Das absprechende Urteil über die Landschaft bei Wittenberg ist ebenso alt als oberflächlich und falsch.
Gewiß ist in ihr nicht das zu finden, was der moderne Gebildete unter landschaftlicher Schönheit versteht; ihr fehlt die Mannigfaltigkeit der Gebirgslandschaft, die alljährlich Tausende in die Alpen oder in die deutschen Mittelgebirge lockt.
Und doch besitzt die Landschaft bei Wittenberg ihre eigenartigen Schönheiten, die der Geograph Ratzel mit den treffenden Worten charakterisiert:
„Unser Urgroßvater war besser daran, den zwar nicht die Alpen oder das Riesengebirge lockten, der aber in diesen wohlangebauten Flächen mit ihren Wiesen, ihren Wäldern und den unter alten Bäumen begrabenen Dörfern sein Ideal landschaftlicher Schönheit sah. Er war zufriedener mit seiner Heimat und würde seinen Urenkel bedauert haben, der so wenig daraus zu machen weiß.
„Bei aller Mannigfaltigkeit zeigt die Wittenberger Landschaft eine wohltuende Einheit. Und dieser einigende Zug tritt uns auch entgegen in den Spuren der unermüdlichen menschlichen Tätigkeit, die nicht ruhte und rastete, bis sie die Gegend vollkommen in eine Kulturlandschaft verwandelt hatte. Ihren Höhepunkt erreicht sie in dem besonders in der nördlichen Vorstadt von Wittenberg betriebenen Gartenbau, dessen Erzeugnisse weithin versandt werden. Seine Spezialität bildet die Zucht der Maiblume, die oft ganze Felder einnimmt und zur Blütezeit die Luft mit ihrem Dufte erfüllt.

aus: Archiv des HV WB
Die Lutherstadt Wittenberg liegt am Rande einer weiten fruchtbaren Ebene, die der von Schiffen belebte Elbstrom in breitem Bette durchflutet. Zwei Brücken überspanne ihn, von denen die eine die wichtige Schienenstränge Berlin-Halle-Leipzig trägt, während über die danebenliegende Straßenbrücke der übrige starke Verkehr drängt.
Den Fluß begleiten zu beiden Seiten weite Wiesenflächen, in welche dunklen Eichenwälder der Propstei und Fleischerwerder sich einbetten, während hier und da größere und kleinere Seen – die Reste des alten Elblaufs – wie blitzende Augen aus grüner Umrahmung hervorschauen.

Über den schützenden Elbdeich hinweg trifft der Blick wogende Getreidefelder, die dichtgelagerte wohlhabende Dörfer einschließen, deren rote Ziegeldächer sich im Kranze blühender Obstbäume zu verstecken suchen. Wie ein dunkler Rahmen schließen das Bild im Süden die bewaldeten Höhenzüge der Dübener Heide ab – das sonntägliche Ausflugsziel der Bewohner der Lutherstadt. Der Name „Heide“ ist irreführend, denn wir haben es hier nicht mit einer Heide im landläufigen Sinne dieses Wortes zu tun. Die Dübener Heide ist vielmehr eine bis 180 m ansteigende bewaldete Hügellandschaft, die in vielen Teilen an die Thüringer Landschaft erinnert.
Einen besonderen Reiz bietet die Wittenberger Landschaft bei dem häufigen Hochwasser der Elbe. Die ganze Gegend gleicht dann einem einzigen wogenden See, dessen Grenze die scharfe Linie des Elbdammes bildet, und aus dem die Wälder als dunkle Inseln aufsteigen.
Im Norden begrenzt das breite Elbtal der Fläming, dessen Abhänge bis dicht an die Lutherstadt heranreichen. Auch an dieser Landschaft hat die Wirklichkeit vieles gut zu machen, denn sie ist durchaus besser als ihr Ruf. „Ländeken, du bist ein Sändeken,“ dieser allerdings unbeglaubigte Ausspruch Luthers über dieses Gebiet hat längst seine Geltung verloren, seitdem die Fortschritte der Landwirtschaft den Fläming trotz der Spärlichkeit seiner Naturbedingungen in eine Kulturlandschaft umwandelten. Abgesehen von einzelnen Flugsandstellen und den mit den rotleuchtenden Blüten des Heidekrauts besetzten Strecken, die der Mühe des Landmanns spotten, wird der Boden allenthalben angebaut und liefert gute Erträge. Vor allen Dingen begegnen dem Auge weitausgedehnte Roggenfelder, die dem Fläming den Ehrennamen „Kornkammer Sachsens“ verschafften.
Daneben erstrecken sich umfangreiche Waldungen, die in ihrer Mischung von Kiefer, Birke, Akazie und Eiche nicht ohne Reiz sind, zumal ihr Gebiet neben tiefeingeschnittenen Tälern Erhebungen bis zu 200 m aufweist.
So bietet die landschaftliche Lage Wittenbergs nach den verschiedenen Seiten hin Anziehendes genug, das jeden erfreut, der sich einen offenen Blick für ein charaktervolles Landschaftsbild bewahrt hat.