Geschichte der Stadt Wittenberg (1910)

Auf allseitigen Wunsch erscheint die „Geschichte der Stadt Wittenberg“ in Buchform, nachdem sie zuerst im „Wittenberger Tageblatt“ in einzelnen Fortsetzungen veröffentlicht wurde.

Das Werk will in lückenloser Darstellung die Geschichte unserer Lutherstadt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart schildern. Bisher fehlte eine derartige zusammenhängende Schilderung, da die älteren Publikationen entweder nur eine bestimmte Periode umfassen, oder bloß einzelne hervorragende Episoden beschreiben. Außerdem sind die wichtigsten der in Betracht kommenden Veröffentlichungen im Buchhandel nicht mehr zu haben. Die letzte zusammenhängende Darstellung (Meyner, Geschichte der Stadt Wittenberg) reicht nur bis zum Jahre 1842.
Seitdem fand sich kein Chronist, der die Geschichte unserer Stadt gerade in den wichtigsten Abschnitten ihrer Entwicklung geschildert hätte. Von den sporadischen Publikationen, die nur einzelne besonders hervortretende Ereignisse zum Gegenstande haben, können wir dabei absehen. Dem angeführten Mangel soll nun die vorliegende „Geschichte der Stadt Wittenberg von ihren Anfängen bis zur Gegenwart“ abhelfen. Bei ihrer Abfassung hat sich der Verfasser bemüht, jedes bemerkenswerte Ereignis festzuhalten, von dem er annehmen durfte, daß es allgemeinem Interesse begegnet.

Von älteren Werken wurden benutzt:
– Stier, Wittenberg im Mittelalter;
– Bernhard, Wittenberg vor 50 Jahren und
– Meyner, Geschichte der Stadt Wittenberg.
Für alles weitere waren umfangreiche Forschungen notwendig, und es wurden die verschiedensten einwandfreien Quellen nutzbar gemacht.

Möge das Buch überall freundliche Aufnahme finden und dazu beitragen, daß mit der Kenntnis der wechselvollen Geschichte unserer Lutherstadt auch die Liebe zu dieser genährt und gestärkt werde!

Wittenberg, im November 1910.

Richard Erfurth † »»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»

1. Wittenberg unter den Askaniern.

Unsere Stadt blickt auf eine lange, bewegte Vergangenheit zurück. Ihre Anfänge reichen bis in die Zeit der Kaiser aus dem Hause der Hohenstaufen. Vermutlich ist sie bereits im Jahre 1174 gegründet; urkundlich wird ihr Name zuerst im Jahre 1180 genannt. Die Stadt entstand neben einem Burgwart, d.h. einem befestigten Platze, der als deutsche Grenzwarte zum Schutze des Landes gegen die um wohnenden Slawen angelegt war. Jahrhundertelang hatte der Kampf zwischen Deutschen und Slawen in unserer Gegend gedauert, bis endlich Markgraf Albrecht der Bär (regierte 1134 bis 1170) aus dem Hause Anhalt oder Askanien mit starker Hand dem Deutschtum und dem Christentum dauernd zum Siege verhalf.
Aber ganze Dörfer standen leer. Ihre wendischen Bewohner hatten – um nicht den fremden Eroberern und ihren Priestern gehorchen und zinsen zu müssen – der Heimat den Rücken gekehrt und neue Sitze in den blühenden Wendenreichen des Nordens und Ostens gesucht. Markgraf Albrecht sah sich nach Bewohnern für das Land um. Zu jener Zeit war in den niederländischen Marschlandschaften wiederholt die Nordsee eingebrochen und hatte den Bewohnern Grund und Boden, Haus und Habe geraubt. Wohin sollten die Unglücklichen sich wenden? In der dichtbevölkerten Heimat war kein Platz mehr für sie. Wanderten sie aber in die benachbarten Gebiete, so verloren sie nach den rauhen Gesetzen jener Zeit, die den Fremdling zum Sklaven und seinen Besitz zum Eigentum des Landesherrn machten, vollends alles, selbst ihre Freiheit. Mit Freuden folgten daher die Niederländer oder wie sie nach der Provinz Flamland genannt wurden – die Fläminger dem Rufe Albrechts des Bären, der ihnen im eroberten Slawenlande Wohnung und freien Besitz anbot. An den Ufern unserer Elbe entfaltete das rührige, anstellige Völkchen bald eine segensreiche Tätigkeit: sie trockneten Sümpfe aus, dämmten die Flüsse ein, rodeten Wälder aus und gründeten zahlreiche Niederlassungen. So gründeten sie neben dem erwähnten Burgwarte einen Ort, dem sie den Namen Wittenberg, d.h. Weißenberg oder Weißenburg gaben (witt-weiß). So nannten sie ihn vielleicht nach den weißen Sandhügeln am Elbufer. Aus diesem Namen geht deutlich hervor, dass nur deutsche und zwar niederdeutsche Ansiedler unsere Stadt gegründet haben können, denn während der bei weitem größere Teil der umliegenden Ortschaften Namen führt, die nur aus der sorbisch-wendischen Sprache abzuleiten sind, weist der Name Wittenberg unzweideutig auf niederdeutsche Abstammung hin. So stand Wittenberg inmitten einer slawisch benannten und zu einem großen Teile noch slawisch redenden Umgebung da als eine Warte deutschen Wesens und ein Hort deutscher Sprache und Gesittung.

Markgraf Albrecht der Bär war der erste fürstliche Beschützer von Wittenberg. Nach seinem im Jahre 1170 erfolgten Tode teilten sich seine Söhne in seine Länder.
Bernhard erhielt die anhaltischen Stammlande mit dem späteren Kurkreise. Im Jahre 1179 verlieh ihm Kaiser Friedrich Barbarossa hierzu noch den östlichen Teil des Herzogtums Sachsen, welches dem treulosen Herzog Heinrich dem Löwen genommen wurde. Bernhard wohnte bereits zeitweilig in Wittenberg, wo er sich ein Schloss bauen ließ. Da er sich von seinen Brüdern durch ein besonderes Wappen unterscheiden wollte, so vermehrte ihm der Kaiser auf seine Bitte das alte Wappen der Askanier, welches aus fünf schwarzen Balken im goldenen Felde bestand, um den sogenannten sächsischen Rautenkranz, der, trotz der vielfachen Lesarten, die sich daran knüpfen, jedenfalls nichts anderes bedeutet, als die rautenförmige Herzogskrone. Von dem schwarz-goldenen Wappen der Askanier leiten sich die Stadtfarben von Wittenberg, schwarz-gelb (gold) ab. Wie wehrhaft Wittenbergs Bürger schon damals waren, erkennt man daraus, dass sie auf Bernhards Befehl die auf dem Wallberge bei Dobien belegene Burg zerstörten, weil deren Ritter fortgesetzt die von Brandenburg nach Leipzig reisenden Kaufleute beraubten. Auf Bernhard folgte sein Sohn Albrecht I. (1212 bis 1260), der sich zuerst Herzog von Sachsen, Engern und Westfalen nannte. Auch ihn diente Wittenberg zeitweise als Wohnsitz.
Wenigstens trägt eine von ihm unterschriebene Urkunde den Vermerk:
„Gegeben zu Wittenberg, den 11. Septembris 1227.“
Seine fromme Gemahlin Helene erbaute an der Stelle der der heutigen Artilleriekaserne am Arsenalplatz den Franziskanermönchen ein Kloster. Albrecht II. (1268 – 1290); welcher bis 1282 gemeinschaftlich mit seinem Bruder Johann regierte, schlug dauernd seinen Wohnsitz in Wittenberg auf.

Er war ein tapferer Feldherr. Während seiner Regierung lebte er in beständiger Fehde mit dem Erzbischof Günther von Magdeburg. Im Jahre 1278 wurde er von diesem besiegt. Er wetzte diese Scharte in einem Treffen an der Peine wieder aus, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Feinde bis dicht an die Mauern Wittenbergs streiften und besonders Niemegk und Belzig plünderten. Der infolge dieser Fehden eintretende Geldmangel, sowie der Wunsch, sich die Bewohner zu williger Heeresfolge zu verpflichten, veranlasste Albrecht II. im Jahre 1293, Wittenberg städtische Gerechtsame zu verleihen, indem er die Einwohner von allen herkömmlichen Abgaben und Schuldigkeiten hinsichtlich ihres Grundbesitzes gegen Zahlung einer jährlichen zu Michaelis fälligen „Bede“ von 50 Mark befreite.

Die hierüber ausgefertigte Urkunde befindet sich als ältestes Dokument im städtischen Archive unseres Rathauses und hat in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut:

Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreieinigkeit.
Amen.
Wir, Albrecht von Gottes Gnaden Herzog zu Sachsen, Westfalen, Engern, Graf zu Brehna und Burggraf zu Magdeburg, sowie Agnes, Herzogin zu Sachsen usw., von denselben Gnaden, allen, die gegenwärtigen Brief sehen, Unsern Gruß in dem Herrn.
Weil die mit der Wahrheit übereinstimmende Vernunft lehrt, dass die Merkwürdigkeiten der Gegenwart durch Briefe und angehängte Siegel so unverletzt erhalten werden, dass sie nicht durch den Untergang der Vergessenheit aus dem Gedächtnis der Nachkommen verschwinden, so wollen Wir hiermit allen, sowohl gegenwärtigen als nachkommenden, so diesen Brief sehen, kund und zu wissen tun, indem Wir hiermit aus gutem Vorbedacht öffentlich bekennen, dass wir unsere Bürger in Wittenberg nach Unsrer reiflichen Überlegung wollen einen solchen Vorzug und Freiheit genießen lassen, dass sie der Abgaben, die sie uns von ihren Grundstücken und Gütern bisher in früherer Zeit zu geben pflegten, sollen frei und ledig sein, mit der ausdrücklich beigefügten Bedingung, dass sie gehalten sein sollen, Uns alljährlich am heiligen Michaelis feste 50 Mark zu zahlen, indem wir bestimmen, dass das genannte Geld weder zum Teil noch im Ganzen von uns oder von Unseren Nachfolgern weder unter einem Lehn – noch Erbtitel niemals irgend jemand gegeben werden soll, und aber das Geld so verteilt werde, dass davon 40 Mark zu Unserem Gebrauche kommen, die übrigen 10 Mark aber bestimmen wir für Unsre Gemahlin Agnes, Herzogin zu Sachsen; jedoch sollen sie alljährlich an dem vorgenannten Termine gegeben werden, sodass also diese Bestimmung zu allen Zeiten für giltig und unverletzlich gehalten, und weder von Uns noch Unsern Nachfolgern unter keinerlei Vorwand oder Verpflichtung verletzt werden soll. Wir haben denselben Bürgern in Wittenberg darüber gegenwärtigen Brief, mit Unsern beiden Insiegeln bekräftigt, für immerwährende Zeiten giltig, zu gefertigt.
Zeugen dieser Verhandlung sind:

– Der Ritter genannt Konrad von Gacisdorpp,
– Konrad von Globic
– und der Ritter namens Swino
– und der Herr Stadtpfarrer Friedrich.

Gegeben zu Wittenberg im Jahre des Herrn 1293,
den 27. Juni.

Durch die Verleihung der städtischen Gerechtsame war ein wichtiger Schritt zum Wohlstande Wittenbergs geschehen.
Bereits acht Jahre später, 1301, erwarb die Stadt durch Kauf von der Witwe Albrechts II. das östlich gelegene Vorwerk Bruder Annendorf mit allen Äckern, Wiesen und Weiden.
Albrecht II. war im Jahre 1298 in einer Fehde mit dem Erzbischof von Magdeburg bei Aken gefallen.
Er sowohl wie seine fünf Nachfolger aus dem Hause der Askanier wurden samt ihren Familiengliedern in der Kirche des Franziskanerklosters beigesetzt.
Als zur Zeit der Reformation das Kloster samt der Kirche verfiel, da rettete Melanchthon die Grabinschriften durch Aufzeichnen vor dem völligen Untergange. Bei genauen Nachgrabungen, die man im Jahre 1883 dort vornahm, fand man die Überreste von 20 Leichen – eine Zahl, die mit den historischen Überlieferungen übereinstimmt. Die Gebeine wurden in der Schlosskirche unter dem Orgelchore bestattet.
Auf Albrecht II. folgte Rudolf I. (1298 bis 1356).
Mit ihm beginnt die Reihe der sächsischen Kurfürsten, da Kaiser Karl IV. ihm durch die „bulle aurea Saxon“ vom Jahre 1356 die Kurwürde und den Titel eines „Erzmarschall des heiligen römischen Reiches“ verlieh.
Wittenberg wurde also Kurhauptstadt.
Auf Wunsch seiner Gemahlin Kunigunde erbaute er auf der Stelle der heutigen Schlosskirche eine Kapelle, welche der Jungfrau Maria und allen Heiligen geweiht war und stattete diese mit Einkünften aus verschiedenen Dörfern, wie Dabrun, Eutzsch und Teuchel, reichlich aus.
Unter seiner Regierung schlossen die Bürger von Wittenberg im Jahre 1306 mit den Städten Aken und Herzberg und im Jahre 1323 mit Zerbst, Köthen und Dessau ein Bündnis zur Aufrechterhaltung des Landfriedens.
Kurfürst Rudolf gab der Stadt Wittenberg zahlreiche Beweise seines Wohlwollens. So schenkte er ihr 1349 das Dorf Hohndorf sowie den Hohndorfer und Wiesigker Lug mit allem Zubehör.
Zu gleicher Zeit besaß die Stadt das Münzrecht gegen Erlegung eines jährlichen Münzgeldes von 14 M. Silber. Außerdem genoss sie das Vorrecht der Zoll- und Geleitsfreiheit, dh. die Bürger Wittenbergs durften ihre Waren und Güter frei durch das ganze Herzogtum Sachsen führen.
Nach den Anschauungen jener Zeit suchte Rudolf I. seine christliche Gesinnung dadurch zu betätigen, dass er im Jahre 1304 die Juden aus Wittenberg und dem Herzogtum Sachsen vertrieb.
Auf ihn folgte Rudolf II. (1356 bis 1370)
Die bedeutendsten Städte des Kurfürstentums waren damals, Wittenberg, Aken, Herzberg, Kemberg, Schmiedeberg, Jessen, Prettin, Belzig und Niemegk, alle bereits mit selbständiger Verfassung.
Sein Nachfolger Wenzel (1370 bis 1388) vermehrte die Privilegien der Stadt Wittenberg dadurch, dass er durch eine 1380 festgesetzte Fährordnung für die Bürger ein sehr geringes Fährgeld anordnete. Gleichzeitig erhielten diese freie Schifffahrt und freien Kornhandel auf der Elbe.
Rudolf III. (1388 bis 1419) war ein gar streitbarer Herr. Viele Jahre hindurch lag er in Fehde mit dem Erzbischof von Magdeburg.
Zum Schaden seines Landes beteiligte er sich auch an dem Kriege gegen die Hussiten, welche dann aus Rache 1429 die Gegend um Wittenberg verwüsteten, die Stadt belagerten und die Vorstädte in Brand steckten. Er schenkte der Stadt 1416 die Waldmark Münzmeisters Werder (der heutige Fleischerwerder).
Im Jahre 1406 wurden ihm seine beiden Söhne Siegismund und Wenzel durch den einstürzenden Turm des Schlosses zu Schweinitz erschlagen.
Er selbst starb in Böhmen bei einem Feldzug gegen die Hussiten.
Ihm folgte Albrecht III. oder der Arme (1419 bis 1422).
Dieser geriet bald in Streit mit der Stadt Wittenberg. Diese hatte seit zwei Menschenaltern den früher landesherrlichen Budenzins vom Markte genossen und glaubte nun auch, nach dem Beispiele anderer Städte, das nicht „auf dem Markte fallende“ Städtegeld beanspruchen zu können. Albrecht, der bei seiner Thronbesteigung eine so erschöpfte Kasse vorfand, dass er sich kaum vier Bediente halten konnte, wollte diese Einnahme nicht fahren lassen. Der Bürgermeister aber gab nicht nach, und so wäre es beinahe zwischen dem Kurfürsten und der Bürgerschaft zu einem bewaffneten Zusammenstoße gekommen. Schließlich aber verstanden sich beide Teile dazu, den klugen und gerechten Kurfürsten Friedrich von Brandenburg als Schiedsrichter anzurufen. Dieser entschied zu Gunsten der Bürgerschaft fand aber ihr Benehmen gegen ihren Landesherrn unangemessen, und erst, als sie diesem Abbitte geleistet, erhielten sie durch Friedrichs Vermittlung das strittige Recht zugestanden.
Schon im dritten Jahre seiner Regierung starb Albrecht infolge eines Brandunglücks. Er war mit seiner Gemahlin während der Jagd in seinem Jagdschlosse Lochau eingekehrt. Während der Nacht brach hier Feuer aus, und nur durch das Winseln des Jagdhundes, das den Kurfürsten weckte, entgingen beide dem Feuertode.
Der ausgestandene Schrecken aber warf letzteren auf das Krankenlager, von dem er nicht wieder erstand. Da Albrecht ohne männliche Erben war, so erlosch mit ihm das Haus der Askanier im Kurkreise. Fast 300 Jahre hatte es über Wittenberg geherrscht, und ihm verdankt unsere Stadt einen wesentlichen Teil seiner Wohlfahrt und Blüte.

