Es sind die idealen Faktoren, der Glaube und die Wissenschaft, welche die wichtigen Epochen der Weltgeschichte wiederholt entscheidend bestimmt haben. Beides findet sich in seltener Vollkommenheit vereinigt in der Geschichte der leider verlorengegangenen Wittenberger Universität.
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Was veranlasste Friedrich den Weisen – einen der Besten, die jemals den Fürstenpurpur getragen – im Jahre 1502 gerade in der kleinen unbedeutenden kursächsischen Stadt eine Universität zu errichten? Entsprach doch Wittenberg damals in seinen äußeren Verhältnissen durchaus nicht den Anforderungen, die man an einen Sitz der Wissenschaften und Künste stellen muss.
Nach den übereinstimmenden Urteilen aus jener Zeit war Wittenberg „bis daher eine arme, unansehnliche Stadt, mit kleinen, alten, niedrigen Häuslein, einem Dorfe ähnlicher als einer Stadt.“ Infolge seiner ungesunden Lage war die Pest ein häufiger Gast in dem Städtchen, und noch lange behielt der Volksreim seine Geltung:
Wer kommt von Leipzig ohne Weib
und von Wittenberg mit gesundem Leib
und von Jena ohne Schlagen,
der hat von eitel Glück zu sagen.
Die erste Anregung zur Gründung der Wittenberger Hochschule gab der für Kunst und Wissenschaft begeisterte Kaiser Maximilian. Der ihm geistesverwandte sächsische Kurfürst folgte um so lieber seiner Anregung, da die Universität Leipzig an die albertinische Linie gefallen war.
Auch war für die Wahl der neuen Residenz des Kurfürsten als Universitätsstadt für ihren Stifter der Gedanke mitbestimmend, aus der unmittelbaren Nähe der Hochschule persönlichen Nutzen ziehen zu können.
Einer weiteren Veranlassung zur Gründung, die in einem Gelehrtenstreite der beiden Leipziger Professoren, Martin Pollich von Möllerstadt und Johann Pistorius, gefunden wird, ist wohl nur untergeordnete Bedeutung beizumessen.
Während alle früher gegründeten Universitäten kirchliche Institutionen waren, wurde Wittenberg die erste landesherrliche Universität in Deutschland. Hatte bisher bei der Gründung einer solchen der Papst das entscheidende Wort gesprochen, so verdankt die Wittenberger Hochschule ihr Entstehen lediglich dem Wort und Willen des Kurfürsten und des Kaisers.
Die junge Pflanzschule trat damit zum Papste in ein bis dahin neues unabhängiges Verhältnis, was für sie von höchster Wichtigkeit war.
Wittenberg, zur Zeit die jüngste der deutschen Hochschulen, war auch die jugendlichste an Geist und Streben.
Das zeigte sich auch schon in ihrer äußeren Gestaltung, die von derjenigen der älteren Universitäten wesentlich abwich.
Ihr erster Rektor, der schon genannte Pollich von Möllerstadt, folgte bei dem Entwurf ihrer Satzungen nicht den naheliegenden Mustern von Leipzig und Erfurt;
er wählte die freiere Richtung der Tübinger Akademie, wo das Studium der Klassiker neu erblüht war und eine vertiefte Erklärung der biblischen Grundtexte einen verheißungsvollen Anfang genommen hatte.
Gegliedert wurde die Universität in vier Fakultäten:
– die theologische,
– die philosophische,
– die juristische und
– die medizinische.
Die Bildung von politischen Korporationen, der sogen. Nationen, war verboten. An die Spitze des gesamten akademischen Lehrens und Lebens trat ein Rektor.
Diesem folgte der Prokanzler und die vier General-Reformatoren, deren Ämter und Würden späterhin auf die Dekane und Senioren der Fakultäten übergingen.
Sämtliche Ämter blieben dem Landesherrn verantwortlich, wie denn überhaupt die ganze Stiftung den klar ausgesprochenen Zweck hatte, das Wohl des Staates zu fördern.
Nachdem bereits zu Anfang des Jahres 1502 Kaiser Maximilian der Universität das erbetene Privilegium erteilt und der Kardinal Reymundus in Magdeburg als vorgesetzte kirchliche Behörde seine Zustimmung gegeben, wurde 18. Oktober 1502 als Tag der Einweihung festgesetzt.
Für diesen Tag entschied man sich erst, nachdem man nach der Sitte der Zeit das Horoskop befragt und eine günstige Antwort erhalten hatte.
Eine Prozession nach der Schlosskirche und ein feierlicher Gottesdienst weihte die neue Hochschule.
Nach dessen Beendigung trugen sich bereits 416 Personen als Hörer in das Album der Universität ein.
