Wenn die Hungersteine gucken

Im Gegensatz zu den Hochwasserkatastrophen lässt der absolute Pegelstand bei Niedrigwasserkatastrophen keine abschließende Beurteilung zu. Hier muss vielmehr die Zeitdauer der Niedrigwasserperiode und deren Einfluss auf die Wirtschaft und Fahrensleute betrachtet werden.
Während bei allgemeinem Niedrigwasser etwa 200 m³ Wasser in der Sekunde durch die Elbe abgeführt werden, sinkt diese Zahl bei extrem niederen Wasserständen bis auf 100 m³/s.
Derartige Fälle traten seit 962 etwa 70mal auf.
Die niedrigste abgeführte Wassermenge wurde am 28. Januar 1909 in Decin (CSSR) mit 34 m³ /s gemessen.
Die „besondere Notlage“ für die Bevölkerung deutet sich bei Erkennen der sogenannten: „Hungersteine“ an.
Dies sind größere Steine mit der Aufschrift
„Wenn du mich siehst, dann weine!“.
Nicht ohne Anlass wurde dieser Satz von der aufs äußerste betroffenen Bevölkerung mühevoll in die Felsquader eingemeißelt.
Seitdem auf der Elbe regelmäßiger Schifffahrtsbetrieb herrscht, kam es 1904 zu einer Kleinwasserkatastrophe, die schwere Folgen für die um ihre Existenz ringende Elbeschifffahrt hatte.
Der Wittenberger Pegel war gar nicht mehr aussagefähig, die Teilung der Pegellatte reichte nicht einmal mehr bis zum Wasser

 Die SchifffahrtsgeseIlschaften mussten am 14. Juli 1904 den regelmäßigen Schifffahrtsverkehr für geschlossen erklären und erst Mitte Oktober konnte mit beschränktem Tiefgang der Schiffe die versuchsweise Eröffnung des Schifffahrtsbetriebes erfolgen.
Völlig normal gestaltete sich der Verkehr dann erst ab November 1904.
Durch ein reichliches Güterangebot und 100 prozentige Ausnutzung der Ladefähigkeit der Schiffe konnte zumindest ein Teil der eingetretenen Verluste wettgemacht werden.
1911 gab es wiederum eine Kleinwasserkatastrophe, die in ihren Folgen diejenige des Jahres 1904 noch weit übertraf.
In diesem Jahr mußte auch im Juli der Schifffahrtsbetrieb gänzlich eingestellt werden, konnte aber bis zum Jahresende nicht wieder aufgenommen werden.
Somit brachte das Fehlen des „Herbstgeschäftes“ die Schifffahrt in eine ganz besondere Notlage.
Selbst seitens der damaligen Regierung blieb eine Unterstützung, wie z. B. Erlass der Winterhafengebühren, Stützung der Frachtsätze, Senkung der Steuern usw. aus, sie ergriff eher Maßnahmen, die den Ruin der Schifffahrt begünstigten.
Die anhaltende Hitzeperiode brachte in den meisten Teilen des Landes Missernten bei Kartoffeln, Gemüse und Futtermitteln und für die Landwirtschaft wurden Sondertarife für den Gütertransport per Bahn eingerichtet.
Diese Vergünstigung sollte bis zum Juni 1912 zur Anwendung kommen und zu allem Überfluss wurden auch die Massengüter der Schifffahrt, wie Futtermittel, Mais und Düngemittel einbezogen. Diese Maßnahme erregte die schifffahrttreibende Bevölkerung und den berechtigten Unmut brachten die Schiffergenossenschaften, Schiffervereine und sonstige zuständige Korporationen in Resolutionen und Eingaben bei der Regierung zum Ausdruck, die allerdings diesem Notschrei kein Gehör schenkte.
Da 1934 und 1935 wieder Jahre mit extrem niederen Wasserständen (0 bzw. 2 cm am Wittenberger Pegel) auftraten, musste der Pegelnullpunkt an der Wittenberger Elbbrücke um 1 m (auf 62,44 m über dem Meeresspiegel) tiefer gelegt werden, um nur positive Werte auszuweisen.
Diese Maßnahme zahlte sich bereits aus, denn 1952 wäre beim alten Nullpunkt ein Wasserstand von – 6 cm aufgetreten.
Zum Glück währten diese Niedrigwasserstände nicht so lange wie 1904 und 1911.
Allerdings wurde auch 1964 und 1976 die Schifffahrt gezwungen, den Verkehr auf der Elbe über Monate völlig einzustellen.

Karl Jüngel †

***

aus: Freiheit vom Juni 1980