Die Erfindung des Dampfwagens und sein weiterer Ausbau bedeutet einen gewaltigen Triumph des menschlichen Geistes und den Anbruch eines neuen Zeitalters.
„Gut Ding will Weile haben“, sagt ein Sprichwort, und das gilt auch vom Eisenbahnbau in Deutschland.
Während in England 1814 Georg Stephenson die erste Dampflokomotive baute, schon längere Zeit die Eisenbahnen fuhren, war Deutschland infolge seiner Kleinstaaterei, die zwischen den einzelnen Ländern und Ländchen Zoll- und Verkehrsschranken aufgerichtet hatte, die jedes gemeinsame Unternehmen hemmten, unfähig, eine so hochbedeutsame Einrichtung zu entwickeln.
Erst am 7. Dezember 1835 konnte die erste Eisenbahn in Deutschland auf der sechs Kilometer langen Strecke Nürnberg – Fürth fahren und damit alle Bedenken und üblen Voraussagen der Schwarzseher und Nörgler widerlegen.
Ihr folgte 1839 die Eröffnung der Eisenbahnstrecke Berlin – Potsdam, der sich im Jahr 1841 die für unseren Heimatkreis so wichtige Berlin – Anhalter Eisenbahn anschloß.
Wie alle zuerst gebauten deutschen Eisenbahnen verdankt sie ihr Entstehen privat Unternehmungsgeist der Berlin – Anhaltischen Eisenbahngesellschaft.
Sie war die erste Eisenbahn, die Wittenberge berührt, und von der größten Bedeutung für unsere Lutherstadt und ihre Umgebung.
Da der Schienenstrang nicht durch die Festungswerke gelegt werden durfte, so verlief die Linie wesentlich anders als heute.
Sie führten von Wittenberg aus nördlich an die Festungswerke vorüber in westlicher Richtung nach Köthen (Anhalt), um dort den Anschluss nach Halle, Leipzig und Magdeburg zu gewinnen.
Der Wittenberger Bahnhof befand sich im Westen der Stadt,
da, wo jetzt sich das NS.- Frauenheim (das frühere Gastlokal „Schweizergarten“) sich befindet, und war recht schlicht und klein. Erst im Jahr 1859 kam die Verbindungsstrecke Wittenberg – Halle hinzu, nachdem von 1857 bis 1859 die Eisenbahn – Elbbrücke fertiggestellt war.
Gleichzeitig verlegte man den Wittenberger Bahnhof vor das Elstertor. Da mit dem steigenden Verkehr sich dieser als unzureichend erwies, so musste er durch ein größeres Bahnhofsgebäude ersetzt werden, das am 13. November 1877 dem Verkehr übergeben wurde.
Im Juli 1888 wurde der Bahnhof mit der Stadt durch die Rettigsche Pferdebahn verbunden, die im Jahre 1921 unter der Ungunst der Zeit ihren Betrieb einstellte und durch eine Auto-Omnibuslinie ersetzt wurde.
Der Bau der Berlin – Anhalter Eisenbahn hatte mit mannigfachen Schwierigkeiten zu kämpfen, namentlich hinsichtlich der Geländeabtretung – auch im Kreise Wittenberg.
Die Flämingsbauern waren besorgt wegen der Zerreißung ihrer Äcker und befürchteten von den Eisenbahnzügen Gefahren für Menschen und Tiere.
Die Einwohner von Mellnsdorf wandten außerdem gegen den Eisenbahnbau ein, dass durch ihn der bisherige Schulweg nach Blönsdorf verlegt und ihre Kinder genötigt werden sollten, den 400 Schritte längeren Fahrweg zu benutzen.
In einer deswegen an die Regierung zu Merseburg gerichteten Eingabe des Pfarrers Hoppe in Blönsdorf, als Vorsitzender des Schulvorstandes, rechnete dieer in ergötzlicher Weise folgendes vor:
„Da nun solcher Schulweg von den Kindern täglich zweimal her- und rückwärts gemacht werden muss und ein Kind, besonders ein kleines, aus einem Männerschritt wenigstens zwei mache, so müsse ein Kind künftig täglich 1600 Schritte und jährlich bei 300 Schultagen 480 000 Schritte mehr tun, so dass die dasigen Schulkinder, 18 durchschnittlich, alle Jahre 8 640 000 Schritte mehr zu machen haben würden. “
Die Merseburger Regierung lehnte aber unter Hinweis auf die Nützlichkeit der Eisenbahn gerade auch für die Einwohner von Mellnsdorf das Gesuch ab.