Zum Rektor wurde der Leibarzt des Kurfürsten, der mehrfach genannte Pollich von Möllerstadt,
zum Kanzler Goswin von Orsoy aus Lichtenburg und
zum Dekan der theologischen Fakultät der Generalvikar des Augustinerordens, Johann von Staupitz, bestimmt.
Unter den ersten Lehrern der Universität waren es besonders drei namhafte Juristen, die der jungen Pflanzschule bald Ruf verschafften:
– Luthers Freund, Hieronymus Schurff,
– der junge Christoph Scheurl aus Bologna und
– der letzte katholische Propst der Schloßkirche, Hennina Göde,
„der Monarch auf dem Gebiete des Rechts.“
Dessen ungeachtet und obwohl Friedrich der Weise in hochherziger Weise die Universität mit zahlreichen Privilegien, Schenkungen und Stiftungen ausstattete, hielt sich die Zahl der Studierenden in mäßigen Grenzen.
Erst mit Luthers und Melanchthons geistesgewaltigem Wirken beginnt für Wittenberg eine neue – seine glänzendste Epoche.
Staupitz, der als mystischer und augustinischer Theologe zu den Vorläufern der Reformation zu rechnen ist, hatte in dem schlichten Augustinermönche, der in der Klosterzelle zu Erfurt zweifelnd und verzweifelnd nach der Wahrheit rang, mit scharfem Blicke den Mann erkannt, der Wittenberg und der Welt not war.
Martin Luther – im Jahre 1508 nach Wittenberg berufen – beherrschte bald mit seinem klärenden und befreienden Worte, das in einer lebendigen, selbst erkämpften Gotteserkenntnis seine Wurzel hatte, die gesamte Universität.
Und die mit Seelenkämpfen und Gewissensnöten bezahlte große Grundwahrheit von dem allein rechtfertigenden Glauben führte Luther bald mit innerer Notwendigkeit zu dem Punkte, von dem aus er die Papstkirche aus den Angeln heben sollte.
Die Hammerschläge, welche am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche pochten, befestigten in gleicher Weise den Grundstein zum Bau der evangelischen Kirche wie zum Ruhme der Wittenberger Hochschule.
Aber zu dem Streite, der diese einmütig auf Luthers Seite fand, fehlte ihr noch die dringend nötige Waffenrüstung.
Um den Angriffen der Gegner wirksam begegnen zu können, waren die humanistischen Studien unentbehrlich;
es galt, der verderbten römischen Kirche in den Zeugnissen des Altertums einen Spiegel vor das entstellte Antlitz zu halten.
Und wie jede große Zeit sich die geeigneten Männer schafft und an den richtigen Platz stellt, so brachte jene Zeit auch ihn, der diese blanke Waffenrüstung schweißte, des Waffenschmieds Sohn:
Philipp Melanchthon.
Es soll nicht untersucht werden, wem die Universität Wittenberg mehr verdankt- ob dem rauhen norddeutschen Bergmannssohne mit der imponierenden, kraftkündenden Gestalt, der das Schwert des Geistes so heldenhaft zu schwingen verstand, oder dem milden Süddeutschen, dem Sohne des Waffenschmieds, dessen zarte, schmächtige Erscheinung nichts weniger als einen Weltüberwinder verhieß, und der doch in ungeahnter Meisterschaft jenes Schwert zu schmieden und zu schärfen wusste.
Für die Bedeutung Melanchthons, des „Praeceptor Germaniae“, ist Luthers Ausspruch bezeichnend:
„Was wir wissen in den Wissenschaften, das danken wir Philipp.“
Es konnte nicht ausbleiben, daß der Jungbrunnen der religiös-sittlichen Erneuerung, welcher von Wittenberg aus so erfrischend und belebend durch die Lande rauschte, Hunderte und Tausende von Wissensdurstigen anzog.
Waren bisher Padua und Bologna das bevorzugte Ziel der lernbegierigen Jugend gewesen, so trat jetzt Wittenberg als Wohnsitz des religiös-humanistischen Geistes an ihre Stelle. Besonders nach Luthers Rückkehr von der Wartburg (1522) schwoll die Zahl der Zuziehenden gewaltig an.
Das Album der Universität weist aus jener Zeit mehr als 2000 Studierende aus allen Ländern nach.
Es kamen nach einem Ausspruch Luthers
– „Reußen und Preußen,
– Holländer und Engelländer,
– Dänemarker und Schweden,
– Böhmen,
– Polen,
– Hungern,
– Wenden und Winden,
– Walen und Franzosen,
– Spanier und Gräken.“
Wenn Shakespeare seinen Prinzen Hamlet in Wittenberg studieren läßt, so ist das freilich nur dichterische Erfindung, aber doch ein Zeichen für den Ruf, den diese Hochschule auch im Auslande genoss. Da die kleine Stadt den Strom der Zuziehenden nicht zu fassen vermochte, so mussten viele auf den benachbarten Dörfern Wohnung suchen.
