hielt. Du gefielest mir, und da nahm ich dich mit.“
„Das war ein großes Glück, und ein noch größeres war’s, daß du vorher Erika gefunden hattest“, jubelte er. Aber nun müssen wir dir eine sehr große Freude machen. Hast du einen Wunsch?“
„Nur, daß ich recht lange bei euch in eurem schönen Walde bleiben darf.“
„Das ist selbstverständlich. Nein, etwas ganz Besonderes muß es sein. Was machen wir nur? Erika, rate du mir, mein Kopf ist noch ganz benommen.“
„Sieh mal dort zum Fenster hinaus, Tanneplutz“, sagte sie lächelnd.
„Eben geht der Vollmond auf!
„Der Vollmond?“
Er schlug sich vor die Stirn. Da kommen ja unsere Gäste! Daß ich daran nicht gleich dachte! Nun weiß ich’s, Sonntagskind, du sollst etwas sehen, was noch kein Sterblicher gesehen hat, noch je sehen wird. Aber du mußt Vertrauen haben. Wirst du alles ertragen, was auch mit dir geschehen mag?“
„Etwas Uebles wird dir nicht widerfahren“, warf Erika ein.
Macht mit mir, was ihr wollt, ich folge euch gern“, sagte ich .
„Kannst du aber auch schweigen? Denn du darfst nur sehen und hören, aber kein Wort sprechen.“
Ich versprach zu schweigen. Tanneplutz nickte befriedigt und winkte Erika. Sie flog auf mich zu und verfuhr mit mir genau so wie vorher mit Tanneplutz Ich fühlte ein seltsames Knacken in meinen Gliedern, dann verlor in die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf dem Tisch. Tanneplutz stand neben mir und hielt mir einen großen Spiegel vor.
„Sieh mal da hinein!-nun?“
Ich zuckte die Achseln und legte die Finger auf den Mund.
,,Ach so!“ lachte er. „Du denkst, du darfst nicht sprechen! Nein, nein, solange wir hier in deinem Zimmer sind, darfst du ruhig reden.
„Nun, siehst du dich?“
„Nein, ich sehe nur ein Männchen, das genau so aussieht wie du, Tanneplutz.“
„Das bist du.“
Wahrhaftig, jetzt merkte ich, daß ich mich mit beiden Armen auf die Tischplatte stützte, daß ich nur ein Bein und eine unendlich lange Nase hatte wie er.
„Das hattest du wohl nicht erwartet?“ sagte Erika .
„Reut es dich, daß du uns vertraut hast?“ fragte nun auch Tanneplutz, als er mein verdutztes Gesicht sah.“
„Nein! Aber neugierig bin ich, was nun geschieht!“
„Das sollst du gleich erfahren. Komm, folge mir.“
Er lief zur Tischecke und klomm am Tischbein hinunter wie ein kleiner Akrobat. Entsentzt sah ich ihm nach .
„Versuche es nur, es geht“, ermutigte er mich.
Und es ging, nur nicht so schnell wie bei Tanneplutz. Mit dem Fuß stützte ich mich gegen das Holz wie der pickende Specht mit dem Schwanz gegen den Baumstamm, und mit den Händen angelte ich mich langsam hinunter.“
„Nun öffne uns die Türe, Erika.“
Sie flatterte hinüber zur Klinke und berührte sie mit dem Silberstäbchen. Die Tür sprang auf, wir schlüpften hinaus und Erika schloß die Tür von außen. Auf dem Flur war es stockfinster. Aber da leuchteten auch schon all die kleinen Glöckchen am Stab und die Blüten in Erikas Haar auf wie winzige Glühwürmchen und zeigten uns den Weg. Wir hüpften die Treppe hinunter und Erika öffnete und schloß die Haustür wie oben die Zimmertür. Nun waren wir im Freien. Da draußen im Lichte des Vollmonds wimmelte es im Grase unter den Maulbeerbäumen von kleinen einbeinigen Herren und Blumenelfen mit leuchtenden Stäbchen. Ein eisgraues Männchen trat vor. In den Händen trug es eine kleine goldene Krone, die es Tanneplutz überreichte, und sagte feierlich: König Tanneplutz, im Namen deines Volkes überbringe ich dir deine Krone, die wir aus ihrem Versteck geholt haben. Trage sie von neuem zu Nutz und Frommen der Waldgeister. Wir huldigen dir nach unserer Erlösung und schwören dir ewigen Gehorsam und ewige Liebe und Treue!“
Tanneplutz setzte sich die Krone aufs Haupt und alle neigten sich vor ihm.
„Ich danke euch, meine Kinder,“ sprach er.
„Seht hier unseren Retter. Ich will, daß ihr alle ihm dienet wie mir.“
Da sagte der Kleine zu mir: Sei uns gegrüßt, du Sonntagskind, und nimm unsern Dank. Wir alle dienen dir willig und gern.“
Und noch einmal neigten sich die Geister alle vor mir. Habt ihr alles vorbereitet zum Empfang unserer Gäste, daß sie sich wohlfühlen in unserem Reich wie in früheren Zeiten?“ fragte jetzt Tanneplutz.
„Es ist alles in Ordnung, Tanneplutz. Ueberzeuge dich selbst.“
„Ich habe es nicht anders erwartet. Nun geht und feiert unsere Erlösung. Freuet euch und seid guter Dinge, weder Wamusalitos noch seine Schwester, die böse Trulle Kasularowi, kann uns etwas anhaben.
„Heil unserm König Tanneplutz! Heil unserm Erlöser!“ tönte es jubelnd in der Runde. Dann stob der ganze Schwarm auseinander. Ich war wieder mit Tannenplutz und Erika allein. gingen ums Haus herum durch die Allee zum Bismarckturm, der wie ein steinerner Riese sich vor uns erhob. In seinem Innern leuchteten uns wieder Erikas Silberglöckchen. Ich wollte die Treppe hinauf. Aber Tanneplutz wehrte ab:
„Halt! Nicht hinauf! Diesmal geht’s hinunter! Und denke daran: Kein Wort!“
Erika klopfte mit dem Stäbchen an die Wand. Eine verborgene Tür sprang auf. Durch ein geräumiges Gewölbe ging’s hinunter in ein kleines Zimmer. Erika flog voran und blieb mitten im Zimmer unter der Decke lichtspendend als Leuchterweibchen schwebend. Das ganze Gemach war mit zierlich geschnitzter Holztäfelung geschmückt. Am Marmorkamin brannte ein lustiges Feuer, denn hier unten war’s kühl. Tannenplutz führte mich zu einem eichenen Tisch und lud mich ein, auf einem der davorstehenden Stühle Platz zu nehmen. Auf dem Tische stand ein Weinkrug und zwei winzige Römer. Tanneplutz schenkte ein, hob sein Glas und sagte:
„Nun laß uns anstoßen! Es lebe der schöne Wald und alle , die sich seiner freuen!“
Hell klangen die Gläser zusammen.
„Und nun sollst du sehen und hören, was ich dir versprochen habe.“
„Aber, ich mahne dich noch einmal: Sprich kein Wort!“
Mit diesen Worten schob er einen Teil der Wandtäfelung zurück, und ich sah wie durch ein Fenster hinunter in ein Gemach, das in gewaltiger Vergrößerung bis in die kleinsten Einzelheiten unserem Zimmerchen glich. Dieselben Schnitzereien, derselbe Tisch, dieselben Stühle, derselbe Wein. Am Tisch zwei Männer in eifriger Unterhaltung.
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Paul Hoffmann