2. Wittenberg unter den Wettinern.

Kaum war mit dem Tode Albrechts III. die Kurwürde erledigt, als auch schon Kurfürst Friedrich I. von Brandenburg Ansprüche auf das Kurfürstentum Sachsen-Wittenberg erhob und die Stadt Wittenberg und den Kur Kreis durch seine Truppen besetzen ließ. Allein 1423 musste er diese wieder auf Verlangen des Kaisers zurückziehen. Doch bekam er als Vergütung für die aufgewendeten Kosten 10.000 Schock böhmische Groschen.
Kaiser Sigismund zog das Kurfürstentum als erledigtes Reichslehen ein und schenkte es Friedrich dem Streitbaren aus dem Hause Wettin (1423 bis 1428), als Belohnung für die ihm im Hussitenkriege geleisteten Dienste.
So kam Wittenberg unter die Herrschaft der Wettiner.
Friedrich der Streitbare, der Stifter der Universität Leipzig, hat viel zum Gedeihen unserer Stadt beigetragen. Er bestätigte ihr nicht allein 1424 die gesamten Privilegien, sondern befreite sie auch von mehreren Abgaben, insbesondere von dem noch aus den ersten Zeiten der Askanier herrührenden Küchengelde.
Im Jahre 1425 schenkte er der Stadt in Anbetracht ihrer treuen Dienste die Dörfer Trajuhn, Gallien und Prühliz mit Gericht und Zins. Ihm folgte in der Regierung sein Sohn Friedrich der Sanftmütige (1428 bis 1464). Trotz seiner Friedensliebe musste er mehrfach zum Schwerte greifen, besonders gegen seinen herrschsüchtigen jüngeren Bruder Wilhelm, mit dem er einen langwierigen und blutigen Bruderkrieg führte.
Bekannt ist, dass der mit dem Kurfürsten verfeindete Ritter Kunz von Kauffungen dessen beide Söhne Ernst und Albrecht aus dem Schlosse zu Altenburg raubte (8. Juni 1155).
Die beiden Prinzen wurden dem Räuber wieder entrissen, der dieses Vergehen mit dem Tode büßen musste.
Der Kurfürst wohnte zwar nicht in Wittenberg, er gab aber der Stadt vielfache Beweise seines Wohlwollens.
So bestätigte er ihr im Jahre 1428 die Zoll- und Geleitsfreiheit, und als er die Stadt 1430 für 3000 Rheinische Gulden an Friedrich und Heinrich von Bygern verpfändete, wurde der Rat um Anhängen des Stadtsiegels an die betreffende Urkunde ersucht, zum Zeichen seines Einverständnisses, und ihm zugleich die Versicherung gegeben, die Stadt schadlos zu halten und sie wieder einzulösen.
Ihm folgte in der Regierung sein Sohn Ernst (1464 bis 1486), der 20 Jahre lang mit seinem Bruder Albrecht gemeinschaftlich regierte.
Im Jahre 1485 kam eine Teilung der Länder zustande, bei welcher Ernst Thüringen mit der Residenz Weimar und den Kur Kreis erhielt. Auf ihn folgte sein Sohn Friedrich der Weise (1486 bis 1525), der aus dem Mittelalter bereits in die neuere Zeit herüberreicht, und dem ein besonderes Kapitel dieser Blätter gewidmet sein soll.

3. Wittenberg und seine Bürgerschaft bis 1486.

Bis zum Jahre 1300 erfahren wir von der Stadt Wittenberg und ihrer Bürgerschaft außer dem, was im Vorstehenden bereits angegeben wurde, nur wenig. Es wird uns berichtet, dass in den Jahren 1218 bis 1221 eine große Teuerung herrschte, welcher Herzog Albrecht auf den Rat des erfahrenen Grafen Hoyer von Falkenstein dadurch zu wehren suchte, dass er verbot, stärkeres Bier zu brauen, als das Stübchen zu 1 Pfennig (5 Sgr.). Aber aus der Vergleichung mit anderen Städten Norddeutschlands sowie aus den einen Rückschluss ermöglichenden Berichten der späteren Zeit lässt sich doch ein annähernd vollständiges Bild von den damaligen Verhältnissen gewinnen :
Darnach waren die Stadtbewohner zum größten Teil noch Hörige (Unfreie); denn noch galt das Wort:

Bürger und Bauer
scheidet nichts, als die Mauer.

Ursprünglich war deren Lage also recht ungünstig. Über ihre liegende und fahrende Habe durften sie nicht frei verfügen.
Von ihren Hofstätten mussten sie dem Grundherren einen Zins zahlen und ebenso von ihren Grundstücken Zins und Frondienste leisten. Waren sie darin säumig, so konnte der Grundherr ihnen sämtliches Eigentum nehmen. Im Todesfalle fiel diesem auch ihre gesamte Hinterlassenschaft zu.
Der Sachsenspiegel sagte:

„Gibt sich jemand einem Herren zu eigen, so nimmt nach seinem Tode der Herr sein Erbe und alle Kinder, die ihm gehören und nach der Ergebung geboren sind.“

Die Unfreiheit ging sogar so weit, dass die aus Ehen zwischen Freien und Unfreien geborenen Kinder stets der“ ärgeren Hand folgten,“
d.h. unfrei wurden. Die fortschreitende Entwickelung schaffte auch hierin Milderung; die Ansprüche des Grundherrn beschränkten sich beim Tode eines Unfreien auf das sogenannte „Buteil„, das gewöhnlich die Hälfte des Nachlasses betrug. Späterhin wurde dieses Erbrecht auf eine bestimmte Geldsumme begrenzt, oder auch auf das „Besthaupt„, d. h. die Wahl des besten Tieres aus dem Stalle, oder in den „Gewandfall“, den Anspruch auf das beste Kleidungsstück oder die beste Waffe des Toten, herabgesetzt.

Zu den Hörigen zählten alle Handwerker, mochten sie sich bereits in Zünften vereinigt haben oder nicht. Soweit schon eine Ortsgemeinde (Cives) bestand, wurden dazu außer den Freien, das waren die Ritter und die Kaufleute, nur die Unfreien höheren Standes, nämlich die Hofbediensteten (Ministeriales) gerechnet, die durch das Recht des Waffentragens ritterbürtig waren. An der Spitze der Gemeinde stand als rein herrschaftliche Ortsbehörde der Vogt (vocatus). Solange der Herzog nicht in der Stadt wohnte, war ihm ein Graf zur Seite gestellt. Später erhielt der Vogt allein den Kriegsbefehl über die Stadt und übte die Rechtspflege, besonders den Blutbann, aus. Aus dem den Vogt umgebenden Schöffengericht oder auch aus den Vorstehern der Kaufmannschaft gingen die Ratmannen (Consules) hervor, deren Vorstand den Titel Bürgermeister (Proconsul oder Magister civiumi führte Die Rechte dieses Rates umfassten jedenfalls die Verwaltung des Gemeindevermögens, die Aufsicht über Handel und Gewerbe und eine Art von Polizeigerichtsbarkeit, die sich namentlich auf den Verkauf der Lebensmittel, richtiges Maß und Gewicht, Preis und Güte derselben erstreckte.

Eine gedeihliche Entwickelung der Stadt blieb aber unmöglich, solange der größte Teil ihrer Bewohner, namentlich die Handwerker, als Hörige von den Rechten der Bürger ausgeschlossen waren. Dem Beispiele anderer Fürsten folgend verwandelte daher Herzog Albrecht II. im Jahre 1293 sämtliche Abgaben und Frondienste der Wittenberger Einwohner, welche deren Hörigkeit bezeichneten, wie schon bemerkt, in eine jährliche „Bede“ (d.i. ursprünglich: erbetene Beihilfe) von 50 Mark. Dadurch wurden die ganzen Bewohner mit einem Male vollberechtigte Bürger – ein für die weitere Entwickelung der Stadt hochbedeutsamer Schritt. Zwar verwaltete der herzogliche Vogt das städtische Gericht noch einige Zeit mit, aber er hatte bei der Entscheidung selbst keine Stimme. Er hatte nur die Schöffen zu befragen, und sprach dann deren Urteil aus, an dem er keine Änderung vornehmen durfte. Die Schöppen sprachen oder schöpften (daher ihr Name) das Recht nach dem Herkommen. Die Bestimmungen des von dem anhaltischen Gerichtsschöffen Eicke von Reppichau zwischen 1215 und 1235 geschaffenen „Sachsenspiegels“ blieben auf das platte Land beschränkt. Als Richtschnur diente den städtischen Schöffen die jährlich verlesene „Willkür“ (Rechtsvergleich) und die „Weißtümer“ (gerichtliche Aussprüche).
Der Wittenberger Willkür diente die Magdeburger als Vorbild, doch galt diese später als selbständiges Recht.

Eine Urkunde vom Jahre 1317 zeigt uns zuerst die Bürgerschaft unserer Stadt, die Gemeinde, unter Leitung eines Bürgermeisters und einer Anzahl Ratmannen oder Schöppen, obgleich diese Einrichtung gewiss schon früher bestanden hat. Die Zahl der Schöppen (Schöffen) wird 1340 auf sieben angegeben. Aus der Zahl der Bürgermeister sind hervorzuheben:
– Arnoldus Pulcher (Arnold Schön) 1332 bis 1336;
– Thyle Prambalg 1340 bis 1345;
– Niklas Wiemann 1361;
– Rudolf von Feuerstein 1371,
– Peter Buhle (vielleicht ein Ahnherr der Familie Bulius) 1387;
– Matthäus Prettin 1386 und
– Kaspar Krappe (Ahnherr der Gattin Melanchthons) 1422.

Die Bürgermeister bedurften für ihre schriftlichen Arbeiten natürlich bald einer Hilfskraft. Das Vorhandensein eines Stadtschreibers finden wir zuerst verbürgt im Jahr 1371. Die Ausführung der obrigkeitlichen Anordnungen, der Pfändungen, Verhaftungen u.s.w. lag in Wittenberg, wie in anderen Städten, den jungen Bürgern ob, im ersten Jahre, nachdem sie den Bürgereid geleistet hatten. Da jene dieser lästigen Verpflichtung nur widerwillig nachkamen, so hielt es der Bürgermeister schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts für geraten, einen Stadtknecht (Büttel, Ratsdiener) für diese Verrichtungen anzustellen. Bürgermeister und Ratmann waren naturgemäß vom Fürsten abhängig. Diese Abhängigkeit beschränkte sich zunächst auf die Mitverwaltung des Gerichtes durch den herzoglichen Vogt. Jedenfalls zwischen 1332 und 1361 trat aber an seine Stelle einer der Ratmannen mit dem Titel eines Stadtrichters. In welchem Ansehen die Rechtspflege des Wittenberger Rats damals stand, beweist die Tatsache, dass der Rat der Stadt Zerbst im Jahre 1393 die Streitsache eines dortigen Bürgers Hans Krüger, mit Bestätigung des kaiserlichen Hofgerichts zu Nürnberg dem Wittenberger Rate überwies. Eine wesentliche Veränderung in der Rechtspflege der Stadt trat 1441 ein.
War bisher das Gericht immer noch Eigentum des Landesherrn gewesen, so überließ im genannten Jahre Kurfürst Friedrich der Sanftmütige „dem Ehrsamen Bürgermeister und Raten und der ganzen Gemeinde daselbst zu Wittenberg die Gerichte der Stadt up einen Widerkauf für tausend guter rheinischer Gulden.“
Allerdings war das Gericht des Rates durch die Stadtmauer beschränkt. Deshalb musste das hochnotpeinliche Gericht auf dem Marktplatze ausgeführt werden.
Vier weiße quadratische Steine im Pflaster vor dem Rathause bezeichnen noch heute die Stelle, wo ehedem das Schafott stand.

Das Abhängigkeitsverhältnis der Stadt zum Landesfürsten fand in erster Linie seinen Ausdruck in der Entrichtung des jährlichen Schosses von 50 Mark Silber, der später auf 100 Mark gesteigert wurde. Hierzu traten noch einige kleinere Abgaben, wie z.B. das Küchengeld. Dies reichte natürlich nicht aus, um das Geldbedürfnis der Fürsten zu befriedigen, und so sehen wir, dass diese öfter eine Anleihe bei der Stadt machten.
So zahlte Wenzel eine solche Hauptanleihe in zehn Jahren zurück. Daneben wurden auch kleinere Summen geliehen, und wir hören gelegentlich von 6% Zinsen, die dafür entrichtet wurden. Recht häufig auch kam es vor, dass die Fürsten, um ihre Kasse wieder zu füllen, ihnen zustehende Rechte an die Stadt verkauften.
Die vier Zünfte, welche das Recht besaßen, Buden auf dem Markte aufzustellen oder das Kaufhaus zu benutzen, mussten hierfür dem Landesherrn einen Budenzins entrichten. Diesen Zins verkaufte Rudolf I. im Jahre 1354 an den Rat.
Von alters her war der Stadt das Münzrecht gegen ein an den Fürsten zu zahlendes Münzgeld von 14 Mark verliehen. Dass die Stadt von diesem Rechte der Münzprägung Gebrauch machte, bezeugen die Wittenberger Münzen von 1330 und 1355.
Auch dieses Recht verpfändete Rudolf III. an einen Wittenberger Bürger, ohne dass es je wieder eingelöst wurde. Auf diese Weise gelangte die Stadt nach und nach in den Besitz wertvoller Rechte, von denen außer den bereits genannten noch das Patronats- und Collaturrecht über die geistlichen Stellen erwähnt sein möge. Ein solches besaß der Rat u.a. über das Dorf Lubast, Berkau und Dobien. Auch das Grundeigentum der Stadt erfuhr im Laufe der Zeit teils durch Kauf, teils durch Schenkung eine ansehnliche Erweiterung. Wir erwähnten bereits, dass diese von der Herzogin-Witwe Agnes das Vorwerk Bruder Annendorf mit allen Äckern, Wiesen, Weiden und Gehölzer käuflich erwarb, ebenso dass Rudolf I. ihr das Dorf Hohndorf nebst dem Hohndorfer und Wiesigker Lug nebst allem Zubehör schenkte. Im Jahre 1391 waren auch bereits der Brant, das Fährholz und die Rodemark städtischer Besitz.
Im Jahre 1440 erwarb der Rat von dem Ritter Albrecht von Lipzek (Leipzig) in Bärwalde das Dorf Thießen für 250 rheinische Gulden, und 1454 verkauften Kaspar und Balzer Krappe an die Stadt zwei in der „Trebitzer Pflege“ belegene Gehölze, den großen und den kleinen Lug. Auch einzelne wohlhabende Bürger brachten Vorwerke und ganze Fluren in ihren Besitz.
So erfahren wir, daß das Dorf Boldensdorf (später Apollensdorf genannt) um 1346 im Besitze der Bürger Thiele, Kremer und Wymann war, deren Erben es später an den herzoglichen Hofmeister Henning Brusicken veräußerten.
Im Jahre 1425 waren außer Gallien und Prühlitz auch Trajuhn vom Landesherrn an die Stadt abgetreten worden.
Zwölf Jahre später leistete Otto von Düben auf seine an letzterem Orte haftenden Rechte zugunsten der Stadt Verzicht.

