Der Holzmarkt 1883-1888

Man schreibt das Jahr 1883.
Wittenberg ist noch ein Städtchen von 18 000 Einwohnern, die eingeengt durch Wall und Mauern.
Die südlichste Straße ist die Collegien-, die nördlichste
die Mauerstraße. Im Westen ist das Schloß, im Osten das
Lutherhaus das letzte Gebäude der Stadt.
Alles, was darüber liegt, ist Neubau, die Kavalierkaserne ist im Bau begriffen.
Diese engen Zustände hatten Nachteile, die aber durch die Bescheidenheit der Einwohner ausgeglichen wurden. Man hatte
2 Bäche als Kanalisation, das klarste Wasser lief Tag und
Nacht auf Höfen, Straßen und Plätzen.
Laternen brannten vor jeder Kneipe, denn Gas gab es noch nicht. Aber in diesen kleinen Verhältnissen konnte noch der Nachbar dem anderen Nachbar trauen. Einer kannte den andern, jeder war fleißig
und selbst der Ärmste ehrlich.
Fremde, die ohne Fürsprache nach Wittenberg ziehen wollten, brachte Vater Rehm (Polizei am Elbtor) prompt über die Stadtgrenze. Daher zur Zeit keine Juden.
Nach Einrücken des 20. Inf. Regts. waren Bäcker, Fleischer, Korbmacher, Kolonialwaren auf ca. 40, Schneider auf 60, Schuster auf 80 angestiegen.
In den 15 Straßen der Stadt waren über 100 Kneipen.
Man trank eine kleine Braune für 7 Pfg., dazu einen Kümmel für einen Dreier = 1 Silbergroschen.
Lieferant waren 10 Brauereien der Stadt.
Unsere ehrenamtlichen Stadträte hatten aber auch verstanden, daß durch Abhaltung von Wochen-, Vieh-, Kram- und Flachsmärkten sowie Schützenfest das Einkommen der Bürger erhöht wurde.
Die Steuern deckte der Fleischerwerder Wald, die weiten Wiesenflächen der Elbe und der große Fischreichtum der Seen um die Schanzen.
Um den Verkehr zu regeln, hatte jedes Gewerbe seinen Stand.
Die Fischer hinterm Rathaus, die Schuster in der Schloßstraße, die Böttcher am Schloßplatz, die Töpfer auf dem Kirchplatz, und so war der Holzmarkt mit Brennholz, Holzkohle für die Schmiede, Pfingstmaien und Weihnachtsbäumen sehr besetzt.
Es gesellten sich die Mordgeschichten an der Plumpe, die Tanzbären und Kameltreiber mit ihren Affen dazu, so daß das Meißener Porzellangeschirr am Hamlethaus oft stark gefährdet war.
Die Mordgeschichten sollten das Volk von Raub und Mord abhalten. Auf ca. 4 qm aufgespannter Plane waren die Einzelheiten des Mordes bis zur Hinrichtung gemalt.
Der Mann mit dem Holzbein drehte Leierkasten, auf dem ein Mops mit Soldatenmütze und Tabakspfeife saß.
Die Frau sang die Bilder ab, zeigte sie mit langem Stock und verkaufte kleine Hefte.
Die Alte, die stark schnupfte, war dauernd heiser.
Wir kriegten einen Groschen und sangen für sie. Gab es keinen Groschen, sangen wir 20-stimmig unsere Lieder, z.B .:
Eine Mordtat ist geschehen in Berlin, der großen Stadt, wo ein süßes kleines Mädchen einen Fisch gefangen hat.
So sah ich Wittenberg, als ich 1883 von Magdeburg nach hier kam. Ich wurde auf dem Holzmarkt groß, kenne jedes Haus vom Keller bis zum Boden und will von den Häusern und Leuten dieser Zeit erzählen.

