Als einer der letzten Wittenberger Tuchmacher starb

Tuchmacher-Zunftzeichen mit  Kardierbürste und Tuchschere

Im Juli 1912 starb der vorletzte Wittenberger Tuchmacher Franz Arnold, nur sein Schwager, der damalige Auszügler Gustav Henze in der Charlottenstraße, 90jährig, war dann wirklich der allerletzte dieses Gewerbes.
Arnold, am 02.08.1826 in Wittenberg geboren, hatte das Tuchmacherhandwerk erlernt, später als Geselle bei den Meistern Prädikow und Tamm gearbeitet.
Er hatte noch die alte Zeit dieses einstmals in Wittenberg blühenden
Gewerbezweiges kennengelernt, alte Handwerksbräuche miterlebt, das Gesellenwandern betrieben.
Noch 1850 hatte Wittenberg 20 Meister, die mit 120 bis 130 Gesellen und 25 bis 30 Lehrlingen beste Tuche herstellten, die nicht nur auf dem eigenen Markt, sondern auch auf den Messen in Leipzig, Naumburg und Braunschweig zum Verkauf kamen.
Doch von da ab trat langsam, aber immer beständiger ein Rückgang ein. Jahrhundertealte Handwerkerstuben mussten schließen, die Gesellen gingen als ungelernte „Handarbeiter“ zum Bahnbau oder in die überall erschlossenen Braunkohlengruben rings um Wittenberg. Im September 1904 schloss endlich auch die sich bis zuletzt gehaltene Tamm’sche Tuchfabrik in Labetz wegen Unrentabilität.
Eine neue Zeit war für Wittenberg angebrochen. Die Festungswälle waren eingeebnet oder zu Parkanlagen gemacht, die alten Gräben trockengelegt und das Wasser in schönen Teichen gesammelt.
Die Arbeiter gingen oder fuhren, zuerst nur wenige, dann aber mehr
und mehr in die Fabriken der westlichen Vororte.
Wittenberg wurde Industriestadt. Die Maschine hatte in neuen, großen Fabriken die Arbeitsproduktivität ins bisher Unfassbare
gesteigert.
Die Aktionäre in Berlin und im westlichen Deutschland schöpften aus den Wittenberger Filialbetrieben riesige Gewinne, während sich der Reallohn des Wittenberger Arbeiters ab 1880 dauernd senkte. Es bildete sich das Proletariat, das um seine Rechte kämpfte.
Der „alte Arnold“, wie er genannt wurde, war bis kurz vor seinem Tode Postholer für die „Wittenberger Zeitung“ gewesen, er verstand die „neue“ Zeit nicht mehr.
Viele Faktoren sprachen dabei mit, dass ein solches bodenständiges Handwerk zugrunde ging. Doch fest steht, dass die Festung Wittenberg keine Erweiterung des Betriebes zuließ, man webte
weiter mit der Hand und sah belustigt auf die Nachbarstadt Luckenwalde, die so teure Maschinen kaufte, und man merkte nicht, wie es unaufhaltsam bergab ging.
Nur ein Großbetrieb mit den neuesten Webstühlen hätte die Fachkräfte aufnehmen können, doch es konnte sich unter diesen ökonomischen Bedingungen kein Kapital bilden, was dazu fähig
gewesen wäre.
Als Arnold starb, war der Kapitalismus bereits vom Imperialismus abgelöst.
Wittenberg hatte gleich den großen Sprung in diese letzte Phase des Kapitalismus getan. Der Kapitalismus hatte seinen Siegeszug antreten können, weil er durch die Schaffung von großen
Produktionsstätten, durch die Anwendung und Ausnutzung der sich ständig erweiterten Erfindungen und der Erforschung neuer Rohstoffe usw. dies alles richtig anzuwenden vermochte.
Dabei waren ihm alle Mittel der zunächst extensiven, späteren intensiven Ausbeutung der Arbeiter und Angestellten recht.
Mit dieser enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität war es ihm gelungen, seine Machtpositionen zu festigen.

Heinrich Kühne†

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aus: Freiheit vom 08.02.1963