Eine wichtige Stellung in der städtischen Verfassung nahmen die Innungen oder Zünfte ein. Ihre Mitglieder mussten sich verpflichten zu gegenseitiger Unterstützung, Redlichkeit beim Handel und zu sittlichem Lebenswandel. Diese Handwerkerverbindungen bildeten bald den Kern der freigewordenen Bürgerschaft und wurden auch bald von den Fürsten als segensreiche Einrichtungen anerkannt und begünstigt. Es war natürlich, dass die Zünfte durch die große Zahl ihrer Mitglieder wie durch ihre Geschlossenheit bald ein erhebliches Übergewicht über die übrigen Bürger erlangten. Ein Teil der Ratmannen wurde aus den Zünften genommen, und der Rat war späterhin verpflichtet, alljährlich vor vier Zunftmeistern und zwei Männern aus der Gemeinde Rechnung zu legen. Die Oberaufsicht über die Zünfte stand dem Rate zu, und die Zunftbriefe verweisen ausdrücklich zum Gehorsam gegen den Rat.

Nur der wurde in eine Zunft aufgenommen, der sich vorher das Bürgerrecht beim Rate erworben hatte. Die Erteilung desselben wurde von deutscher Abstammung (Abkömmlinge von Wenden und Juden waren ausgeschlossen), von gutem Leumund und von der Zahlung eines geringen Bürgergeldes abhängig gemacht.
Die Verkaufstaxen wurden in der Regel vom Rate nach Besprechung mit den Obermeistern der Zünfte festgesetzt. Zuwiderhandlungen wurden mit Geldstrafen oder burschikoser Weise auch mit Bierstrafen geahndet.
Die Abhängigkeit vom Rate kam auch dadurch zum Ausdruck, dass die Zünfte die Bauern oder Morgensprache nur in Gegenwart der Ratmannen halten sollten.
Im Jahre 1402 scheint man diese Rechte dem Rate bestritten zu haben, weshalb Kurfürst Rudolf III. ausdrücklich diese bestätigte.
– Als erste der Wittenberger Zünfte wird urkundlich die der Bäcker genannt.
Neben dieser aber bestanden jedenfalls von alters her – wenn sie auch erst 1350 ausdrücklich erwähnt werden – noch drei andere Zünfte:
– die der Fleischer (Fleischhauer), deren Zunftbrief 1422 erneuert wurde,
– der Tuchmacher, der Gerber und Schuhmacher.
Diese genannten vier ältesten Gewerke behielten in späteren Zeiten manches vor den neu hinzukommenden voraus.
Ihre Obermeister, die alljährlich gewählt wurden, waren verpflichtet, alle Ruhestörungen und Aufläufe zu verhüten, sie wurden vom Rate in allen Handwerks- und Marktangelegenheiten befragt und wie bereits erwähnt bei der Rechnungslegung hinzugezogen.
Ja, die Zünfte aller übrigen Städte des Herzogtums waren angewiesen, die Rechtsfälle, welche sie selbst nicht erledigen konnten, durch die vier alten Gewerke von Wittenberg entscheiden zu lassen.

Nicht ohne Interesse sind die Bestimmungen der alten Zunftbriefe, die sich auf die innere Ordnung beziehen: die Vererbung des Meisterrechts auf Witwen, Söhne und Töchter. Die Söhne erbten stets ganzes Meisterrecht, die Töchter nur halbes. Witwen erhielten ganzes Meisterrecht; verheirateten sie sich aber wieder, und zwar mit einem Werkverständigen ohne Meisterrecht, so behielten sie nur das halbe. Die Innungsbriefe trafen weiter Bestimmungen üher gemeinschaftlichen Ankauf von Korn und Holz, über Aufnahme von Lehrlingen, Pflichten der Jungmeister, Leichenbegleitung, Aufzüge an Festtagen usw.
An jedem Sonntage mussten die Bäcker vor dem Rate erscheinen und zu den Heiligen schwören, dass sie dem Brote nach dem Kornpreise die rechte Größe gegeben hätten.
Die Fleischer mussten sich verpflichten, „kein scherbiges, stetiges oder mageres Vieh zu schlachten und redlichen Kauf zu geben.“
Und, dass der Rat sehr scharf auf die Erfüllung dieser Verpflichtung achtete, das lassen die Strafregister jener Zeit deutlich erkennen. Wie sehr man andererseits bemüht war, sich die Gunst der Fleischerinnung zu erhalten, geht u.a. daraus hervor, daß Kurfürst Friedrich der Sanftmütige dieser das Recht der Nachhütung auf dem großen und kleinen Anger und der Kuhlache für Schweine und Schafe und im großen Lug für Rindvieh verlieh. Es war dies ein wertvolles Privileg, das erst Ende des 19. Jahrhunderts bei der Separation mit 12 Morgen Land im großen Anger abgelöst wurde. Die Fleischerinnung zeichnete sich überhaupt durch umfangreichen Flurbesitz aus. So gehörte ihr die Waldmark Fleischerwerder, die ja noch heute mit ihrem Namen daran erinnert und später in das Eigentum der Stadt überging.
Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, dass Wittenberg schon frühzeitig ein städtisches Schlachthaus besaß. Nach einer noch vorhandenen Stadtrechnung vom Jahre 1509 brachte dieses an Benutzungsgebühren 2 Schock, 14 Groschen, 2 Pfennige und 1 Heller. Es muss also stark benutzt worden sein, da an Gebühren für seine Benutzung nur erhoben wurden:
– für ein Rind oder Schwein 1 Pfennig,
– für jedes andere Stück Vieh nur 1 Heller.

Selbstverständlich blieb es nicht bei den vier alten Zünften. Die übrigen Handwerker schlossen sich gleichfalls frühzeitig zusammen und suchten nun dieselben Rechte wie die Zünfte zu erwerben. Im Jahre 1356 bereits erlangte die Innung der Gewandschneider als solche Anerkennung, und bald folgten andere nach.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts bestanden in Wittenberg außer den vorgenannten fünf Zünften noch folgende:
– die der Kürschner,
– Krämer (das sind die späteren Nadler, Gürtler und Klempner),
– der Huf- und Waffenschmiede,
– der Messer- und Kleinschmiede (Schlosser),
.- der Böttcher und Leineweber.

Es verdient erwähnt zu werden, dass auch die Hirten im Kurkreise schon frühzeitig sich zu einer Zunft zusammen geschlossen hatten. Die älteste urkundliche Nachricht davon stammt aus dem Jahre 1556, wo von dem damaligen Amtsschösser Hyronimus Zorn die von den Hirten auf dem Fläming übergebenen 17 Artikel genehmigt wurden. Wegen der großen Verschiedenheit in der Hutung gliederte sich die Hirtenzunft in eine solche auf dem Fläming und in der Aue. Erstere hielt im Frühling und Herbst ihre Zusammenkunft in Zahna, Letztere zu den gleichen Zeiten in Kemberg.

In Nachahmung der Zünfte fingen um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Gesellen der einzelnen Gewerke an, sich zu Brüderschaften zusammenzutun, um so als geschlossene Korporation einen Einfluss in der Stadt zu gewinnen, welchen sie in den einzelnen Zünften nicht erhielten. Eine Urkunde vom Jahre 1449 erwähnt die Brüderschaften
– der Mühlknappen,
– der Bäcker,
– Schneider,
– Schuster- und
– Leinewebergesellen.

In dem von uns behandelten Zeitraume hatte die Bürgerschaft Wittenbergs, gleich derjenigen anderer Städte, zugleich auch kriegerische Verpflichtungen. Da in jenen unruhigen und unsicheren Zeiten die Landesgewalt zum Schutze der Städte nicht ausreichte, so mussten die Bürger selbst für ihre Sicherheit sorgen und die Stadt nicht allein gegen beutelüsterne Raubritter verteidigen, sondern auch mit den Streitkräften des Fürsten gegen jene adeligen Räuber zu Felde ziehen und ihre Raubburgen brechen.
Zu diesem Zwecke war jeder zünftige Meister mit Waffen versehen, ursprünglich Armbrust und Harnisch, späterhin die Büchse.
Dieses sein „Heergerät“ ging bei seinem Tode auf den ältesten Sohn oder den nächsten „Schwertmagen“ über.
(Schwertmagen werden die Verwandten männlicher Linie genannt, zum Unterschiede von „Spielmagen“ oder „Kunkelmagen“, das sind die Verwandten der Frau.)
Zum Instandhalten der Waffen und um die Bewaffnung einheitlicher zu gestalten, nahm der Rat 1332 einen Harnischmeister in Dienst, der gegen eine jährliche Besoldung, die in Geld, Holz, Dienstkleidung und Befreiung von allen bürgerlichen Lasten bestand, jährlich einige neue Armbrüste mit Sehnen und Pfeilen herstellen und schadhaft gewordene ausbessern musste.
Wenn so die gesamte Bürgerschaft Fertigkeit in der Waffenführung zu erlangen suchte, so lag es doch in der Natur der Sache, dass einzelne, namentlich die jüngeren Bürger, die Waffenübungen mit besonderem Eifer betrieben. Aus dieser Vereinigung ging unsere Schützengesellschaft hervor.
Zum ersten male wird der Wittenberger Bruderschaft der Schützen in einer Urkunde vom Jahre 1412 Erwähnung getan.
In diesem Jahre stiftete diese der Marienkirche (Pfarrkirche) einen neuen Altar, über welchen ihr 1433 Kurfürst Friedrich der Sanftmütige das Patronatsrecht bestätigte.
Abgesehen von anderen Merkmalen unterschied sich das Schützenkorps durch seine Ausdehnung von den Zünften.
Während letztere ihre bestimmten Grenzen hatten, über die sie nicht hinausgehen durften, ohne die Rechte anderer zu verletzen, nahm die Bruderschaft der Schützen ihre Mitglieder aus allen Kreisen der Bürgerschaft. Sie führte darum auch zum Unterschiede von den Zünften den Namen „Gilde“, der sich bis in unsere Tage erhalten hat. Jährlich ein oder mehrere Male zog die Schützengilde zu Waffenübungen aus, bei welchen nach einer Scheibe oder nach einem hölzernen Vogel geschossen wurde.
An diese Waffenübungen schlossen sich bald mancherlei Lustbarkeiten an, aus denen sich dann unser altberühmtes Schützenfest, die „Wittenberger Vogelwiese“, entwickelt hat.

Wittenbergs Bürgern blieb ernste kriegerische Tätigkeit nicht erspart: Bereits unter Herzog Bernhard, dem Sohne Albrechts des Bären, zerstörten sie die auf dem Wallberge in Dobien liegende Grenzburg, deren Ritter fortgesetzt die von Brandenburg nach Leipzig reisenden Kaufleute ausraubten und auch sonst die Wittenberger Bürgerschaft beunruhigten.
Ein gleiches Schicksal bereiteten die wehrhaften Wittenberger der etwa um 1150 erbauten Burg Ließnitz, deren Bewohner gleichfalls aus Raub und Plünderung ein einträgliches Gewerbe machten. Besonders schlimm trieb es der Ritter Otto von Düben (Dobien?). Da war die Geduld der Wittenberger erschöpft.
Um das Jahr 1538 rückten die sechs Reisigen Fähnlein der Zünfte heran. Nach kurzer, verzweifelter Gegenwehr war die Burg genommen; sie wurde zerstört und dem Erdboden gleich gemacht. Dem in Gefangenschaft geratenen Raubritter wurde verboten, hier je wieder sich anzusiedeln. Zum Zeichen dessen wurde in die Furchen der gepflügten Trümmerstätte Salz gestreut.
Der Ort galt seitdem als „grobe“, d.h. verfluchte Stätte.
Erst um 1550 wurde an jener Stelle das „Haus Kropstädt“ erbaut, dessen Name später auf den ganzen Ort überging.
Auch weiterhin noch wurde die Wittenberger Bürgerschaft oft aufgeboten.
Im Jahre 1440 rief sogar die mutige Kurfürstin Margarete in Abwesenheit ihres Gemahls die Wittenberger Zünfte gegen ihre Bedränger zu Hilfe, und 1446 sahen sich die Wittenberger genötigt, die Wasserburg Reinsdorf wegen fortgesetzter Übergriffe ihrer Bewohner zu zerstören.
Auch wird die Unterstützung gerühmt, welche Wittenbergs Bürger dem Herzoge Ernst 1466 bei Verfolgung und Vernichtung der „Stellmeisen“, einer berüchtigten Räuberbande, leisteten.

Versuchen wir nun am Schlusse dieses Abschnittes nach dem uns vorliegenden Materiale ein Bild der Stadt Wittenberg aus jener Zeit zu gewinnen.

Die Stadt hatte anfangs noch keine andere Schutzwehr, als die einfache Mauer, auf der nach einer alten Urkunde vom Jahre 1332 zweiundsiebzig Bürger die Wache hatten. Erst 1409 wurden Wall und Mauern in Festungsmanier hergerichtet. Die anfangs noch vorhandenen slawischen Elemente in der Stadt mussten immer mehr dem deutschen Wesen weichen.
Eine Verordnung vom Jahre 1327 verbot ausdrücklich den Gebrauch der wendischen Sprache. Und da 1304 Herzog Rudolf I. alle Juden aus der Stadt auswies, so konnten Wittenbergs Bewohner auch als rein christliche gelten, denn als später doch einige Juden die Rückkehr wagten, wurden sie im Jahre 1440 auf Veranlassung der Kurfürstin Margarete durch Friedrich den Sanftmütigen zum zweiten Male vertrieben.
Diesmal geschah dies mit dem Zusatze „auf ewige Zeiten“. Diese „ewigen Zeiten“ haben bis 1867 ausgehalten, wo sie durch das Freizügigkeitsgesetz beendet wurden.

Die Stadt selbst bietet folgendes Bild:
Sie ist mit Befestigungen umgeben, die von drei Toren durchschnitten werden:
– dem Coswiger-Tore (Schloss-Tor),
– Elb-Tore und
– Kreuz-Tore (Elster-Tore).
Innerhalb der Festungsmauer stehen etwas mehr als 400 Häuser. Vor dem Elstertore erhebt sich das Siechenhaus nebst Kapelle.
Etwa 400 Schritte davon liegt der Kirchhof, der gleichfalls eine Kapelle besitzt. Zwischen beiden, etwa da, wo jetzt die Luthereiche ihre Äste ausbreitet, steht das Spital zum heiligen Geist.
Vor dem Coswiger-Tore hat sich eine Neustadt zu bilden begonnen die späteren Fischerhäuser.
Genannt wird uns hier besonders eine Walkmühle.
Innerhalb der Stadt erhebt sich in der Mitte die um das Jahr 1300 erbaute Stadtkirche und daneben die um 1377 errichtete Kapelle zum heiligen Leichnam;
am Coswiger-Tore neben der vereinsamten Hofburg die Allerheiligenkapelle mit hochragendem Turme;
an der nördlichen Stadtmauer erhebt sich das stattliche Franziskanerkloster mit seiner Kirche, westlich davon die Antonienkapelle (das spätere Amtsgerichtsgefängnis in der Pfaffenstraße).
Im Osten der Stadt, neben dem Elster-Tore, hat das Augustinerkloster mit seinem bescheidenen Kirchlein Platz gefunden.