Mittelstraße 1
war eine alte Brauerei, die eines nachts abbrannte. Als die Feuerwehr anrückte, war die Jugend des Holzmarktes auch zur Stelle. Anstatt uns mit Bonbons zu futtern, spritzte man auf uns, womit das Schicksal der alten Bude besiegelt war.
Wir traten auf den Schlauch, die Spritze bekam kein Wasser, und die Stadt hatte am Morgen einen Schandfleck weniger, und der Jünglingsverein baute auf den Mauern die „Herberge zur Heimat“ für durchreisende Handwerksburschen.
Diese Burschen sprachen bei den Meistern nach Arbeit vor.
War keine Arbeit, gab der Fleischer Wurstzippel, der Bäcker
Brot, der Kaufmann Geld.
Dies wurde in der Herberge verhandelt und der Bursche bekam Suppe und Nachtlager.
Viele Haushalte holten sich zur Arbeit einen Burschen, der nicht immer nüchtern in der Herberge landete.
Meist entstand dann Radau.
In aller Ruhe öffnete der Herbergsvater das Fenster zur Kirche, unseren Spielplatz.
Wir hörten seinen Pfiff, erwarteten den Betrunkenen, wenn er aus der Haustür flog, hefteten uns an seine Sohlen und ruhten nicht eher, bis wir ihn vor das Rathaus bugsiert hatten.
Nach kurzem Radau sperrte ihn Vater Rehm ein, und wir hatten wieder eine gute Nummer bei ihm.
Nur der alte Grasse, Kustos der Kirche, war recht nachtragend mit uns.
Vor vielen Jahren hatte die Jugend des Holzmarktes auf der Jagd nach der weißen Dame in der Kapelle einige Scheiben zerschlagen. Seit der Zeit verhaut er jeden, den er an Kirche und Kapelle faßt.
Es ist gut, daß wir die Kellerfenster der Hinterhäuser Collegienstraße 3 – 9 so gut kennen, dort stand auch über der
Haustür eine Tafel mit der Inschrift:
„Befiehl du deine Wege …“usw
Deshalb empfahlen wir uns und verschwanden in die Kellerfenster.
Das Haus Mittelstraße 2 mit der Bäckerei Garz würde man heute das klingende Haus der Jugend nennen. Hier war die Jugend des
ganzen Bezirkes, hier erklang Musik von früh bis spät.
Es war versehentlich mit Nr. 1 abgebrannt, die Baustelle war der
Frau Büscher – Berlin zugefallen.
Büscher war Trompeter beim Artillerieregiment in Wittenberg, pensioniert in Berlin, er baute das Haus schnell auf.
In seiner Gastwirtschaft sammelte sich die gesamte Musik von Infanterie und Artillerie.
Büscher spielte viele Instrumente und seine 3 Kinder waren geborene Musiker. Kein Wunder, daß hier der Mittelpunkt der Jugend wurde.
Hier ist der historische Festzug zum 400-jährigen Geburtstag Luthers, den 10. November 1883, ausgearbeitet.
Die anschließenden Festspiele drangen in die ganze Welt, brachten
Gäste aus England, Holland usw. und wurden für unsere Vorstädter der Anfang der Maiblumen-Pflanzung, die der Stadt reichen Segen brachte.
Angestachelt durch die Festspiele wurde im Holzmarkt hart gearbeitet. Jedes Kind sollte mindestens 1 Instrument spielen, was von den Musikern angelernt wurde. Alle sollten Geld verdienen, um in Wittenberg ein Theater zu schaffen.
Wir fuhren täglich mit Ziegenbock zur Bahn und holten gegen Bezahlung Gepäck der Reisenden.
Der Hundepark am Leichendamm lieferte über 100 Hunde zur Pflege und Dressur und zahlte uns dafür.
In jedem Zugabteil prangte das Schild: Cäsar und Minka, Europas größte Hundezucht, Zahna-Wittenberg.
Im Sommer 1884 ist das Theater fertig. Der ganze
Holzmarkt betätigt sich dabei.
Klara Bastian schickt das hübsche Gedicht:
Wittenbergs Zukunft, MusikerWillert vertont es und August Pflug übt es als Wittenbergs Orgelpfeifenr ein.
Was damals belacht, ist heute Wirklichkeit.