Das akademische Leben ließ eine ernste Disziplin nicht vermissen. Der bereits erwähnte Scheurl hatte als Rektor schon 1507 verordnet,
„daß den Studenten der Besuch der Wirtshäuser des Trinkens halber untersagt sein solle.“
Auch musste jeder Neuankommende die Erklärung abgeben, daß er auch wirklich zum Zwecke des Studierens gekommen sei. Infolgedessen entstand in studentischen Kreisen der Spruch:
„Willst du dich vergnügen, geh sonst wohin,
willst du studieren, so geh nach Wittenberg.“
Wenn auch alle gleichzeitigen und nachfolgenden Lehrer der Wittenberger Hochschule nicht an die Titanengröße eines Luther und Melanchthon heranreichen, so finden sich doch unter ihnen zu allen Zeiten und in allen Fakultäten Männer, die für immer zu den Leuchten der Wissenschaften zählen.
In der theologischen Fakultät glänzen neben einem
– Staupitz die Namen
– Amsdorf,
– Bugenhagen,
– Justus Jonas,
– Paul Eber,
– Georg Major,
– Sutter ua.
Unter den Juristen finden wir neben dem schon genannten Dreigestirn
– Schurff,
– Scheurl und
– Göde besonders die beiden
– Leyser,
– Luthers Freund I. Schneidewein und
– den durch seine Prozessordnung bekannten
Hofrat v. Berger.
In der medizinischen Fakultät glänzen
– Salomon Alberti, ein Meister der Anatomie,
– Daniel Sennert, der die chemischen Mittel in die Medizin einführte,
– sowie Schneider und
– der Botaniker Böhme.
Unter den Physikern treffen wir
– Titius und besonders
– Chladni, der als Entdecker der Klangfiguren allgemein bekannt ist.
Die Philosophie ist würdig vertreten durch
– Jordanus Bruno
– von Nola und
– Krug,
während als Mathematiker
– Hase und
– Weidler und
als Historiker
– Schurtzfleisch und
– Schröckh sich dauernden Ruhm erwarben.
Nach Luthers Tode brachen bald innere und äußere Kämpfe über die evangelische Kirche sowohl als auch über die Universität Wittenberg herein, Kämpfe, denen der friedliebende, schüchterne Melanchthon ohne den stärkeren, kampfgeübten Freund nicht gewachsen war.
Der schon lange drohende Religionskrieg begann.
Hinter dem Rücken der evangelischen Bundesgenossen brach der von Kaiser Karl V. angelockte Moritz von Sachsen in das Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg ein.
Vor seinem Ansturm stob die Universität auseinander.
Wohl kam der Kurfürst Johann Friedrich zurück und vertrieb den Friedensstörer, doch schon im Frühjahr 1547 erlag er in der Schlacht auf der Lochauer Heide dem übermächtigen Kaiser, der ihn zu jahrelanger Gefangenschaft verurteilte und die Kurwürde samt dem größeren Teile der Kurlande an Moritz von Sachsen verschenkte. Melanchthon war beim Herannahen Karls V. V. zuerst nach Zerbst und dann nach Magdeburg geflohen.
Es fehlte ihm nicht an zahlreichen glänzenden Berufungen an andere Universitäten – er schlug sie alle aus, um nicht das Weiterbestehen der Wittenberger Hochschule zu gefährden.
Auf seine unermüdlichen Vorstellungen hin brachte der neue Kurfürst zu Anfang des Jahres 1548 die Universität wieder in Gang, und der Zauber des Namens Melanchthon ließ die Jugend bald wieder in Scharen nach Wittenberg strömen.
Noch zwölf Jahre durfte sich die Universität dieses getreuen Eckarts erfreuen, der trotz aller verzehrenden Kämpfe, die ihm leider zumeist aus dem eigenen Lager bereitet wurden, der akademischen Jugend und seinem Lehrerberufe in unverminderter Liebe bis zu seinem Tode (19. April 1560) zugetan blieb.
Die folgenden Jahre waren für die Universität eine Zeit der gedeihlichen Weiterentwicklung.
Sie durfte in den Jahren 1602, 1702 und 1802 die Jubiläen ihrer Gründung unter persönlicher Teilnahme des jeweiligen Landesfürsten und zahlreicher Abordnungen aus deutschen und außerdeutschen Ländern mit großer Prunkentfaltung begehen.
Der blutige dreißigjährige Krieg ebenso wie der siebenjährige Krieg störten die Hochschule nur vorüber gehend, obschon die schweren Leiden, denen die befestigte Stadt Wittenberg im Jahre 1760 durch Belagerung und Beschießung ausgesetzt war, auch an ihr nicht spurlos vorübergingen.