Vom Elb-Tore aus führte die erhöhte Straße nach Pratau (Brode). Anfangs wurde der Verkehr zwischen beiden Elbufern durch eine Fähre hergestellt.
Friedrich der Sanftmütige ließ eine große Holzbrücke erbauen, die aber bald durch Hochwasser zerstört wurde, so dass seit 1481 wieder die Fähre in ihre alten Rechte trat.
Oft hatte die Stadt unter Überschwemmungen zu leiden; an jene vom 17. Juni 1432 erinnert noch heute die steinerne Kugel am Lantzschen Grundstück am Elbtore.

Nach außen hin nahm Wittenberg am Schluß dieses Zeitabschnitts bereits eine geachtete Stellung ein. Zwar war die Stadt nicht mehr Residenz des Fürsten – dieser hielt an anderen Städten Hof – aber als Hauptstadt des mächtigsten Kurfürsten im heiligen Römischen Reiche hatte sie die erste Stelle und den Vorsitz in den Landtagen inne und verwahrte in dieser Eigenschaft auch die Landtagsbescheide.

4. Wittenberg unter Friedrich den Weisen.

Kurfürst Friedrich der Weise (1486 bis 1525), den ganz Deutschland als den gerechtesten, redlichsten und weisesten Fürsten ehrte, wandte seine Sorgfalt vor allem seinem Staate und im erhöhten Maße der Stadt Wittenberg zu. Er nahm von allen Wettinern zuerst hier zeitweise Wohnung. Zu dem Zwecke erbaute er von 1490 1499 hier an der Stelle der alten verfallenen Hofburg durch den berühmten Baumeister Konrad Pflüger aus Görlitz ein Schloss, dem die Albrechtsburg in Meißen zum Vorbilde diente. Die Innenräume desselben ließ er durch namhafte Künstler,
– wie den Nürnberger Maler Albrecht Dürer,
– den Venetianer Jakobo dei Barbari,
– Hans von Amberg u.a. ausschmücken.
Zum Bau verwandte er teilweise die Steine des alten in Trümmer liegenden Zahnaer Schlosses. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Palästina legte er den Grundstein zum stattlichen Neubau der Allerheiligenkirche (Schlosskirche), die 1499 gleichzeitig mit dem Schloss vollendet wurde.
Bereits im ersten Jahre seiner Regierung hatte er an Stelle der durch Hochwasser zerstörten ersten Elbbrücke eine neue eichene Brücke bauen lassen, die 1490 vollendet wurde. Diese hielt aus, bis sie im dreißigjährigen Kriege – 1637 – durch die Schweden zerstört wurde. Am reichsten aber beschenkte der edle Fürst unsere Stadt durch die Gründung der Universität.
Der Gedanke einer solchen Stiftung war schon frühzeitig in ihm erwacht. Zur Reife gelangte der Plan durch das Drängen seines Lehrers und Leibarztes Pollich von Möllerstadt, der auch der erste Rektor der neuen Universität wurde.
Am 18. Oktober 1502 wurde diese feierlich eingeweiht.
Eröffnet wurde die Feier durch eine Prozession vom Schlosse aus nach der Stadtkirche, wo eine feierliche Messe gesungen und hierauf die Einweihungspredigt von Nikolaus Schreyer aus Koburg gehalten wurde. Nach Beendigung des Gottesdienstes wurde Martin Pollich von Möllerstadt zum ersten Rektor der Universität und Goswin von Orson, bisher Prediger an der Antoniuskapelle zu Lichtenburg, zum ersten Kanzler derselben eingesetzt. Die neue Hochschule war gleich anfangs gut besucht. Unter dem Rektorate Pollichs von Möllerstadt wurden schon 416 Studierende eingeschrieben und zu Melanchthons Zeit belief sich – so wird berichtet – deren Zahl auf über 2000, sodass viele nicht bloß in den Vorstädten, sondern selbst in benachbarten Dörfern Wohnung nehmen mussten.
Der Ruf eines Luther und Melanchthon zog die Studierenden aus allen Gegenden Deutschlands und selbst aus fremden Ländern herbei.
An der Spitze der Universität stand der Rektor, welcher zweimal im Jahre, am 1. Mai und am 18. Oktober, gewählt wurde. Wenn aus hohen und fürstlichen Personen, die hier studierten, der Rektor gewählt wurde, so vertrat ein Prorektor dessen Stelle.
So war z.B.
– 1519 der Herzog Barnim von Pommern Rektor,
– 1558 Adolf Graf von Nassau,
– nach ihm ein Graf von Stahrenberg und
– 1601 August, ein Sohn des Kurfürsten Christian II., usw.
Die Wahl des Rektors erfolgte durch Stimmenmehrheit, zuerst im vollen akademischen Rate, sodann in der Sakristei der Schlosskirche. Dort, vor dem Altare, geschah auch die feierliche Abdankung des alten und die Weihe des neuen Rektors. Der abgehende Rektor hielt eine entsprechende Rede und übergab dann seinem Nachfolger die Abzeichen seiner akademischen Würde:
– das silberne Zepter,
– das Statutenbuch,
– das akademische Siegel,
– die Schlüssel der Akademie und zuletzt
– den Purpurmantel.

Das Siegel der Universität zeigte das Brustbild Friedrichs des Weisen mit dem Kurschwerte und der Umschrift:
„Auspice me Christum coepit Viteberga docere.“
Auf den Rektor folgen der Prokanzler und die vier sogenannten General-Reformatoren der einzelnen Fakultäten, deren Ämter und Würden in späterer Zeit auf die Dekane und Senioren der vier Fakultäten übergingen.
Diese vier Fakultäten waren die
– theologische,
– juristische,
– medizinische und
– philosophische.
In allen Fakultäten waren zusammen 22 Professoren angestellt.

Sehr zahlreich waren die Privilegien, welche die Universität nach und nach erhielt, und die unter der Bezeichnung ,“akademische Jurisdiktion“ zusammengefasst wurden.
Im Jahre 1537 erhielt die Akademie von Kurfürst Johann Friedrich die Gerichtsbarkeit über die ihr zugewiesenen Dörfer Eutzsch, Reuden, Melzwig, Apollensdorf, Piesteritz, Teuchel, Köpnick, Dietrichsdorf und Ahlsdorf.
Bis zum Jahre 1507 wurde die Universität aus der Hofkasse des Kurfürsten unterhalten; im genannten Jahre überwies ihr Friedrich der Weise die Schlosskirche mit allen ihren Einkünften, die er noch dadurch vermehrte, dass er die Propsteien Kemberg, Schlieben, Klöden und die Parochien Orlamünde, Schmiedeberg, Schalken, Liebenwerda und Jessen mit der Schlosskirche und Universität so verband, dass die Domherren der Kirche oder die Professoren der Universität die Pfarrämter in den genannten Orten durch Vikare verwalten lassen durften, während das volle Einkommen jener Stellen der Schlosskirche resp. der Universität zufloss.
Außer zahlreichen anderen Privilegien erhielt die Universität z.B. das Recht, in den kurfürstlichen Gehölzen den Vogelfang auszuüben. Der Merkwürdigkeit halber sei erwähnt, dass der philosophischen Fakultät das Privilegium erteilt wurde, Poeten mit dem Lorbeerkranz zu krönen.
Zuweilen wurde diese Ehre auch Frauen zuteil;
so erhielt am 1. März 1788 die Gattin des Lizentiaten Wetzke den Lorbeerkranz, wofür diese sich in einem überschwänglich gehaltenen Gedicht bedankte.

Sehr groß war die Zahl der Schenkungen und Stipendien, welche der Universität von wohlhabenden Gönnern überwiesen wurden, und von denen mehrere, wie z.B. das Zülsdorf’sche, das Hohndorf’sche und das Thomäische, noch heute bestehen.

Es würd zu weit führen, wollten wir hier ein vollständiges Bild der Universität zeichnen. Aus dem gleichen Grunde verzichten wir darauf, auf das wichtigste Ereignis jener Zeit, die Reformation, einzugehen, da wir bei unsern Lesern eine genaue Bekanntschaft mit diesem Werke Luthers, Melanchthons und ihrer Mitarbeiter voraussetzen dürfen.

Stadt und Bürgerschaft nahmen unter der Regierung Friedrichs des Weisen einen bedeutenden Aufschwung. Wittenberg war nach längerer Unterbrechung wieder Fürstensitz geworden, doch bewahrte die Stadt gleichwohl ihre Selbständigkeit in vollem Umfange.
Das kurfürstliche Hofgericht bestand zwar, so oft der Fürst hier anwesend war, aber nur zum Scheine.
Die Stadtgerichte blieben der Bürgerschaft, wie sie ihr einmal abgetreten waren, und wir erkennen z.B. aus einer Urkunde vom Jahre 1513 deutlich, dass darunter Erbgericht sowohl als Obergericht begriffen ist.
Von den Bürgermeistern, welche in dieser Zeit die Stadt regierten, seien genannt:
– Andreas Zülsdorf,
– Ambrosius Gertitz,
– Hans Krappe (der Schwiegervater Melanchthons),
– Thilo Dehne,
– Christian Bayer,
– Johann Hohndorf,
– Anton Kellner,
– Lukas Cranach (der Maler).

Von Johann Hohndorf, der neben seinen Amtsgenossen Bayer und Cranach zu Luthers Freunden gehörte und bei der Taufe des ersten Sohnes des Reformators Gevatter stand, besitzen wir ein getreues Konterfei auf dem Altarbilde in unserer Stadtkirche und zwar auf dem Flügel, der Beichte und Absolution darstellt.
Es ist der vor Bugenhagen knieende und von ihm losgesprochene Mann. Von ihm wird eine sonderbare Geschichte erzählt, deren Wahrheit aber nicht nachzuprüfen ist:

Der Tübinger Astrologe Stöfler hatte auf den 23. Februar 1524 eine allgemeine Sündflut vorhergesagt. Die Sorge um den drohenden Weltuntergang war auch in Wittenberg groß. Der eine baute sich nach Noahs Vorbild eine Arche, ein anderer flüchtete auf einen Berg. Hohndorf aber begab sich auf den wohlverwahrten Dachboden seines Hauses und ließ sich ein Viertel Gebräude Bier dahin bringen, um – wie er sagte „beim guten Trunk zu leiden“. Das Wittenberger Bier, der „Guckuck“, wie es genannt wurde, besaß damals einen guten Ruf und wurde zur Zeit in 172 berechtigten Häusern der Stadt gebraut. Als aber die Tonne leer war, und die gefürchtete Sündflut noch immer nicht kommen wollte, da verließ Hohndorf sein hohes Asyl und übernahm mutig wieder seine Amtsgeschäfte. Unter seiner Regierung wurde auch der notwendig gewordene Rathausneubau ausgeführt. Der Grund zu diesem jetzt noch stehenden Rathause wurde 1522 gelegt. Vollendet wurde es etwa bis 1540.
Die Stadt zählte um das Jahr 1513 innerhalb der Mauern 356 Häuser, von denen – wie schon bemerkt – 172 die Braugerechtigkeit besaßen.

Außerhalb der Mauern vor dem Schloßtore, in der Neustadt, zählte man damals 60 Häuser.
Durch die Stadt strömte, wie heute noch, der rische Bach, und dieser war, wie der Zahnische Bach (faule Bach), vom Kurfürsten 1507 mit Forellen besetzt worden. Daher war den Bürgern, die sonst überall bis eine Meile von der Stadt frei fischen durften, die Fischerei in diesen beiden Bächen verboten. Diese Freifischerei gab den Anlass zu manchem Streit mit den benachbarten Ortschaften.
Als die Elbe nach einer größeren Überschwemmung sich ein neues Bett gesucht, und der Fleischerwerder dadurch vom Bürgerlug getrennt worden war, musste die Bürgerschaft mit den Gemeinden Pratau, Dabrun und dem Gute Boos in einem besonderen Vertrage eine neue Grenzregulierung vornehmen.
Der Flurbesitz der Stadt vermehrte sich während des behandelten Zeitraumes um den breiten Anger und die Pfaffenweide (Pfaffenheide). Letztere war ein Geschenk des Kurfürsten, das jedoch unter der Bedingung gegeben war, daß er er davon soviel Ziegelerde nehmen durfte, als er zum Bau des Schlosses und der Schlosskirche benötigte.

5. Wittenberg bis zum Jahre 1815.

Die auf die Regierung Friedrichs des Weisen folgenden Jahrhunderte sind reich an Kriegsstürmen, von denen namentlich unsere Stadt heimgesucht wurde. Nicht wenig trug dazu der Umstand bei, daß sie schon frühzeitig befestigt war.
Ursprünglich bestand diese Befestigung nur in einer einfachen Mauer mit festen Türmen, deren Bewachung den Bürgern oblag. Nach einem Verzeichnis aus dem Jahre  1332 waren 72 Personen zur Mauerwache berufen.
Im Jahre 1409 aber wurden Wall und Mauern in Festungsmanier hergerichtet.
Als 1429 die Hussiten mit 1000 Mann Wittenberg angriffen, berannten sie vergeblich die Festungswerke und mussten unverrichteter Sache wegen abziehen. Sie rächten sich dadurch, daß sie die Vorstädte in Brand steckten. Unter Friedrich dem Weisen wurden die Festungswerke in den Jahren 1509 bis 1517 auf Kosten der Stadt verstärkt, und unter Kurfürst Johann Friedrich wurden zu der dreifachen Mauer und den Türmen noch fünf Außenwerke errichtet. Bald sollten die Festungswerke die Probe auf ihre Festigkeit bestehen.
Bereits im Sommer 1546, noch ehe die Häupter des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp von Hessen, mit ihrer Armee gegen Kaiser Karl V. zogen, war Wittenberg mit einer Garnison von 7000 Mann besetzt worden. Es wurde der völlige Belagerungszustand eingerichtet, die Hauben der Türme wurden abgetragen und deren Plattform mit Feldschlangen besetzt, ebenso wurden alle Wälle mit Geschützen und Kriegsmaschinen bewehrt.
Nachdem Kurfürst Johann Friedrich in der unglücklichen Schlacht auf der Lochauer Heide am 4. April 1547 geschlagen und gefangen genommen worden war, setzte sich das kaiserliche Heer gegen Wittenberg in Bewegung und belagerte die Stadt.
Wiederum mussten die Bewohner ansehen, wie die Vorstädte sämtlich in Flammen aufgingen. Kaiser Karl V. kam mit seinem fürstlichen Gefangenen auf dem linken Elbufer vor Wittenberg an. Etwa eine Dreiviertelstunde unterhalb der Stadt, vom sogenannten „Kaiserlager“ aus, setzte er mittels einer Schiffbrücke auf das rechte Ufer über und schlug bei Piesteritz sein Lager auf.
Beim Anblick der wohlverwahrten Festung äußerte er:
„Hätten wir den Vogel nit, das Nest bekämen wir sobald nit.“
Um seinen Zweck zu erreichen, nahm der Kaiser zu einem verwerflichen Mittel seine Zuflucht.
Er verurteilte, jedenfalls nur zum Schein, den Kurfürsten zum Tode und ließ ihm am 10. Mai das Todesurteil verkündigen.
Dieser spielte eben mit dem Herzog von Lüneburg im Zelte Schach. Gelassen hörte er das Urteil an und äußerte dann ruhig zum Herzog: „Wir wollen weiterspielen.“
Schon hatte man im Angesichte der Stadt das Blutgerüst aufgerichtet, als sich Karl V. durch die Vorstellungen mehrerer Fürsten bewegen ließ, das Todesurteil aufzuheben.
Er tat dies jedenfalls um so lieber, als er doch dabei den beabsichtigten Zweck – die Kapitulation der Festung – erreichte. Johann Friedrich musste die im der Geschichte bekannte „Wittenberger Kapitulation“ vom 18. Mai 1547 unterschreiben, wodurch er nicht bloß die Festung mit allen Vorräten, Geschützen, Magazinen usw. dem Kaiser übergab, sondern gleichzeitig auch für sich und seine Kinder auf die Kurwürde verzichtete.
Nur ein kleiner Teil seiner Länder, die thüringischen Besitzungen, verblieben ihm. Außerdem musste er in der Gefangenschaft des Kaisers bleiben, solange es diesem gefiel.
All diesen schweren Bedingungen unterwarf sich der Kurfürst, nur der einen nicht, daß er die Beschlüsse des Tridentiner Konzils annehmen und so von dem evangelischen Glauben sich abkehren sollte. Diese Zumutung wies er mit der größten Entschiedenheit zurück. Als die Bürgerschaft die Nachricht erhielt, die Stadt solle übergeben werden, geriet sie in die größte Bestürzung, denn man fürchtete nicht mit Unrecht die Gräueltaten der zügellosen Spanier in Karls Heere. Die Einwohner bestürmten ihren Stadtpfarrer D. Bugenhagen, er möge an den gefangenen Kurfürsten schreiben und ihn bitten, die Stadt nicht zu übergeben. Bugenhagen ließ darauf alle Glocken läuten und rief die ganze Einwohnerschaft in der Stadtkirche zusammen. Hier hielt er, wie er selbst sagte, nicht eine geistliche, sondern eine weltliche Rede an die geängstigte Gemeinde. Er führte ihr vor, daß beides bedenklich sei, die Nichtübergabe wie die Übergabe der Stadt. Doch riet er nach reiflicher Überlegung zur Übergabe und befahl dann in einem ergreifenden Gebete die Stadt in Gottes Schutz. Als Bedingung der Übergabe baten die Einwohner sich vom Kaiser aus, daß kein Spanier die Stadt betreten dürfe.
Als daher der Kurfürst vom Kaiser die Erlaubnis erhielt, acht Tage lang im Schloss zum Pfingstfest bei seiner Familie zu verweilen, da musste dieser länger als eine Stunde vor dem Tore warten, weil sich eine Menge Spanier herandrängten, die man nicht in die Stadt einlassen wollte. Nach der Übergabe der Stadt musste die alte Besatzung abziehen; an ihre Stelle trat eine neue aus Deutschen bestehende unter dem Befehle des kaiserlichen Statthalters Madruska.