Folgendes Programm wurde geboten:

  1. Als Vorspiel Musik, Klavier, Geige, Flöte, Gebr. Büscher.
  2. Chorgesang: Es kamen grüne Vögelein. Alle Holzmarktkinder.
  3. Mohrchen, der sprechende Wunderhund. Dressur Karl Hecht.
  4. Flamisches Ballett. 8 junge Mädchen.
  5. Wittenberger Orgelpfeifen. 20 Holzmarktkinder.
  6. Die Schlangenbändigerin mit 4 elektr. Schlangen.
  7. Turnen am Reck. W. Otter und Max Kramer.
  8. Überfall des Südexpress. Puppenspiel mit Gesang.
  9. Lustige Schattenspiele. Max Rohrbeck.
  10. Die fidele Gerichtssitzung. Einakter.
  11. Schlußmusik.

Eintritt 10 Pfg.

Für Wittenberg war es ein Ereignis 1. Klasse. Nicht nur Kinder, sondern Erwachsene aller Kreise überfüllten das Lokal Büscher.
Alle Schulen mit ihren Lehrern hatten sich eingefunden.
Der durchschlagende Erfolg dauert an, bis uns die Ferien auseinanderreißen.
Jeder nimmt aber ein Stück Jugend mit ins Leben.
Mittelstraße 3.
Besitzer Töpfermeister Hecht, mit langem Hof und kleinem Garten grenzt hinten an Brauerei Seiler.
Im Vorderhause wohnen unsere Freunde Oswald und Karl Hecht. Jeden Markttag bringen wir die Milchsatten und Henkeltöpfe, zuletzt die Großmutter mit ihrem blühenden Kohlentopf zum Kirchplatz und holen sie nach Schulschluß wieder ab.
Dafür dürfen wir uns mal mit Ofenruß schwarz machen.
Links des Torweges der Gasthof „Holzmarkt“.
Mittelstraße 4,
ein schmales Haus zum Versteckspielen, hat auch eine Kneipe wie alle Häuser bis zur Neugasse. Der Besitzer, Fr. Pannier, will nicht mit uns anbinden. Sein Bruder Wilhelm hat anno 70 bei Marsch-Retour eine Kanonenkugel in den Bauch gekriegt. Seither geht er sehr langsam, damit er sie nicht verliert.
Als er eines Tages über die Katzenköpfe des Holzmarktes stolperte, fiel sie in seine Stiefel, woran er starb.
Siehe Tafel über der Haustür.
Hof rechts war die Kegelkugel- und Kreiselfabrik von Herm. Demuth. Wir brachten ihm starkes Holz, und er drehte den Mädchen unverwüstbare, winterharte Puppen daraus. Seine Arbeit fand durch Lobers Fürstenstühle Eingang in die Schloßkirche.
Hier hört der Holzmarkt auf und kommt erst gegenüber in
Mittelstraße 60 wieder.
Hier wohnte die Hebamme Plötz, deren Klingel wir alle kannten. Interessanter ist das Hamlethaus, Collegienstraße 12/13 zählend. Es bildet die Ostseite des Holzmarktes, ist schon vor Luthers Zeiten erbaut und diente dem Dänenprinzen Hamlet während seines Studiums als Wohnung.
Jetzt wird der Teil nach der Mittelstraße von einem jungen
Zuckerbäcker bewohnt. Nach seiner Heirat kauft er von Büscher
die Mittelstraße 2 und gründet damit das heutige „Cafe Richter“.
Im Teil nach der Collegienstraße befand sich die Förstersche Speisewirtschaft. Die Familie besteht sehr lange.
Sie lieferte Holz zum Ort und Kirchenbau und wurde daher ansässig. Der gesamte Holzhandel der Umgebung wurde hier getätigt.
Vor den Fenstern zwischen Collegien- und Mittelstraße war der Stand der Porzellanverkäufer.