Als Eisenbahnstation auf dem heimischen Fläming war ursprünglich Klebitz oder Mellnsdorf in Aussicht genommen.
Von den dortigen Bauern wollte aber keiner das Land dazu geben. Deshalb trat die Eisenbahngesellschaft an Blönsdorf heran.
Doch auch hier konnte sich kein Bauer entschließen, von dem von den Vätern ererbten Grund und Boden etwas ab treten.
Nach längeren Verhandlungen erbot sich der Pfarrer und Gemeindekirchenrat, aus dem Landbesitz der Blönsdorfer Kirche die für die Bahnstation mit Güterschuppen, Bahnhofswirtschaft und Arbeiterhaus erforderliche Fläche bereitstellen.
Aber welche Ironie!
Die Bahnstation erhielt nicht die Bezeichnung „Blönsdorf“, sondern „Station Seehausen“.
Und diese Namen behielt sie 16 Jahre lang.
Erst am 1. Januar 1858 wurde diese Bezeichung in „Station Blönsdorf“ umgewandelt, um künftig die wiederholte Verwechselung mit Seehausen i.d. Altmark zu vermeiden.
Nach Beseitigung der gekennzeichneten Schwierigkeiten schritt nun der Bahnbau rüstig fort, und zwar wurde in zwei Teilabschnitten gebaut:
Köthen – Wittenberg und Berlin – Wittenberg.
Die erste Teilstrecke Köthen – Wittenberg wurde am 28. August 1841 dem Verkehr übergeben, und zwar mit je einem Personenzuge täglich nach jeder Richtung, der vormittags 8 Uhr von Köthen nach Wittenberg und nachmittags 3 Uhr von Wittenberg nach Köthen abfuhr.
Am genannten Tage sah Wittenberg also den Eisenbahnzug, der von den Einwohnern mit Bewunderung und Freude begrüßt wurde.
Am 10. September 1841 erfolgte die Eröffnung der zweiten Teilstrecke Berlin – Wittenberg mit je zwei Personenzügen täglich nach jeder Richtung, womit nunmehr die ganze Linie Berlin – Wittenberg – Köthen vollendet war.
Die Eröffnung wurde mit einem Festessen im Wittenberger Bahnhofsgebäude gefeiert. Seltsamerweise berichtet das damalige „Wittenberger Kreisblatt“, das einmal wöchentlich im Verlag von Rübener erschien, über dieses wichtige Ereignis nicht das geringste. Nur in Nr. 38 vom 18. September 1841 findet sich eine Bekanntmachung der Berlin – Anhaltischen Eisenbahngesellschaft, in der es heißt:
„Der Wagenzug kommt täglich an in Wittenberg
– 1. von Berlin nach Wittenberg, Coswig, Dessau, Köthen vormittags 10 Uhr 45 Minuten, nachmittags 3 Uhr 48 Minuten;
– 2. zurück von hier nach Berlin vormittags 9 Uhr 52 Minuten, nachmittags 2 Uhr 52 Minuten.
Der Aufenthalt bei der Durchfahrt dauert etwa 5 Minuten.
Die Einrichtung weiterer Eisenbahnlinien ließ in unseren Heimatkreisen noch geraume Zeit auf sich warten.
Erst am 15. Oktober 1875 geschah die Eröffnung der Eisenbahnstrecke Wittenberg – Falkenberg,
am 15. Juli 1890 kam die Linie Wittenberg – Torgau hinzu,
der sich 1895 die Linie Pretzsch – Schmiedeberg – Eilenburg,
am 9. Februar 1903 die Eisenbahn Bergwitz – Kemberg
und am 14. Juli 1911 die Linie Wittenberg – Straach anschloss.
Welch ein gewaltiger Unterschied besteht aber zwischen dem heutigen Zugverkehr auf den Wittenberger Bahnhofe und dem vor 100 Jahren!
Damals trafen – wie bemerkt – täglich nur 2 Personenzüge nach jeder Richtung – insgesamt also 4 – hier ein.
Bis Kriegsausbruch 1939 aber kamen im Verlauf von 24 Stunden 84 fahrplanmäßige, dem Personenverkehr dienende Züge hier an, und zwar 17 D-Züge, 7 Eilzüge und 60 Personenzüge.
Dazu tritt noch eine beträchtliche Zahl von Güterzügen.
Wenn wir diesen Rückblick tun, dann wollen wir auch daran denken, welche Freude und welcher Stolz unsere Väter erfüllte, als vor 100 Jahren der erste Eisenbahnzug nach Wittenberg kam.
Richard Erfurth †
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aus: Glaube und Heimat – 1941