Am 23. Mai kam der Kaiser mit einem kleinen Gefolge durch das Schloßtore selbst in die Stadt geritten. Er stattete der Kurfürstin Anna zunächst einen Besuch ab und begab sich dann in die Schlosskirche, wo er am Grabe der beiden Reformatoren in tiefem Nachdenken verweilte. Bekannt ist die Erzählung, wonach der fanatische Herzog Alba den Kaiser aufgefordert habe, den Leichnam Luthers auszugraben und verbrennen zu lassen.
Karl V. aber soll ihm die Antwort gegeben haben:
„Laßt ihn ruhen. Ich führe Krieg mit den Lebendigen und nicht mit den Toten.“
Auf einem in der Lutherhalle befindlichen Bilde von Teich ist diese Szene dargestellt. Der ganze Vorgang ist allerdings unbeglaubigt. Der Kaiser wünschte, auch die Stadtkirche zu besichtigen, er konnte aber nicht in das Innere gelangen, weil der Küster mit den Schlüsseln nicht aufzufinden war.
Bugenhagen berichtet über diesen Besuch selbst folgendes:
„Seine kaiserliche Majestät kam über den Kirchhof, ritt für meiner Tür über. Als Seine Majestät ein Kruzifix gemalt sah an der Kirchen, blößten Seine Majestät das Haupt und die anderen Herren auch. Seine Majestät ließ fragen nach den Schlüsseln, hätte gern in unserer Kirche gewest, aber unser Küster war nicht vorhanden.“
Einige vornehme Spanier aus des Kaisers Gefolge aber wussten kurz darauf Zutritt zu dem verschlossenen Gotteshause zu finden. Kaum hatte einer auf dem vierfachen von Cranachs Meisterhand gemalten Altarbilde das Bild Luther auf der Kanzel erblickt, als er auch schon den Degen zog und mit den Worten:
„Dieses Untier wütet auch im Tode noch“
nach diesem stach und die Schulter und den Unterleib traf. Diese Stiche sind heute noch im Bilde zu fühlen.

Den Kurkreis mit der Kurwürde verlieh der Kaiser dem Vetter des gefangenen Kurfürsten, dem Herzog Moritz von Sachsen, wodurch dieser Besitz von der Wettinischen auf die Albertinische Linie überging, in deren Händen er bis zum Jahre 1814 verblieb.
Auch die über 7 000 Mann starke Besatzung Wittenbergs wurde mit ihrem Gehorsam an den neuen Kurfürsten verwiesen. Moritz zeigte sich sehr besorgt um das Wohl der Stadt, namentlich um das der Universität. Die spanischen Horden hatten in der Umgegend arg gehaust, die Saat ihren Pferden gefüttert oder sie verwüstet.
Nach geschehener Huldigung erließ Kurfürst Moritz eine Bekanntmachung, in der er alle Einwohner des Kurkreises, die verjagt oder geflohen waren, zur Rückkehr aufforderte, indem er ihnen gleichzeitig Holz zum Aufbau der zerstörten Häuser und Brotkorn versprach.
Sein Wohlwollen gegen die Stadt Wittenberg bezeugt u.a. der Freiheitsbrief, welchen er ihr im Jahre 1552 erteilte.
Er gibt darin die Versicherung, daß die Stadt nicht ohne die äußerste Not mit Truppen belegt werden sollte. In dem Falle, daß dies doch geschähe, sollten die Kirchen- und Schuldiener, Professoren, Ratspersonen sowie auch Witwen und Waisen davon befreit sein.

Bei Ausbruch des dreißigjährigen Krieges wurde Wittenberg noch stärker befestigt, und die älteren Festungswerke durch neue vermehrt. Gegen 2000 Arbeiter waren dabei ununterbrochen tätig.

Im allgemeinen erging es der Stadt im Vergleich zu anderen Städten in diesem schrecklichsten aller Kriege noch glimpflich. Allerdings gingen auch jetzt wieder die Vorstädte in Flammen auf.
Im Jahre 1632 nahm der Retter des evangelischen Glaubens, der Schwedentönig Gustav Adolf, seinen Weg über Wittenberg. An der Elbbrücke begrüßten ihn die Studenten mit lauten Hochrufen.
Er dankte ihnen bewegt und soll zu ihnen gesprochen haben:

„Von Euch kam das Licht nach Schweden. Weil es aber bei Euch in Deutschland wieder dunkel wurde, mussten wir von Schweden herüber kommen, um das Licht wieder anzuzünden. Es soll bald taghell sein in diesem großen und schönen Lande.“

Der Stadt Wittenberg gab er zahlreiche Beweise seines Wohlwollens. Das geht auch aus den vielen Reden und Gedichten hervor, die zu seinem Lobe von Wittenberger Professoren und Studenten verfasst wurden. Nach dem Heldentode Gustav Adolfs bei Lützen musste freilich Sachsen und auch die Umgegend von Wittenberg durch die schwedischen Scharen viel leiden.
Im Jahre 1636 fiel der schwedische General Banner in Sachsen ein. Raub, Plünderung, Brand und Mord bezeichnete den Weg, den seine zügellose Soldateska genommen. Auch die Umgegend von Wittenberg wurde schwer heimgesucht. Viele Ortschaften, von denen nur noch die Namen auf uns gekommen sind, wurden damals bis auf den Grund verbrannt und zerstört.
Im ganzen Kurkreise zählte man 343 „wüste Marken“ auf dem Raume von 74 Quadratmeilen.
Davon entfallen auf das
– Amt Wittenberg allein 80,
– auf Belzig mit Rabenstein 65,
– auf Seyda 11,
– Schweinitz 15,
– Schlieben 4,
– Liebenwerda 27,
– Annaburg und Pretzsch 45,
– Gräfenhainichen 13 und
– Bitterfeld 62.
Die übrigen 41 kommen auf die zum Kurkreise gehörigen Exklaven. Ganze Gemeinden mit ihren Geistlichen und Lehrern suchten hinter den Mauern von Wittenberg Schutz.
Dieses wagten die rücksichtslosen Feinde seiner starken Festungswerke wegen nicht ernstlich anzugreifen.
Am 17. Januar 1637 aber legten sie Feuer an das Werk Friedrichs des Weisen, die Elbbrücke, von der drei Joche abbrannten.
Da der Kurkreis durch den Krieg und die ihm folgende Pest gänzlich verarmt war, so konnte vorerst an eine Wiederherstellung der Brücke nicht gedacht werden. Was die Schweden davon übrig gelassen hatten, das vernichtete in den nächsten Jahren Hochwasser und Eisgang, so daß man sich genötigt sah, auch die letzten noch stehenden sechs Joche abzutragen.
Von 1637 bis 1787, also 160 Jahre lang, war der Verkehr über den Elbstrom wieder auf die Fähre angewiesen.
Erst im Jahre 1784 bis 1787 ließ Kurfürst August III., der Erbauer des nach ihm benannten Augusteums, eine neue, auf 12 hölzernen Pfeilern ruhende Brücke von 350 Ellen Länge und 11 Ellen Breite herstellen. Diese dauerte nur 54 Jahre, bis zum Jahre 1841, wo sie durch einen starken Eisgang vernichtet wurde.
In den Jahren 1842 bis 1846 wurde dann die jetzt noch stehende und später mehrfach umgebaute Elbbrücke von der preußischen Regierung mit einem Kostenaufwande von 800 000 M. errichtet.

Um den Zustand des Kurkreises und den durch den Einfall der Schweden verursachten Schaden festzustellen, setzte Kurfürst Georg I. eine besondere Kommission zu diesem Zwecke ein. Diese Untersuchung, welche im April und Mai 1638 stattfand, lieferte folgendes Resultat:
„Im Bezirke des Amtes Wittenberg sind 111 Oerter gelegen,
nämlich 5 Städte:
– Wittenberg,
– Schmiedeberg,
– Kemberg,
– Zahna,
– Pretzsch;
– 25 Dörfer sind den Kanzleisassen gehörig;
– 1 Flecken und 52 Dörfer gehören dem Amte,
– 19 Dörfer der Universität u. dem Erbmarschall Löser (in Pretzsch)
– und 9 Dörfer den Amtsschriftsassen.
Es haben sich 3540 Häuser und Güter und ebenso viel Familien bei vorigen guten Zeiten darin befunden.
Von obiger Zahl sind 1033 Häuser und Güter abgebrannt, und 1315 Häuser und Güter stehen wüste.
Außer den abgebrannten Häusern waren noch 254 von den feindlichen Truppen niedergerissen.
An Vieh sind gefunden worden: 205 Pferde, 55 Ochsen, 204 Kühe, 921 Schafe, 9 Ziegen und 197 Schweine.
Unter den Städten haben Zahna und Pretzsch am meisten gelitten. Im ersteren Orte sind 243 und im letzteren 133 Häuser zerstört.
In Schmiedeberg wurden 159 Häuser abgebrannt, und nur 101 Einwohner blieben am Leben. Man sah täglich 6 bis 10 Dörfer in Flammen aufgehen. Die über der Elbe in der Aue belegenen Dörfer haben am meisten gelitten, ebenso die der Universität gehörenden und die Löserschen Dörfer, nicht minder die auf dem Fläming der hiesigen Festung am nächsten lagen, denn in diesen letzteren hat sich ein Meile umher kein Mensch aufhalten dürfen“. – Soweit der Bericht der Untersuchungskommission.

Viel Ungemach widerfuhr der Stadt Wittenberg im sogenannten nordischen Kriege, den Kurfürst Friedrich August I. (König August der Starke von Polen) mit veranlasst hatte.
Am 27. August 1706 erging an die Bürger der Befehl, daß kein Bürger die Stadt verlassen dürfe und jeder sich zum Wachdienste bereit halten möge, da die Schweden im Anzuge seien.
Am 8. September rückte ein französisches Bataillon in die Stadt ein. Die französischen Soldaten begingen allerlei grobe Ausschreitungen, was die Bürger zu lebhaften Klagen beim Rate veranlasste. Dessen ungeachtet wurde jedem Bürger das Verlassen der Stadt bei 100 Talern Strafe von neuem verboten.
Die französische Besatzung verließ die Stadt bald wieder, und am Michaelistag 1706 rückte ein 1200 Mann starkes schwedisches Regiment hier ein. Der Rat der Stadt ließ dem Obersten Rosenstirna bei seiner Ankunft zwei vergoldete silberne Deckelbecher als Geschenk überreichen. Eine Stunde nach dem Einmarsche versammelte sich das Regiment wieder auf dem Marktplatze, und Offiziere wie Gemeine hielten hier knieend eine Andacht.
Die Stadt wurde verpflichtet, dem Obersten wöchentlich 50 Taler Tafelgelder zu zahlen. Indessen war dies eine Kleinigkeit, gegenüber den sonstigen Lasten, welche ihr innerhalb von 9 Monaten von den ungebetenen feindlichen Gästen auferlegt wurden.

Allein während der vier Monate September bis Dezember musste die Stadt aufbringen:
An Kriegskontribution

An Exekutionsgebühren                        2074 Taler  15 Gr.
An Exekutionsgebühren                           157 Taler   16 Gr.
Für zu liefernde Artilleriepferde         500 Taler      –
112 Zentner 24 Pfund Heu                       80 Taler     8 Gr.    9 Pf.
An Hafer und Stroh                                        32 Taler     3 Gr.
Für die Verpflegung der schwedischen
Truppen an den ersten beiden Tagen,
inklusive 17 Taler, die der Major Wrangel
mit seinen Leuten vor dem Einmarsch im
„Goldenen Adler“ verzehrt                        217 Taler   –
Zu den verschiedenen Bedürfnissen;
wie Wagen, Baukosten an der
Hauptwache usw.                                            238 Taler  2 Gr.    6 Pf.
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Sa.                                                                        22020 Taler  21 Gr.  3 Pf.
Hierzu kommen noch 6 000 Taler, welche die Universität und die umliegenden Dörfer aufbringen mussten. In den Monaten Januar und Februar 1707 musste die Stadt ferner aufbringen:
10 376 Taler, in den Monaten März und April 6 917 Taler 11 Gr. und im Monat Mai 1 729 Taler 10 Gr.;
ferner an Fourage Geldern 8 000 Taler;
an Verpflegung 524 Taler 18 Gr.,
ungerechnet sonstiger bedeutender Kosten.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß es unserer Stadt schwer wurde, diese hohen Summen aufzubringen. Der Rat sah sich daher genötigt, einen Teil des städtischen Grundbesitzes unter der Bedingung der Wiedereinlösung zu verpfänden.
So verpfändete er den Fleischerwerder an Samuel Fröber aus Treuenbrietzen gegen 4 000 Gulden, ebenso die Hutung auf Bodemar und eine zum Rittergute Seegrehna gehörige Wiese an die Gemeinde Seegrehna gegen 1700 Gulden und die auf Bodemar gelegene weiße Pfuhlwiese an den Seegrehnaer Pfarrer gegen 200 Taler und das Versprechen, dem Sohne des Pfarrers eine Freistelle auf der Landesschule Grimma und späterhin ein ansehnliches Stipendium auf der Wittenberger Universität zu verleihen.

Am 21. Februar 1707 kam der Schwedenkönig Karl XII. nach Wittenberg, wo er die Schlosskirche und die Lutherstube besuchte.

Einige Jahre später am 14. Oktober 1712 besuchte übrigens auch sein Gegner, Peter der Große von Rußland, unsere Stadt.
Bei seinem Besuche im Lutherhause ließ er das Trinkglas Luthers fallen, so dass dieses noch jetzt in Scherben gezeigt wird.
Nach einer anderen Lesart hat er es absichtlich fallen lassen, weil man ihm das kostbare Andenken nicht überlassen wollte.
An die Tür, welche aus der Lutherstube nach dem Nebenraume führt, schrieb er mit Kreide seinen Namen, wo dieser, unter Glas gefaßt, noch heute zu sehen ist.

Erst am 2. September 1707 verließ die schwedische Besatzung die Stadt, nachdem sie diese 11 Monate lang bedrückt und ausgesogen hatte.