Gegenüber, Collegienstraße 84, war die Einhornbrauerei von Höhne. Im Vorderhaus links der neue Konsumverein, rechts die
Gastwirtschaft von Malchen Müller, die den Bauern zum Ausspann
diente. Neben Schuster und Schneider war im Hinterhaus die
Tabakfabrik von Rennert und die Steinbildhauerei von Ehrenberg, deren Arbeiten man noch heute in Schloß- und Christuskirche bewundern kann. Hier lernte ich die Herstellung von Tabak und Zigarren sowie den gesamten Handel, als Rennert 1886 das Haus kaufte. Von hier aus sah ich täglich auf den Holzmarkt, lernte seine Leute kennen und achtete sie.
Das Nachbarhaus Collegienstraße 85, dem Rentier Eßbach gehörend, war mit seinen beiden Höfen sehr überfüllt, besonders
wenn viele Soldaten dort einquartiert waren.
Hier wohnte die alte Neujocks, der wir täglich die Obstkiepen zur Marktecke fuhren.
Hier lebte auch die alte Botenfrau Hoffmann, mit ihrem asthmatischen Esel, auf dem oft 3 und mehr Mann ritten.
Hier schnitt Tischler Lorbeer die schönsten Drachenleisten, Kramers machten die größten Holzpantoffeln und Schmied Zachmann den größten Krach. Dazu hatte Rennert seine Zigarrenherstellung.
Außer dem Esel waren Trommeltauben, Ziegenböcke, Hühner, Katzen und Karnickel, Kinder, Hunde und auch Raben, alles das
war hier zu haben.
Im Vorderhause befand sich der Zigarrenladen Rennert, mit dem Schwarzen Mohr im kleinen Fenster und dem Papagei im Hängebauer.
Die Leute holten 4 Stück Zigarren für 10 Pfg., die feineren 3 Stück oder für 1 Sechser Priese und Priem.
Neben dem Zigarrenladen ist das einzige Kräutergewölbe der Stadt, Hoffmann-Pinther, ein kluger Mann, aus Bayern zugereist. Hatte Paula Kneiperchen oder Friede ein faustgroßes Loch im Kopp, dann zog die ganze Karawane ins Kräutergewölbe.
Beim Anblick der vielen Dosen stand Friedes Blut stille und Paulan wurde wohler im Bauch.
So brachte das Haus seinen Segen.
Collegienstraße 86 war anders.
Es hatte neben der Haustür nur 3 Stubenfenster.
Aus einem hing Tag und Nacht ein braunes Spinnrad.
Am andern Fenster saß ein alter Mann mit weißen Ringellocken, der Besitzer Gottfried Pflaumer. Er hat uns nie
was getan, wenn wir ihn aber sahen, sprangen wir schnell auf
die andere Straßenseite und landeten vor dem Haus
Collegienstraße 9, Lindau.
Dieser war uns trotz seines schwarzen Vollbartes sympathischer.
Er hatte erst kleinere Kinder und seine Tante Marie, dafür aber eine richtiggehende Gans im Fenster.
Diese war von den Treibergänsen, die man in großen Scharen durch die Stadt trieb, vor Lindaus Türe verendet.
Lindau wollte sie nicht braten, wir brachten sie zu Büschers
Onkel Riek, der sie ausstopfte und zu Lindau schickte. Dort
überlebte sie als Dekorationsstück fast alle Leute des Holzmarktes.
Collegienstraße 10, Bastian, hat unten 3 kleine Fenster und
einen spitzen Giebel. Es ist bewohnt von „2 Männern und 2
Frauen“. Wir nannten sie beim Vornamen.
Gustav war Schaffner und Gründer des Kriegervereins.
Karl war Schuster, er zog auch Zähne, indem er den Zahn im Unterkiefer mit Draht befestigte, den er an der Stubendecke einhakte. Man stieg auf den Schusterschemel, den er umkippte, und der Zahn war raus.
Beim Oberkiefer setzte man sich, der Draht wurde am Fußboden eingehakt und Karl stach mit spitzem Pfriem in den Hintern.
Der Patient, der aufsprang, hatte einen Zahn weniger, Preis 5 Silbergroschen.