Ein halbes Jahrhundert war seitdem verflossen, als sich am politischen Horizonte die Wetterwolke erhob, die sich vernichtend auch über die Universität Wittenberg entladen sollte.
In folgenschwerer Verblendung hatte Friedrich August von Sachsen – seit 1806 durch Napoleons Gnaden zum König erhoben – sich verleiten lassen, den selbstsüchtigen Absichten des Korsen zu dienen. Er hatte diesem ua. auch die Festung Wittenberg ausgeliefert, und Napoleon zögerte nicht, daraus ein Zwing-Uri für Sachsen zu schaffen.
Unsäglich waren die Leiden, denen Stadt und Universität seit dem Jahre 1806 durch wechselnde Einquartierung, Bedrückung und Belagerung ausgesetzt blieben.
Im März 1813 waren die Zustände soweit gediehen, daß die Vorlesungen eingestellt werden mussten.
Als im Juli Napoleon in Wittenberg erschien, erwirkten die Abgeordneten der Universität bei ihm eine Audienz, in der bereits der Gedanke einer wenn auch nur zeitweisen Verlegung der Hochschule aus dem schwer bedrohten Wittenberg erörtert wurde.*)
Der französische Gouverneur La Poype aber wartete keinerlei Entscheidung ab und ließ bald darauf in rücksichtslosester Weise den Rest der akademischen Gebäude räumen und für Kriegszwecke herrichten.
Ein Reskript vom 24. Juli bestimmte über das Wegschaffen der Universitätsbibliothek, der Archive und Sammlungen.
Alles sollte einstweilen in die sicheren Gewölbe der Dresdener Kreuzkirche gebracht werden.
Ordnungslos wurden die wertvollen Bücher und Sammlungen auf Kähne geladen und unter Begleitung des Magisters Gerlach elbaufwärts geführt.
In der Nähe von Meißen aber wurden die Fahrzeuge von Kosaken angehalten und zum Truppentransport über die Elbe in Beschlag genommen, nachdem Gerlach mit großer Mühe ihren Inhalt nach dem nahen Schlosse Seußlitz gerettet hatte.
Die Professoren hatten mit wenigen Ausnahmen Wittenberg verlassen und sich meist nach Halle und Leipzig gewandt.
Die Angelegenheiten der Universität wurden einstweilen von Schmiedeberg aus durch einen Rest des Senats besorgt.
So traurig endete die Universität, die dazu bestimmt war, durch den von ihr ausströmenden Geist die alte Welt zu erschüttern und eine neue aufzubauen.
Rat und Bürgerschaft der seit 1815 dem preußischen Staate einverleibten Stadt Wittenberg kämpften mit größter Zähigkeit für die Wiederherstellung ihrer Hochschule – umsonst.
Bereits im April 1815 wurde durch eine Königliche Kabinettsorder die Aufhebung der Wittenberger Universität ausgesprochen, und im Jahre 1817 erfolgte ihre Bereinigung mit der Hochschule Halle, die in pietätvoller Erinnerung seitdem den Namen „Vereinigte Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg“ führt.
Als bescheidenen Ersatz für den schweren Verlust schenkte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen der Stadt Wittenberg am 1. November 1817 das Evangelische Predigerseminar.
Wohl hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Universität der Stadt Wittenberg zurückzugewinnen – Versuche, die von vornherein aussichtslos sein mussten.
Von seiner größten Zeit hat Wittenberg nichts gerettet als die Erinnerung.
Ihren Zeugen begegnen wir überall, wohin wir auch den Fuß in der alten Lutherstadt setzen mögen.
Noch stehen viele Häuser, die einst das Daseinsgehäuse für berühmte Lehrer der Universität bildeten.
Vor allem ziehen uns die Heimstätten Luthers und Melanchthons an, die in ihren mancherlei Sehenswürdigkeiten ein anschauliches Bild jener Zeit zeichnen.
Auch die Gebäude finden wir noch, die einst in ihren Mauern die Hochschule beherbergten und die vielfach heute profanen Zwecken dienen. —
Andere Zeiten, andere Menschen und ein anderer Geist.
Möchte doch von dem Geiste, der einst aus Wittenberg so jugendfrisch, so belebend und befreiend durch die Welt rauschte, etwas hineinströmen in die Gleichgültigkeit, Glaubensarmut und Ideallosigkeit unserer Gegenwart!
Richard Erfurth †
aus: Glaube und Heimat – 1929
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Erklärung
*) Die vielverbreitete angebliche Äußerung Napoleons:
Wittenberg hat aufgehört, eine Bildungsanstalt junger Leute für die Wissenschaft zu sein“, ist geschichtlich nicht nachzuweisen.