Noch größeres Unheil brachte der siebenjährige Krieg über unsere Stadt. Der Kurfürst von Sachsen hatte sich den Feinden des Preußenkönigs Friedrichs des Großen angeschlossen.
Die Folge dieser kurzsichtigen Politik war, daß Wittenberg wieder die Schrecken des Krieges erfahren musste.
Bereits im Sommer 1759 wurde die Stadt von den Preußen besetzt. Als aber am 20. August 1759 die Reichsarmee sich der Festung näherte, schlossen diese eine Kapitulation ab, nach der ihnen freier Abzug zugestanden wurde.
Am 27. August erschien wieder ein preußisches Heer vor den Wällen, und nun erfolgte eine ähnliche Kapitulation seitens der Reichsarmee.

Im Herbste 1760 aber rückten gleichzeitig vier Heeresabteilungen gegen die geängstigte Stadt:
auf der linken Seite der Elbe das Württembergische Korps,
auf der rechten Seite ein preußisches Heer, dem bald die Reichsarmee und die unter dem Befehle des Generals Lasci stehenden Truppen folgten.
Die Stadt seufzte unter der Last der Einquartierung.
Die akademischen Gebäude, das Rathaus, das Schulgebäude ua. öffentlichen Häuser wurden zu Lazaretten eingerichtet und mit Hunderten von Kranken angefüllt.
Am 2. Oktober entspann sich hinter den Weinbergen bei Teuchel ein heftiges Gefecht zwischen den Preußen unter dem Befehle des General Hülsen und der Reichsarmee unter dem Kommando des Herzogs von Zweibrücken, wobei das Dorf Teuchel in Flammen aufging. In der folgenden Nacht brannte die preußische Besatzung die Vorstädte nieder, um freies Gefechtsfeld zu haben.
Am gleichen Tage begann das Württembergische Korps, die Stadt mit Haubitzen und Granaten zu beschießen.
Durch diese Kanonade wurde das Kleemannsche Haus in der Mittelstraße völlig zerstört, die akademischen Gebäude, Fridericianum und Augusteum, arg beschädigt.
Der preußische Kommandant verweigerte die geforderte Kapitulation, er ließ das Straßenpflaster aufreißen und die Wälle noch mehr befestigen.
Die Beschießung vom 2. Oktober war indessen nur das Vorspiel zu dem unheilvollen Bombardement vom 13. Oktober.
Die Belagerer hatten eine Schiffbrücke über die Elbe geschlagen, eröffneten Laufgräben, errichteten drei Batterien vor dem Schloßtore und begannen nun ihren Geschoßhagel in die unglückliche Stadt zu werfen.

Ein Augenzeuge berichtet, dass an diesem Tage 1 000 Bomben, ungezählte Kanonenkugeln und Haubitzgranaten in die Stadt geschleudert wurden. Grauenhaft war die angerichtete Zerstörung: In der inneren Stadt allein wurden 181 Häuser stark beschädigt und 132 völlig zerstört. Besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde die Juristenstraße, die einem Trümmerhaufen glich, ferner die Klosterstraße, Bürgermeisterstraße, Scharrengasse, Töpfergasse und ein großer Teil der Jüdenstraße.
Es wurden infolge dessen 296 Familien obdachlos.
Noch schlimmer waren die Verwüstungen in den Vorstädten, in denen insgesamt 200 Häuser zerstört wurden. Zwei Personen – der Pächter der Fleischsteuer namens Kõppe und die Ehefrau des Tagelöhners Gentzsch wurden durch einschlagende Granaten getötet.
Besonders schlimm hatte die Schlosskirche gelitten, von welcher fast nichts als nur die kahlen Umfassungsmauern stehen blieben.
Die historische Tür, an welche Luther am 31. Oktober 1517 die 95 Thesen schlug, wurde samt der inneren Einrichtung ein Raub der Flammen.
Auch unsere Pfarrkirche schwebte in großer Gefahr; sie wurde von zahlreichen Kugeln getroffen, und der eine Turm hatte bereits Feuer gefangen, das aber von einigen beherzten Bürgern noch rechtzeitig gelöscht wurde.

Da endlich, als die Not der Einwohner aufs höchste gestiegen war, entschloss sich die preußische Besatzung zur Kapitulation. Mit klingendem Spiele zog sie zum Elbtore hinaus, um dort das Gewehr zu strecken. Der Oberbefehlshaber der Reichsarmee gab hierauf den Befehl die Festungswerke zu sprengen. Schon hatte man an der Nordseite die Brustwehr zerstört, die Palisaden ausgehoben und Minen zur Sprengung der Hauptwerke gelegt, als die Nachricht eintraf, dass der gefürchtete Preußenkönig mit einer Armee im Anmarsch auf Wittenberg sei.
Daraufhin unterbrach man die Zerstörungsarbeiten, und am 23. Oktober verließ die letzte Abteilung der Reichsarmee die Stadt, die Schiffbrücke, auf welcher sie über die Elbe setzte, hinter sich verbrennend. Gleich darauf rückten preußische Husaren in Wittenberg ein.
Friedrich der Große erschien selbst in der Stadt und nahm mit Bedauern die großen Verheerungen darin wahr.
Das preußische Heer ging hierauf auf zwei unweit Wittenberg und Dessau geschlagenen Schiffbrücken über die Elbe, um den Feind zu verfolgen, und in der Schlacht von Torgau am 3. November zu besiegen.
Die demolierten Festungswerke wurden leider zum Unglück unserer Stadt wieder hergestellt.
Nur schwer und allmählich erholte sich Wittenberg von den Wunden des siebenjährigen Krieges.

Im Jahre 1806 aber begann für dieses eine neue schwere Leidenszeit. Der Kurfürst Friedrich August von Sachsen hatte noch in der Schlacht bei Jena den Franzosen als Feind gegenüber gestanden. Im Frieden zu Posen am 11. Dezember 1806 aber erklärte er sich zum Bundesgenossen Frankreichs und Mitgliede des Rheinbundes und sagte die Stellung eines Bundeskontingents von 2 000 Mann zu. Für diese Willfährigkeit erhob ihn Napoleon I. zum König.
Die Stadt Wittenberg aber musste diese Wandlung bitter bezahlen. Nach der Schlacht von Jena richtete der Stolze Sieger seinen Marsch nach Preußens Hauptstadt Berlin. Der größte Teil der französischen Truppen berührte unsere Stadt. Vom 20. Oktober bis 28. November 1806 hatte diese und die an der Heerstraße liegenden Ortschaften unter der wechselnden Einquartierung schwer zu leiden.
Wegen der mit dem Kurfürsten angebahnten Verhandlungen wurde Sachsen zwar nicht als feindliches Gebiet behandelt, aber trotzdem musste Wittenberg und der Kur kreis bedeutende Lieferungen an Naturalien leisten und 2 Millionen Franken Kriegskontribution zahlen. Insbesondere hatten die jenseits der Elbe gelegenen Orte viel zu leiden. Das Korps des Marschalls von Davout erhielt den Befehl, nicht eher die Elbe zu überschreiten, bis der Kaiser mit dem Kerne der Armee von Halle aus eingetroffen sei.
Infolgedessen schlug das genannte Korps zwischen Eutzsch und Pratau sein Lager auf, da nicht alle Soldaten in den Dörfern untergebracht werden konnten. Die drei Tage dieses Lagerlebens haben die Bewohner jener Orte schwer empfinden müssen. Den Truppen musste nicht allein reichliche Verpflegung gegeben werden, sondern diese nahmen auch heimlich und mit Gewalt Geld und Geldeswert hinweg. Lebensmittel, Vieh, Kochgeschirr, Betten usw. wurden den Einwohnern fortgenommen und ins Lager geschleppt, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Ein getreues Bild von den der Stadt Wittenberg auferlegten Lasten geben die uns vorliegenden Aufzeichnungen eines Zeitgenossen. Zur Verpflegung der französischen Truppen wurden geliefert

a) am 20. Oktober 1806:
6 000 Bouteillen Wein,
30 000 Rationen Brot,
100 Stück Kühe und Ochsen,
außerdem 2385 Taler für diejenigen Lieferungen,
die nicht aufgebracht werden konnten.

b) am 21. Oktober wurden durch den Kriegskommissar Bourget ausgeschrieben:
20 000 Rationen Brot,
20 000 Rationen Hafer, Heu und Stroh,
200 Ochsen,
2 000 Flaschen Wein.

c) am 26. und 27. Oktober wurden zur Lieferung ausgeschrieben:
6 000 Zentner Weizen,
6 000 Zentner Heu,
6 000 Zentner Stroh,
11 000 Scheffel Hafer,
60 Stück. Ochsen.

d) am 15. November erfolgte eine neue Ausschreibung von:
5 200 Scheffel Hafer,
9 686 Scheffel Weizen,
65 Scheffel Erbsen,
260 Faß Bier,
70 ½ Eimer Branntwein,
414 Eimer Wein,
26 ¾ Scheffel Salz,
810 Stück Ochsen,
450 Stück Schafen,
7 587 Zentner Heu,
505 Schock Stroh,
482 Klaster Brennholz,
1 350 ½ Pfund Lichte,
525 ½ Pfund Oel,
2 315 Pfund gebackenen Pflaumen,
17 ½ Zentner Reis.

e) Für das angelegte Reserve-Magazin für 150 000 Mann
und 40 000 Pferde wurden requiriert:
18 456 Scheffel Weizen,
7 099 Scheffel Korn,
447 ½ Zentner Reis,
437 ½ Scheffel Salz,
37 500 Pinten Weinessig,
140 625 Pinten Branntwein,
54 000 Pinten Wein,
328 191 Kannen Bier,
3 214 Ochsen,
8 600 Zentner Heu,
5 250 Schock Stroh,
3 3819 Scheffel Hafer,
7 380 Klafter Scheitholz,
1 050 Pfund Lichte,
525 Pfund Oel.

Für Napoleon schien Wittenberg als befestigter Platz große Wichtigkeit zu haben. Gleich nach seiner Ankunft hier gab er Befehl, die vernachlässigten Festungswälle wieder herzustellen und zu verstärken. Damit begann für unsere Stadt die Einleitung zu den schrecklichen Drangsalen der Jahre 1813 und 1814.

Im Jahre 1809 erschien der Major Schill mit seinem Korps vor den Mauern Wittenbergs. Im Verein mit der damals nur schwachen Besatzung schloss die bewaffnete Bürgerschaft bei dessen Annäherung die Tore und besetzte die Wälle, sodass die kühne Schar nichts ausrichten konnte, sondern weiterziehen musste, ohne die in der Stadt unter gebrachte Kriegskasse, auf die es wohl hauptsächlich abgesehen war, in die Hände zu bekommen.
Zur Belohnung für die bewiesene Treue verlieh der König von Sachsen den beiden Bürgerhauptleuten Oeser und Naumann die Ehrenmedaille, der Bürgerschaft aber schenkte er eine kostbare Fahne in den sächsischen Farben.
Zum Andenken hieran veranstaltete die Bürgerschaft eine Sammlung, die den Betrag von 300 Talern ergab und aus der am 23. März 1811 das sogenannte Fahnen-Stipendium gegründet wurde. Die Verwaltung desselben wurde dem Magistrate übertragen und im Einverständnis mit diesem bestimmt, dass die Zinsen dieses Kapitals wechselweise ein Bürgerssohn, der sich dem Handwerk, der Kunst oder der Wissenschaften widmet, oder eine Bürgerstochter zur Aussteuer bei ihrer Verheiratung erhalten solle. Die Zinsen des Stipendiums betragen gegenwärtig 31,50 M.
Im Jahre 1821 lieh sich die hiesige Schützengilde das Kapital gegen Verpfändung des im Schießgraben belegenen Gebäudes und verzinste dieses mit jährlich 4 ½ Prozent.
Im Jahre 1876 zahlte sie die Summe wieder an die Kämmereikasse zurück. Die vom König von Sachsen geschenkte Fahne wurde beim Auszuge zum Schützenfeste abwechselnd von den Schützen und den Grenadieren, welche die bewaffnete Bürgerschaft bildeten, getragen.
Im Jahre 1817 schenkte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen der bewaffneten Bürgerschaft an Stelle dieser sächsischen Fahne eine andere, ihr ähnliche mit dem preußischen Wappen und dem Namenszuge des Königs, die nunmehr von den Schützen und Grenadieren bei den Auszügen getragen wurde.
Vom Jahre 1843 ab wurde aber den Schützen auf ihr Gesuch das Tragen der sächsischen Fahne wieder gestattet. Die Schützen und die Grenadier-Kompagnie hatte gleichzeitig auch die Verpflichtung, die Stadt in besonderen Fällen zu schützen und zu verteidigen. Zu diesem Zwecke war ihr eine besondere Zug- und Wachtordnung vom Magistrate vorgeschrieben.
Wir heben aus dieser vom Jahre 1810 datierten Ordnung nachstehend die wichtigsten Bestimmungen hervor:

§ 2. Jeder neu anzunehmende Bürger kann nicht eher als Bürger angenommen und verpflichtet werden, bevor er nicht nachgewiesen hat, dass er sich mit einem guten, brauchbaren Feuer und Seitengewehr nebst Patronentasche und der üblichen Uniform versehen hat.
§ 3. Ob jemand unter die Schützen oder Grenadier-Kompagnie aufgenommen werden soll, bleibt ganz allein der Bestimmung des Magistratsmitgliedes, welches als Oberhauptmann fungiert, überlassen. Es hat sich daher jeder Neuaufzunehmende bei ihm zu melden und sich zu seiner Bestimmung ohne Murren sich unterwerfen.
§ 4. Jeder Bürger hat bei allen Auf- und Auszügen, beim Exerzieren und den Wachen dem Oberhauptmann sowie den übrigen Offizieren strengen Gehorsam zu leisten. Würde sich jemand widersetzen und widerspenstig bezeigen, der soll unabänderlich mit 6 Tagen Gefängnis oder um ein neues Schock ?? bestraft werden.
§ 10. Wer mit unbrauchbarem und ungeputztem Gewehre erscheint, wird um 4 Groschen gestraft und das Gewehr auf seine Kosten repariert
§ 12. Wenn beim Exerzieren oder zur Zeit des Vogelschießens zu feuern oder nach der Scheibe zu schießen angeordnet wird, soll jeder mit 3 Schuss Pulver zum Feuern und 3 Schuss Blei und Pulver zum Scheibenschießen versehen sein, auch sollen an diesem Scheibenschießen alle ohne Ausnahme teilnehmen. Jeder kann erst dann, wenn er seine Schüsse getan, nach erhaltener Erlaubnis fortgehen, um sich ein Vergnügen zu machen, doch darf er sich nicht zu weit entfernen, damit er, sobald die Vergatterung geschlagen wird, schnell sich zu seinem Gewehre stellen kann. Wer dagegen handelt, wird um ein halbes altes Schock oder nach Beschaffenheit der Umstände mit Gefängnis bestraft.

Kehren wir nunmehr zu den Zeit Ereignissen zurück. Die Annäherung des vom General Grénier befehligten Korps, das aus Italien kommend in Stärke von 24000 Mann in Sachsen einrückte, wurde das Vorspiel zu dem schreckensvollen Kriegsdrama, in dessen Mittelpunkte unsere Stadt stand.
Am 12. Januar 1813 rückte Gréniers Vorhut in Wittenberg ein. Der Durchmarsch der Truppen währte bis zum 30. Januar, und auch noch im Februar berührten einzelne Teile der großen Armee unsere Stadt.