Emilie, eine kleine Person, versah die Wirtschaft.
Klara war Dichterin, hatte mit der Gräfin von Wiesenburg zusammen studiert und dieser mit der Zeit so viel Geld abgedichtet, daß das Haus verschuldet war.
Das Zahnziehen war das einzige Geschäft, denn man kannte in Wittenberg weder Zahnarzt noch Dentist, dafür aber 80 Schuster. Die Jugend vom Holzmarkt trieb immer im Hause ihren Unfug. Seitdem aber Klara uns das Gedicht über Wittenbergs Zukunft schickte, schlossen wir Frieden.
Wir sind nun Collegienstraße 11 – Holzmarktecke, der Besitzer Ackermann und Kraatz. Seine Kinder sind Spielgefährten am Holzmarkt und Kirchplatz, weshalb das alte Haus täglich durchstöbert wird.
Hart am Hause Bastian ist die tiefliegende Haustür mit Stufen. Einige Jahre später prangte hier ein Schild:
Dr. Thassilo Schmidt, prakt. Arzt, Sprechstunden immer.
Die Holzmarktjugend hatte den bekannten Arzt aus der Festungshaft Magdeburg befreit (Gnadengesuch).
Rechts der Haustür ein kleines Schaufenster mit einem vom alten
Demuth gedrechselten Zuckerhut als dauernde Dekoration.
Der sehr kleine Mann hat einen mächtigen Ast, und wenn er am
Schluß der Schützenkompanie marschiert, tragen wir sein viel
zu großes Gewehr. Sonst ist Kraatz ein sehr fleißiger Mann,
denn er hat viel Kinder. Im Laden gibt es alles für den Bedarf.
Wir stehen auf gutem Fuße mit ihm, weil er die Bonbons nicht
wiegt, wie Gerischer. Deshalb holen wir auch bei ihm den ganzen
Schnaps für die Umgebung.
Direkt neben seinem Laden ist ein Blumenladen, August Schulze, auch ein fleißiger Mann mit viel Kindern.
Er war aber später bei der Regimentskommandeuse in Ungnade gefallen, mußte den Laden abgeben.
Der Nachfolger war Otto Zimmermann, jetzt Markt 8.
Wir bestaunten sein erstes Blumen-Velociped, was sich sogar drehen sollte. Solche Dinger fuhren noch nicht in Wittenberg.
Sie wären auch mit der neuen Pferdebahn zusammengestoßen und vom alten Rehm eingesperrt worden.
Auf der Holzmarktseite ist noch ein schmaler Laden mit noch schmälerem Schaufenster, den ein Uhrmacher bewohnte.
Damit die eine Kuckucksuhr mit dem blanken Terkenpipel
( richtig wäre: Perpendikel) nicht gestohlen wurde, schlief der Besitzer, Paul Köhler, jetzt Markt 23, mit dem Kopf im Schaufenster. Gingen wir zur Schule, stockelten wir durch die Luftlöcher so lange in die Nase des Schlafenden, bis er aufsprang.
Noch ein Stück näher zur Plumpe lag der Expreßversand Wittenberg. Die Ansichtskarte war noch nicht erfunden, jeder Brief bekam einen Groschen. Man schickte
mit Expreß für einen Dreier, bis die Reichspost die Konkurrenz verbot.
Zum Schluß stand am Holzmarkt-Kirchplatz-Durchgang das Haus, was zu Mittelstraße 62 zählt, mit der Zimmermannschen Buchhandlung.
Die Besichtigung der Indianerschmöker im kleinen Fenster war täglich Anlaß zu wilden Kämpfen auf dem Schulweg.
Und der alte Hase auf der Holzmarktplumpe lachte dazu.
Er kann es immer noch.
Als das Hochwasser 1432 bis zum Wasserstein am Elbtor stieg, war er die Elbgasse hoch über den Markt gelaufen.
In seiner Angst lief er durch die Holzmarktschluppe und sprang
auf die Plumpe.
Als halb Wittenberg ihn suchte, hat er sich totgelacht, und das macht er öfter. So lehrte es uns unser Lehrer „Haase“, der es ja wissen muß.
Zum Holzmarkt gehören noch Menschen, die ihn täglich betraten.