Es kam daher nicht selten vor, daß einzelne von ihnen zu den Belagerern übergingen.
Am 6. Mai unternahm die Garnison wieder einen Ausfall nach der Gegend der Klausstraße, wurde aber von den tapferen preußischen Jägern zurückgewiesen, wobei die Franzosen 17 Tote und 31 Verwundete verloren. Das Herannahen einer größeren französischen Truppenmacht zwang die Verbündeten, die Belagerung von Wittenberg vorläufig aufzuheben. Indessen kam die geängstigte Stadt noch nicht zur Ruhe, da sich noch fortgesetzt russische Kosaken sowie preußische Truppen in der Nähe zeigten, und man jeden Tag eine neue Einschließung gewärtigen musste. Endlich aber kam zwischen den kriegführenden Mächten ein Waffenstillstand zustande, der die Bedingung enthielt, daß alle noch in Sachsen befindlichen preußischen und russischen Truppen dieses Gebiet räumen sollten.
So wurde endlich Wittenberg nach Wochen und Monaten höchster Not von der Belagerung und ihren Schrecken befreit – freilich nur für eine kurze Frist.

Die gewonnene Zeit benutzten die Franzosen zur Ausbesserung und Verstärkung der Festungswerke.
Im Juli kam der Kaiser Napoleon nach Wittenberg, um die Festungsanlagen zu besichtigen. Die Universität bewillkommnete ihn durch eine Deputation, welche die Hochschule seinem Schutze empfahl. Allein der hochmütige Korse soll erklärt haben: „Wittenberg hat aufgehört, eine Bildungsanstalt für junge Leute zu sein.“
Nach einer kurzen Truppenschau reiste Napoleon wieder nach Dresden ab. Ehe noch in Sachen der Universität eine Entscheidung der zuständigen sächsischen Behörde eintraf, ließ Lapoype eigenmächtig die akademischen Gebäude vollends räumen. Die Bücher der reichhaltigen Bibliothek wurden von den Soldaten in buntem Durcheinander in Körbe gepackt und in das Provianthaus geschüttet. Ein Reskript vom 24. Juli ordnete an, dass die Bibliothek und die Sammlungen der Universität nach Dresden gebracht und dort in den Souterrains der Kreuzkirche aufbewahrt werden sollten. Die Bücher wurden daher in eilig zusammengenagelten Kisten notdürftig verpackt und auf zwei Elbkähne gebracht. Allein beide Schiffe wurden in der Nähe von Meißen von Kosaken angehalten und mit Beschlag belegt, und nur unter den größten Schwierigkeiten gelang es, die Bücher und Sammlungen in das nahe Schloß Seuselitz zu schaffen.
Nach der im Jahre 1815 erfolgten formellen Aufhebung der Wittenberger Universität und ihrer Vereinigung mit der Halleschen Hochschule wurde die Bibliothek nach letzterem Orte überführt, während ein Teil, vorwiegend theologische Werke, dem 1817 gegründeten Wittenberger Predigerseminare überwiesen wurde. Den Universitätslehrern wurde es, unbeschadet ihres Gehalts, überlassen, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Auch wurde durch besondere Reskripte angeordnet, dass der Fortschaffung des Eigentums der Universität und der Professoren, sowie deren Weggange aus Wittenberg weder von den französischen Behörden, noch von sonst einer Seite Hindernisse in den Weg gelegt werden sollten.
Dessen ungeachtet erlaubte sich Lapoype allerlei Übergriffe.
Sehr treffend bemerkt darüber einer der Universitätslehrer, der Professor Pölitz:
„Es gehörte zu den größten Willkürlichkeiten des in den deutschen Universitätsanalen unvergesslichen Lapoype, dass er die plötzliche Räumung aller Universitätsgebäude mit der größten Härte anordnete und durchführen ließ und dennoch das Eigentum der Universität sowie das Privateigentum der Professoren nicht aus Wittenberg herauslassen wollte, um die durch Leiden aller Art erschöpften Professoren zur Rückkehr, oder eigentlich zur Verpflegung der ihnen zugeteilten Einquartierung zu nötigen.“
Ein weiteres Reskript der sächsischen Regierung ordnete an, dass die Angelegenheit der Universität bis auf weiteres von Schmiedeberg aus geordnet würden und demnach das Protonotariat und die Verwalterei nebst dem vorhandenen baren Kassenbestande dahin gebracht werden sollte, was denn auch vom 1. September ab geschah.

Unterdessen hatten die Feindseligkeiten bereits wieder begonnen. Bald nach der Niederlage der Franzosen bei Großbeeren wandte sich ein Teil dieser Armee in die Gegend von Wittenberg, für die nunmehr eine neue Leidenszeit anbrach. Was die Soldaten nicht freiwillig erhielten, das nahmen sie sich mit Gewalt. Raub, Plünderung und Verwüstung von Häusern, Gärten und Feldern waren an der Tagesordnung.
Durch die Einquartierung waren ansteckende Krankheiten eingeschleppt worden, die unter den Einwohnern zahlreiche Opfer forderten.
Im Monat September starben in Wittenberg allein 100 Personen. Vom 12. September ab konnte in der Stadtkirche kein Gottesdienst mehr gehalten werden, da der rücksichtslose Gouverneur diese räumen und in ein Magazin umwandeln ließ.
Durch dringende Vorstellungen erreichte der Superintendent Nitzsch, dass wenigstens der Altarplatz, die Kanzel und die Orgel geschont wurden und die Sakristei frei blieb, in welcher das Kirchenarchiv aufbewahrt wurde.
Anfang des Monats September traf der Marschall Ney in Wittenberg ein. Er vereinigte sämtliche in der Umgegend stehende Heeresabteilungen, um mit der so gebildeten Armee erneut gegen Berlin zu marschieren.
Am 6. September wurde er aber bei dem Dorfe Dennewitz von dem durch russische Artillerie und die Schweden verstärkten Korps des Generals von Bülow angegriffen und nach verzweifelter Gegenwehr zurückgeworfen. Die in wilder Flucht zurückweichenden Franzosen ließen mehrere Tausend Tote, 70 Kanonen und zahlreiche Pulverwagen auf dem Platze und büßten außerdem 12 000 Gefangene ein.
Bereits am 5. September hatte eine Abteilung Kosaken das gegen Zahna vorgeschobene Lager der Franzosen im Rücken umgangen und sich in den Weinbergen bei Teuchel festgesetzt. So war dem flüchtenden Ney’schen Korps der Weg nach Wittenberg abgeschnitten, und seine Trümmer mussten sich nach Torgau zurückziehen.
Gleich nach der Schlacht von Dennewitz wurde Wittenberg auf der rechten Elbseite durch die Truppen des Generals Bülow von neuem eingeschlossen.
Noch vor seiner Ankunft war das bisher in Wittenberg stehende 2 000 Mann starke Korps des Generals Dombrowski in die Gegend von Leipzig abgerückt.

Die Besatzung der Festung bestand daher nur noch aus etwa 2 500 Mann, von denen aber kaum 1500 Mann, nämlich die beiden holländischen Bataillone, kampffähig waren. Zu all seinen Willkürlichkeiten besaß der Gouverneur noch die empörende Unverfrorenheit, am 21. September von der hartgeprüften Stadt eine Anleihe von 50 000 Talern zu fordern, um seine geleerte Kasse zu füllen. Selbstverständlich war die Stadt, die durch die unaufhörlichen Einquartierungen ohnehin erschöpft war, und die auch jetzt noch die Besatzung auf Kosten des Gemeindesäckels verpflegen und dem edlen Lapoype täglich 36 Taler Traktament zahlen musste, während aller Erwerb stockte, hierzu nicht imstande. Der Rat der Stadt versäumte denn auch nicht, dies dem Gouverneur in entschiedener Form mitzuteilen und dabei die Bemerkung zu machen, dass man ein solches Ansinnen allenfalls vom Feinde hätte erwarten können, aber nicht von einer mit dem sächsischen Staate befreundeten Macht, die doch die Aufgabe habe, die Stadt zu schützen. Trotz alledem stand Lapoype von seiner Forderung nicht ab und befahl die Ratsmitglieder am 24. September zu einer Versammlung, in der über die Beschaffung jener Summe beraten werden sollte. Kaum aber hatten die Verhandlungen begonnen, als von draußen die preußischen Kanonen zu donnern begannen. General von Bülow hatte die Vorstädte angegriffen und brachte dadurch die französische Behörde so außer Fassung, daß sie eilig die Versammlung verließ.
Von jener Anleihe ist seitdem nicht wieder die Rede gewesen. Der Gouverneur sah wohl ein, dass er die ohnehin empörte Bürgerschaft nicht zum Äußersten treiben durfte. Die Verbündeten griffen nunmehr die Festung mit ganzer Macht an;
vom 25. bis 30. September sandten ihre Batterien fast ununterbrochen ihren eisernen Hagel über die unglückliche Stadt. Das erste Bombardement begann am 25. September abends 8 ½ Uhr und dauerte ohne Unterbrechung bis zum 26. September früh 3 Uhr. Neben einer beträchtlichen Anzahl von Haubitzgranaten wurden auch viele Brandraketen in die Stadt geworfen, wodurch in der Jüdenstraße drei Wohnhäuser und mehrere Hintergebäude angezündet und teilweise in Asche gelegt wurden. Der vor dem elterlichen Hause stehende 15 jährige Sohn des Senators Giese wurde durch einen Granatsplitter schwer verwundet.
Ihren Höhepunkt erreichten die Schrecknisse in der Nacht vom 27. zum 28. September. Unaufhörlich brüllten auf beiden Seiten die Geschütze, und in das laute Geräusch der Waffen, in das Knattern des Gewehrfeuers, das Zischen der Brandraketen, das Krachen der berstenden Granaten und die rote Glut der Feuersbrünste mischte sich das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden, der Jammer der geängstigten Bewohner.
Um 3 Uhr früh fing der von Brandraketen getroffene Turm der Schlosskirche an zu brennen. Wie eine helle hohe Fackel leuchtete er zum dunklen Nachthimmel empor.
Um 4 Uhr stürzte die Kuppel mit den zum Teil geschmolzenen Glocken und der Uhr zusammen und fiel auf das benachbarte Schleußnersche Haus, welches dadurch gleichfalls in Asche gelegt wurde. Auch an anderen Orten der Stadt wüteten die Flammen, denen man nur mit großer Mühe Einhalt tun konnte.
In der Jüdenstraße und Schloss Straße fielen je fünf Häuser dem Feuer zum Opfer, während in der Collegienstraße mehrere Hintergebäude niederbrannten.
Am Morgen des 28. Septembers erteilte der Gouverneur den Einwohnern die Erlaubnis, die Stadt zu verlassen.
Gegen 1 000 Personen, meist Frauen, machten hiervon Gebrauch und begaben sich nach den benachbarten Orten, besonders nach Kemberg.
Die beiden Geistlichen D. Heubner und Diakonus Magister Nitzsch, ein Sohn des Generalsuperintendenten Nitzsch, hielten treu bei ihrer Gemeinde aus.
Am Abend des 30. September erneuerte sich das Bombardement. Aber trotz der durch die Beschießung angerichteten Verwüstungen ließ sich der Gouverneur nicht zur Übergabe der Stadt bewegen und wies jede diesbezügliche Vorstellung entschieden zurück. Am Morgen des 3. Oktober vernahm man von Elster und Wartenburg her starken Kanonendonner. Die schlesische Armee, unter dem Befehle des alten Feldmarschalls Blücher, war trotz der heftigen Angriffe der Franzosen von Elster aus auf zwei Schiffbrücken über die Elbe gegangen und griff das bei Wartenburg stehende 20 000 Mann starke Korps des Generals Ney an und besiegte dieses nach heftigem, blutigen Kampfe. Die geschlagenen Truppen flohen teils über Pratau nach Dessau zu, teils über Düben gegen Leipzig.

Als am 12. Oktober sich mehrere französische Korps Wittenberg nahten, hoben die Preußen die Belagerung der Stadt auf – leider nur für kurze Zeit.
Bald nach der Völkerschlacht bei Leipzig, in welcher der sieggewohnte Napoleon eine entschiedene Niederlage erlitt, wurde Wittenberg wiederum blockiert.
Am 28. Oktober rückte der Generalmajor von Dobschütz vor die Stadt und schloss diese ein. Die Belagerer schnitten die durch die Stadt fließenden Bäche ab, wodurch die Stadtmühle am Mahlen verhindert wurde.
Von einer in der Probstei errichteten Batterie wurden auch die in der Elbe liegenden Schiffsmühlen bestrichen und der Brückenkopf beunruhigt. Infolgedessen ließ der Gouverneur in pietätloser Weise in der Schlosskirche zwei Rossmühlen errichten.
Abgesehen von einigen Vorpostengefechten fanden bis zum Dezember hin keine Vorstöße der Belagerer statt.
In der von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt aber stieg die Not von Tag zu Tag immer höher.
Zunächst machte sich bei der rauen Witterung der Mangel an Brennholz fühlbar, Lapoype ließ kurz entschlossen die noch stehenden Bäume. namentlich die schöne, aus einem Legat des Bürgermeisters Thomä herstammende Allee nach dem Luthersbrunnen niederschlagen. Außerdem wurden auf seinen Befehl die vor dem Elstertore noch stehenden Häuser, die sogenannte lange Reihe, niedergerissen, sowie in der Stadt selbst fünf Wohnhäuser, mehrere Hintergebäude, Ställe und Schuppen zur Gewinnung von Brennholz abgetragen; selbst vom Schlosse wurden die Dachsparren und das innere Holzwerk abgerissen.
Diesen Gewalttaten folgten bald noch schlimmere.

Den Kaufleuten nahm man widerrechtlich ihre Vorräte an Kaffee und Zucker weg, die Königliche Salzniederlage belegten die Franzosen mit Beschlag und verkauften dann das Salz an die Einwohner zu dem unerhörten Preise von 1 Taler 6 Groschen pro Metze. Der Gouverneur begründete dieses Vorgehen damit, daß die Sachsen zu den Verbündeten übergegangen seien und er deshalb das Land, also auch Wittenberg, als feindliches Gebiet behandeln müsse. Der wahre Grund war natürlich der, dass der edle Lapoype sich auf Kosten der armen Einwohner die Taschen füllen und wohl auch für die abgelehnte Zwangsanleihe eine niedrige Rache nehmen wollte. Die Empörung stieg aufs höchste, als der Gouverneur anordnete, alle Keller und Vorratsräume der Einwohner zu durchsuchen. Gegen diesen erneuten Übergriff erhob aber der Magistrat nachdrücklichst Protest, so dass sich Lapoype mit einer allgemeinen Angabe über die Höhe der vorhandenen Vorräte begnügen ließ. Da mangels Mühlen trotz der noch vorhandenen großen Vorräte an Getreide nicht genügend Mehl vorhanden war, so setzte der Gouverneur die Rationen der Soldaten wesentlich herab. Die Einwohner suchten sich dadurch zu helfen, daß sie Weizen und Roggen auf Hand- und Kaffeemühlen schroteten. Doch war das daraus gebackene Brot für viele nicht genießbar. Da der Gouverneur sämtliches Malz weggenommen hatte, so war schon seit langem kein Bier mehr zu erhalten, nur Tee und Rum ohne Zucker wurde noch gereicht.
Die Preise für alle Lebensmittel hatten eine ganz unglaubliche Höhe erreicht. So kostete
– eine Kanne Butter 4 Taler,
– ein Scheffel Korn 8 bis 10 Taler,
– eine Metze Kartoffeln 12 bis 14 Groschen,
– ein Pfund Rindfleisch 7 bis 9 Groschen,
– Schweinefleisch 14 bis 16 Groschen,
– Schinken 16 Groschen bis 1 Taler,
– eine Gans 5 Taler,
– ein Huhn 1 Taler,
– ein Apfel 1 Groschen,
– eine Zitrone 8 Groschen,
– eine kleine Metze Erbsen 12 Groschen,
– die Metze Linsen 14 Groschen und
– eine Metze Bohnen 16 Groschen;
– eine Kanne Oel galt 16 Groschen,
– eine Kanne Branntwein 16 Groschen,
– eine Kanne Essig 4 Groschen,
– ein Eimer Wein bis 80 Taler,
– ein Klafter Holz 10 Taler.
Wir könnten das Preisverzeichnis noch fortsetzen, doch geben schon die angeführten Zahlen ein anschauliches Bild von dem Elend, das über unsere arme Stadt hereingebrochen war.
Hungersnot, Angst, Schrecken und Kälte erzeugten zudem ein Heer von Krankheiten, so dass die Zahl der Todesfälle auf 147 in einem Monat stieg, während in normalen Zeiten höchstens 24 auf diesen Zeitraum kamen. Dazu kam noch, dass die Franzosen die Bürger mit dem größten Misstrauen betrachteten, weil sie ein Einverständnis derselben mit dem Feinde vermuteten.
Diese hässliche Gesinnungsschnüffelei trieb die sonderbarsten Blüten. Ein Bauer von Labetz, namens Knape, fiel diesem Misstrauen zum Opfer. Er hatte wiederholt, wohl um des Gelderwerbs willen, Briefe nach der belagerten Stadt und aus dieser befördert, sich also jedenfalls von beiden Seiten zur Spionage gebrauchen lassen. Schließlich wurde er aber von den Franzosen arretiert, vor ein Kriegsgericht gestellt und von diesem als Spion zum Tode verurteilt. Am 8. Dezember wurde er auf dem Anger vor dem Elbtore im Beisein der Garnison erschossen.