– Nr. 1, der Türmer Kantum, holte täglich von der Plumpe Wasser
und brachte es zum Aufzug hinterm alten Gymnasium.
Dann schritt er über den Holzmarkt zu Knapens Frieden (jetzt
Bosse). Dort saßen bereits Pinkert, der Schneider, Thiele,
der Hechtkopp und der rote Faust. Letzterer regelte bei Bränden die Wasserzufuhr, indem er auf den Schlauch trat, bis das
Haus in Asche lag.
An der Theke standen 3 große Gläser mit Gurken, Soleiern und Heringen. Darüber der Spruch:
Glücklich ist, wer verfrißt, was nicht zu versaufen ist.
Alle drei arbeiteten nicht viel, behaupteten aber:
Bei uns gibt’s bloß 2 Feiertage, das ist Kaisers Geburtstag und der 1. Mai. Dann kamen sie auf den Schnaps zu sprechen und sagten:
Da reden de Leite immer wat von Alkohol, wat brauchen wir Alkohol,
wenn wir Schnaps haben?
Auf Kantums Platz stand schon der erste halbe Liter Nordhäuser mit Rum. Um 12 Uhr waren sie soweit, daß sie den Kaiser absetzen wollten, dann transportierte sie Knapens Friede auf die Straße.
Dreie schleppten sich nach Hause, nur Kantum kam bis zur
Plumpe, wo er einschlief.
Plötzlich ein scharfer Pfiff vom Herbergsvater, die Jugend stürzte herbei, geleitete ihren Freund zum Aufzug-Behälter, und hoch zum Turm reiste Kantum.
Dafür holten wir uns junge Käuzchen, Dohlen und Tauben aus dem
Kirchengebälk.

– Nr. 2 war Barbier Wirrmann. Damals gingen noch die Schaber für
einen Sechser zur Kundschaft, und Wirrmann fing Holzmarkt
Nr. 2 an.
Dort wohnte der Rammelmeister (Steinsetzer) Schlawig mit 4 Kindern. Hatte Wirrmann den Holzmarkt abgekratzt, trank er bei Knapens Frieden eine kleine Braune. Sofort hielt jeder das Maul, und die Jugend machte ihm eine lange Nase. Er hatte in seiner Blechdose den abgekratzten Seifenschaum vom Holzmarkt und verstand es diesen mit unfehlbarer Sicherheit demjenigen ins Maul zu schleudern, der es aufmachte.
Wir ließen Wirrmann nichts verdienen. Wir schnitten uns die Haare selber und trugen sie zur Apotheke. Dort prangte ein Schild mit
Klingel und Aufschrift:
Wer Bürsten will, muß klingeln, Max Friesicke, Bürstenfabrikant. Hier ließen wir die Haare. Hier klingelten 6 – 8 Mann eine halbe Stunde, kriegten einen Groschen, setzten ihn in Bonbons um und keilten sich noch nach Stunden deshalb. Alles für einen Groschen. Das Gegenteil von Wirrmann war der Geheimrat Wachs, ein Mann, der sich um die kleinen Leute und um die ganze Stadt kümmerte. Damals hatte Wittenberg sogar 2 Ärzte, Wachs und Korthmann, zu denen später Erwin Wachs jun. trat.
Der alte Geheimrat ging täglich die Schloßstraße herunter.
Eine hübsch zurechtgemachte junge Frau sieht aus dem Fenster. „Na, Gretchen! Kommste denn mit Deinem Wirtschaftsgeld aus?“ „Det ich nich wüßte, Herr Geheimrat, immer noch een bißchen zuverdienen!“
Am Markt links benutzt er die Verlobungsplatten, begrüßt im kleinen Laden an der Marktecke die Gebr. Poccar (der dicke Karl hieß Poccarsch, der Glaser Gustav Glasarsch), und ging dann die Collegienstraße bis zum Holzmarkt.
Über diesen und Kirchplatz hinweg zum alten Gymnasium. Unterwegs praktizierte er gleich.
Heute schreit an der Bürgermeisterstraße eine junge Frau:
„Herr Geheimrat! Mein armer Junge! Ich habe eine biochemische Hausapotheke und der Dreijährige hat die ganzen Medikamente aufgegessen! Der arme Junge!“
Der Alte fragt:
„Hat er denn die ganzen Pappkartons mit aufgefressen?“
„Nei-ein!“
„Na, denn schadet’s nichts, davon wird er groß.“ Weiter geht’s bis Leonhards Ecke, wo zwischen den Gelegenheitsarbeitern der
kleine Schneider von Holtzhausen steht. Seine Nase ist
faustdick, die Augen blitzblau, ein Ohr fast abgerissen.
„Nanu, was hast Du denn gemacht?“
„Meine Braut hat mich so zugedeckt! Bringen Sie mir bloß schnell in Ordnung! In 8 Tagen sollen wir heiraten, sie ist Perfekte im Bums!“ Beide begehen die Coswigerstraße und sind kaum bis zur Steinbrücke, als eine Frau in den besten Jahren den Alten unterhakt und mit ihm in ein Haus verschwindet. Oben im kleinen Zimmer dreht ihm das junge Mädchen den Rücken zu.
„Angst! Angst!“
„Nur keine Angst, liebes Fräulein! Ich habe Ihr Fräulein Mutter behandelt, ich habe Ihr Fräulein Großmutter behandelt, wir sind uns doch nicht fremd!“ So wird er beliebt bis an sein Ende.
Ein anderer Mann aus dem Straßenbild war Papsel-Klebing. Er hatte das heutige Würstchen erfunden, konnte es aber nicht zur Geltung
bringen, weil sein kleiner Laden in der Mittelstraße lag und
von Fischer – Collegienstraße blockiert wurde. Papsel ließ
sich einen Kessel machen, den er mit Spiritus heizte und um
den Bauch band. Er verkaufte in Kneipen, Geschäften und besonders auf der Straße. Weil die Wurst nicht kochen, sondern
nur ziehen mußte, nannte man sie Zießchen, und wir Kinder
sangen:

Papsel mit dem Zießchenkasten, schumheidi und tralala,
Trägt die Wurst mit schweren Lasten, schumheidi, heida,
Geht die Straßen hin und her, kauft denn keiner
Zießchen mehr? Schumheidi, schumheida, traleralera!

Fleischer und Bäcker hatten besondere Privilegien,
z. B. wurde jemand Fleischermeister, so führten 2 Gesellen den voll bekranzten Meisterochsen, mit 2 Zitronen auf den Hörnern, Strauß
am Schwanz, durch die ganze Stadt.
Ein Lehrling verkündete beim Halten:
Unser Altgeselle Albert Künast macht beim Gottlieb Karius seinen Meister. Dieses herrliche Rindvieh wird dazu geschlachtet, und wir bieten an:
– Filet a Pfd. 6 Groschen,
– Gehacktes 4 Groschen,
– Schwanz für die Suppe gibt’s zu.
Die Bretzel-Mine hatte einen Waschkorb vorm Bauch mit Firma Kraatz, Garz oder Flemming, gefüllt mit Fastnachtsmohn-,Zimt-, Pfannkuchenbrezeln usw.
6 Stück einen Groschen.

Zu dieser Zeit wurden auch die Apfelsinen und Bücklinge erfunden, die wir aber beim alten Pohl nur beschnuppern durften. Fragt man, wie sich Wittenberg amüsiert hat, so muß man auf die vielen Vereine hinweisen.
Jedes Gewerbe hatte seinen Verein.
Hinzu kamen Feuerwehr, Schützen-, Gesangverein usw.
Es regnete Einladungen, denen der Eingeladene nicht nur nachkommen mußte, sondern er mußte sich auch revanchieren. Ferner hatte jede Gastwirtschaft ihre eigene Kirmes, Erntefest, Fastnachten, bei welchen besonders die Frauen unvorstellbare Mengen Kuchen verschluckten.
Die Männer spielten Pinckel mit 2 Spiel Karten, Schafkopp,
Meine-Tante-Deine-Tante, manchmal auch Skat. An schönen Sommertagen oder bei guter Schlittenbahn kam der Pferdesport zur
Geltung, 10 – 15 Schlitten, geschmückt mit Fahnen und Schellengeläut, auf der Pritsche der Knaller mit der 2 m langen Peitsche, fuhren nach Coswig oder Straach.
Dort war Topfschlagen, Sackhuppen, Wurstschnappen, Hammelreiten.
Nicht selten bekam ein 13 – 14jähriger Junge, aufgewachsen mit dem Pferd, den Hammel als Sieger.
Sonntags war überall Tanz.
Für den Bezirk Holzmarkt-Collegienstraße existierte die „Bratpfanne“, weil der kleine Saal am Stadtgraben meist so überfüllt war, daß die Gäste am lebendigen Leibe brateten.
Oben an der Decke hockten 3 Musiker.
Der vollbärtige Menz blies den Baß, der lange Kleber die Trompete und der Zwerg Pflug das Zickenbeen, die Klarinette.
Kassierer war Schuster Sperling, genannt Spatz.
Man zahlte für den Abend 3 Silbergroschen, erhielt einen fingerdick mit Gold beschmierten Stern angehoften, Soldaten und Damen die Hälfte, Stammgäste tanzten frei. Um 16 Uhr trat die kleene Anna, in ihrer ganzen Größe von 172 Pfd. Lebendgewicht in die Saalmitte. Anna war Berlinerin, sie sorgte auch für Ordnung und mamsellte bei Fleischer Schulze.
Wer besoffen war, flog durch das Saalfenster in den Garten.
Jetzt rief sie:
Der Tanz beginnt. Jungens knöppt de Klappe uff. Sie tanzte den ersten Polkaschlager und sang:
Muß et denn, muß et denn immer jleich vaheirat’t sin?
Kann man denn, kann man denn nich eene Nacht ma selig sin? Schade is um jedes Jlück, war een Mann vapaßte,
drum nütze jeden Ojenblick, denn wat de hast, det haste.
Die Musik konnte nur 4 Tänze,
– diese Polka,
– einen anständigen Walzer
– Unser Kaiser liebt die Blumen (rechtsrum),
– einen gemischten Walzer (linksrum)
mit Backe an Backe: Schifferin du Kleine.
Als letzten den Rheinländer offen:
– Im Grunewald ist Holzauktion.
Die Tänzerinnen waren das ausgesuchteste Material von Wittenberg. Da saß die schwarze Minna, aufgedonnert wie eine Panzerfregatte, neben ihr die Sternkiekersche (weil sie schielte), die rote Loni neben der Pinkelfrieda.
Letztere konnte beim Lachen das Wasser nicht halten.
Und viele andere, wohnhaft zwischen Holzmarkt
und Neugasse, Stammgäste der Bratpfanne, lustige fleißige
Mädchen.
Als der Zwerg Pflug starb, gingen sie alle mit.
Die Holzmarktjugend bearbeitete beim Bildhauer Ehrenberg seinen Leichenstein.
Auf der Vorderseite stand zu lesen:
Hier ruht der Musikus August Pflug,
der seine Frau, die Kinder und die Pauke schlug.
Wo sind sie alle geblieben? – 70 Jahre gingen darüber hin, nur ganz wenige Menschen von damals leben noch.
Kommt einer von den Wenigen in den Holzmarkt, so steht er und sucht jedes Loch, jedes Fenster ab. Alles soll besser
geworden sein, nur die Menschen nicht.
Der sorgenlose, fleißig-ehrliche Wittenberger ist ausgestorben. Deshalb ist dem alten Hasen auf der Holzmarktplumpe auch das Lachen vergangen.

Wer’s nicht glaubt, soll ihn sich ansehen.

***

Diese Erinnerungen wurden am 23. November 1953 am Stammtisch
im „Goldenen Adler“ von Otto Bendler vorgetragen, mit den
folgenden später zusammengestellt und als Zeitdokument für
Interessenten dem Adlerwirt Ernst Appelt übergeben.

***

 

a

Auf dem Heimweg vom Stammtisch stehe ich an der Ecke des
Hamlethauses, als die Turmuhr zum Schlage 12 aushakte.
Da stürmen aus Mittelstraße 2 mehr als 30 Kinder. Sie tanzen
um die Plumpe, auf deren Dach ein Junge Musik macht. Alles
singt mit:

Brausen auch Stürme kalt über die Auen,
Mag nur im Heimatland Hütten erbauen…

Plötzlich pfeift der Herbergsvater, alles stürzt durch die Holzmarktschluppe in den Kirchenplatz.
Dort werden sie Kopfstehen und Handlauf üben, aber als ich hinkomme, ist alles verschwunden.
Fuhren sie in Kantums Aufzug in den Himmel?
Ich stehe unterm Schweinedenkmal an der Kirchenecke und
begreife erst jetzt:

Das waren die Holzmarktkinder
Einst Freude unserer Stadt,
die um die zwölfte Stunde
Gott rausgelassen hat.

***