Endlich sollte der armen Stadt die Erlösungsstunde schlagen. Vorher aber musste sie freilich die Schrecken einer 14 tägigen Beschießung durchkosten und so den Leidenskelch bis zur Neige leeren. Ende Dezember, nach dem Falle der Festung Torgau, erschien der General Tauentzien mit schwerem Geschütz vor Wittenberg.
Sogleich begannen nun die Preußen mit Eröffnung der Laufgräben. Im Dunkel der Nacht wurde die erste Parallele in der Nähe des Krankenhauses gezogen. Zwar feuerten die Franzosen mit 44 Kanonen gegen die kühnen Belagerungstruppen, sodass die in der folgenden Nacht von diesen errichtete Batterie zum Schweigen gebracht wurde. Indessen erbauten die Preußen in der nächsten Nacht gleich drei Batterien, aus denen sie am folgenden Tage die Wälle befeuerten und 27 Kanonen der Franzosen unbrauchbar machten.
Am vierten Tage hatten die Belagerer die Parallele weiter vorgeschoben, das befestigte Krankenhaus wurde von ihnen zusammengeschossen und am 1. Januar 1814 mit Sturm genommen. Bald umgaben 12 preußische Batterien die Stadt und entsandten Tag und Nacht ihren Geschoßhagel gegen die Wälle. General von Dobschütz suchte zwar die Stadt so viel als nur möglich zu schonen, konnte aber doch nicht verhindern, daß sich einige Kugeln in die Stadt verirrten und an den Häusern in der Nähe des Walles und am Schloßtore Schaden anrichteten.
Eine von den Franzosen am sogenannten Berliner Pförtche angelegte Batterie brachte das Kunststück fertig, statt die preußische Batterie am bedeckten Wege zum Schweigen zu bringen, die beiden Häuser des Kaufmanns Haberland und des Bürgermeisters Böhringer in der Coswigerstraße in Brand zu schießen. Die Belagerer hatten sich mittlerweile so nahe an die Stadt vorgeschoben, dass sie den Sturm auf diese wagen konnten. Am Mittag des 12. Januar ließ Graf Tauentzien den Gouverneur nochmals zur Übergabe auffordern, indem er ihm bedeutete, dass im Falle der Weigerung die Stadt erstürmt werden würde.
Aber Lapoype gab dem Parlamentär eine abschlägige Antwort.
Die Bürgerschaft war über diese unverständliche Hartnäckigkeit umso mehr empört, als am Tage vorher der Sohn des Bürgermeisters Adler durch eine Granate schwer verwundet und die Frau des Kutschers Balzer durch ein gleiches Geschoß in ihrer Wohnung auf der Stelle getötet wurde.
Die Belagerer hatten unterdessen das für kurze Zeit unterbrochene Bombardement wieder aufgenommen und setzten es bis Mitternacht 12 Uhr fort.
Plötzlich schwieg der Geschützdonner; die Preußen bereiteten sich zum Sturme vor, der unter Leitung des Generals von Dobschütz in 4 Angriffssäulen ausgeführt wurde. Ohne dass die Besatzung der Wälle es gewahrte, stürzte plötzlich von allen Seiten die preußische Infanterie heran, griff den Brückenkopf, die Wasserarche zwischen dem Elstertore und dem Berliner Pförtchen, sowie die Wälle am Schloßtore und Elbtore gleichzeitig an und erklomm sie, ohne auf erheblichen Widerstand zu stoßen.

Die überraschten Franzosen stürzten mit lautem Geschrei in die Stadt und warfen sich in das Rathaus und ins Schloss, wo sie sich erfolglos noch kurze Zeit zu verteidigen suchten, sich aber schon nach Verlauf einer Stunde ergeben mussten.
Der Gouverneur befand sich mit dem Kommandanten und mehreren Offizieren in der Sakristei der befestigten Schlosskirche und war nicht wenig überrascht, als er die Nachricht erhielt, die Preußen seien bereits in die Stadt eingedrungen.
Noch ehe er dazu kam, sich zu verteidigen, sah er sich von den in den Schlosshof eindringenden Preußen umringt und gefangen genommen.
Am 13. Januar früh 3 Uhr war die Stadt völlig in der Hand der Belagerer.
Nur 200 Tote und Verwundete sowie 9 verwundete Offiziere hatte der Sieg den Preußen gekostet.
Ihrem Dank Gefühle über die endliche Befreiung gaben die Einwohner in rührender Weise Ausdruck. Sie versammelten sich auf dem Marktplatze, und nach einer Ansprache ihres treuen Seelsorgers Heubner stimmten alle aus überquellendem Herzen an: „Nun danket alle Gott“.
Dem General Tauentzien wurde vom König Friedrich Wilhelm III. zur Belohnung für seine Verdienste bei der Belagerung und Einnahme Wittenbergs das Großkreuz des eisernen Kreuzes verliehen. Gleichzeitig erhielt er die Erlaubnis, sich hinfort „Graf Tauentzien von Wittenberg“ zu nennen.
Noch am 13. Januar wurde der Gouverneur Lapoye samt dem Ingenieuroberst Pressart und dem Kommandanten Major von Lohausen gefangen aus der Stadt geführt und zunächst nach Coswig und dann nach Berlin gebracht. Der Hass und die Wut des Volkes gegen diesen Mann machte sich in einer Flut von Flüchen und Schmähungen Luft, und ein Hagel von Schneebällen und Unrat fiel auf ihn nieder, als er auf einem Korbwagen zur Stadt hinausgebracht wurde.
So wenig man auch diese Tätlichkeiten gegen einen Wehrlosen gutheißen kann, so sehr kann man doch den darin sich äußernden Volksunwillen verstehen, wenn man bedenkt, wie dieser Mann Monate hindurch die Bevölkerung in der schamlosesten Weise gedrückt und misshandelt hat.

Wohl war Wittenberg nunmehr von der französischen Willkürherrschaft befreit, aber die Stadt blutete aus tausend Wunden, und es bedurfte vieler Jahre und großer Opfer, um diese Wunden zu heilen. Wohin der Blick fiel, überall bot sich ihm ein trauriges Bild der Verwüstung und der bittersten Not.
Vom 1. März 1813 bis zum 13. Januar 1814 waren 285 Wohnhäuser teils durch Feuer, teils durch Niederreißen zerstört worden, und zwar 26 in der Stadt und 259 in den Vorstädten. Außerdem wurden in der Stadt 21 und in den Vorstädten 16 Häuser so beschädigt, dass sie zum Bewohnen kaum noch tauglich waren.
Durch Bombardement oder Einreißen wurden folgende öffentliche Gebäude gänzlich zerstört:
– das Schloss mit Turm,
– der Turm der Schlosskirche,
– die Nebengebäude des Schlosses,
– die Reitbahn,
– das Universitätshospital,
– der Ratsmarstall,
– die Ratsziegelscheune mit allen Nebengebäuden,
– die Abdeckerei,
– die Garküche,
– die Wohnung des Ratswagenmeisters,
– das Spritzenhaus,
– das Parentationshaus auf dem Gottesader, der mit seinen zerstörten Grabdenkmälern einen betrübenden Anblick bot,
– ferner die Totengräberwohnung,
– das Wohnhaus der Torschreiber und der Akzisetorschreiber,
– ebenso das Ratskrankenhaus und
– das Pulvermagazin.

Vielfache Beschädigungen erlitten auch die
– Schlosskirche,
– Stadtkirche,
– das Amtshaus,
– die Stadtmühle,
– das Hebammeninstitut und
– die Amtsfrohnfeste (Gefängnis)

Die Zahl der Einwohner, die sonst Stadt und Vorstädte zusammengenommen 7 000 betrug, war auf 4 727 Personen gesunken.
Vom 27. Dezember 1813 bis zum 13. Januar 1814 wurden von den Belagerungstruppen in die Stadt geworfen:
– 1 720 Bomben von je 50 Pfund,
– 474 Bomben zu 24 Pfund,
– 350 Bomben zu 18 Pfund,
– 3 480 Haubitzgranaten von 10 Pfund,
– 970 Haubitzgranaten zu 8 Pfund und
– 6 026 zwölfpfündige Kanonenkugeln.

Während des Monats September 1813 wurden bis 8 000 Geschosse in die unglückliche Stadt geworfen, und während des furchtbaren Bombardements in der Nacht des 28. Septembers zählte man allein 3 000 Granaten, Haubitzen und Kanonenkugeln.
Schon an diesen Zahlen kann man die durch die Beschießung angerichteten Verwüstungen ermessen.
Über die unerträglichen Lasten der Einquartierung gibt eine vom Magistrat veröffentlichte Aufstellung Auskunft:
„Die Stadt Wittenberg hatte im Jahre 1812 überhaupt 602 Häuser, 302 in der Stadt und 282 in den Vorstädten.
In diesen Gebäuden wurden vom 17. März bis 31. Dezember 1812 einquartiert und verpflegt von französischen und verbündeten Truppen 67133 Mann, nach Tagen gerechnet, nämlich:
– 72 Generäle,
– 425 Stabsoffiziere
– 2 996 Offiziere und
– 63 139 Unteroffiziere und Soldaten.

Der Verpflegungsaufwand war zwar vom Lande vergütet, aber der Bequartierte durch diese Vergütung noch nicht ganz entschädigt. Vom Januar 1813 bis zum 12. Januar 1814 sind in der Stadt einquartiert und verpflegt worden:
– a) in Bürgerhäusern:
344 059 Mann, nach Tagen gerechnet, und zwar 491 Generäle, 7158 Stabsoffiziere, 5 7397 Offiziere und 27 9013 Unteroffiziere und Soldaten.

– b) in Kasernen, wozu 22 Bürgerhäuser genommen wurden:
699 000 Mann, nach Tagen ausgerechnet, und zwar 4968 Offiziere und 15 795 Unteroffiziere und Soldaten, gefangene Preußen und Russen, überhaupt 719 763 Mann. Es sind also in einem Jahre überhaupt 1 063 882 Mann, nach Tagen gerechnet, in Wittenberg einquartiert und verpflegt worden.

Auf vielen Seiten regte sich bald die Wohltätigkeit für die vom Unglück so schwer heimgesuchte Stadt.
Der König von Sachsen sandte 1 000 Taler, die vor allem unter die ärmsten Bewohner verteilt wurden;
das englische Volk sandte zu wiederholten Malen Unterstützungen, welche insgesamt die Höhe von 9 000 Talern erreichten.
Der Kronprinz von Bayern schickte gleichfalls 3 000 Gulden.

Unmittelbar nach Einnahme der Stadt durch die Preußen wurde diese unter preußische Administration gestellt und nach dem Friedensschlusse vom 21. Mai 1815 endgültig dem preußischen Staate einverleibt. Die preußische Regierung nahm sich der geprüften Stadt tatkräftig an. Sie gab reiche Zuschüsse zum Wiederaufbau der zerstörten Vorstädte, die nach dem Frieden in weiterer Entfernung unter dem Namen Kleinwittenberg und Friedrichstadt schöner denn vorher wiedererstanden.
Außerdem erließ König Friedrich Wilhelm III. den Einwohnern auf mehrere Jahre die Abgaben, er stellte die Schlosskirche wieder her, stattete das Gymnasium aus und gründete am 1. November 1817 das Predigerseminar als Ersatz für die aufgehobene Universität.
Für die weiteren Bedürfnisse der Stadt genehmigte er eine Kirchen- und Hauskollekte im ganzen Umfange der preußischen Monarchie. Als Lebenselement erhielt Wittenberg eine preußische Garnison, die von dem 11. schlesischen Landwehr-Regiment gebildet wurde. Außerdem wurde ein Kreisgericht in seine Mauern gelegt, dem die Stadt 1820 das ganze obere Rathausgeschoß mietfrei und unkündbar zur Benutzung übergab.
Leider versäumte man, sich in irgend einer Form das Eigentumsrecht an diesen Räumen zu wahren – ein Versehen, das der Stadt in unseren Tagen bittere Früchte tragen sollte.
So wurde es Wittenberg möglich, unter einer kraftvollen, zielbewussten Regierung, unter vielseitiger Unterstützung und durch die Tatkraft seiner Bürger sich allmählich aus tiefstem Elend zur gedeihlichen Entwickelung zu erheben.

Eine interessante Episode aus jenen bewegten Tagen, die von der Klugheit und dem Mute der darin auftreten-den Hauptperson ein rühmliches Zeugnis gibt, möge hier eine Stelle finden:
Unterhalb der Elbbrücke, am Brückenkopf, lag in der Elbe die dem Müller Hubrig aus Pratau gehörige Schiffmühle. Mit der Befestigung des Brückenkopfs wurde in diese eine starke französische Wache gelegt, welche die besondere Aufgabe hatte, den Elbstrom zu beobachten. Es ist erklärlich, dass dem Müller diese fremden Gäste, die in seinem Eigentum in rücksichtsloser Weise schalteten, höchst unbequem waren, zumal sie ihn zu allerlei Dienstleistungen und zur Lieferung von Lebensmitteln nötigten, die von seiner Familie aus Pratau herbeigeschafft werden mussten.
Als die Preußen den durch Wittenberg fließenden Bächen das Wasser abschnitten, und dadurch die Stadtmühle außer Betrieb setzten, wurde der Müller Hubrig von den Franzosen gezwungen, für die Besatzung der Stadt das benötigte Mehl zu mahlen.

Da aber die Schiffmühle den Bedarf nicht decken konnte, so zwang man Hubrig, im Schlosshofes eine Rossmühle einzurichten.
Mittlerweile waren die preußischen Belagerungstruppen immer näher an die Stadt herangerückt. Hubrig sehnte, gleich den Bewohnern Wittenbergs, den Tag herbei, an dem diese die Festung erobern und ihn von seinen Peinigern befreien würden.
Seine Lage war die denkbar schlimmste, denn die Franzosen beobachteten jeden seiner Schritte mit Misstrauen und behandelten ihn wie einen Gefangenen. Wiederholt hatte seine in Pratau wohnende Frau ihn durch Boten ersuchen lassen, er möge nachhause kommen und nach dem Rechten sehen, aber der die Wache befehligende französische Offizier verbot ihm streng, die Schiffmühle zu verlassen.
Erst als die von der Not eingegebene Nachricht kam, Hubrigs Frau liege schwer krank darnieder, verstand sich der Franzose dazu, ihn für kurze Zeit zu entlassen. In seinem Anwesen angekommen, trat dem Müller ein preußischer Offizier entgegen, der ihn barsch aufforderte, seine den Franzosen geleistete Unterstützung einzustellen und auf die Seite der Preußen zu treten, widrigenfalls seine Schiffmühle von der in der Probstei errichteten preußischen Batterie in den Grund geschossen werden würde. Was sollte der unglückliche Mann tun? Folgte er dem Befehle des preußischen Offiziers, so besaßen die Franzosen, in deren Händen sich seine Mühle befand, Mittel genug, ihn ihrem Willen gefügig zu machen. Weigerte er sich, den Weisungen nachzukommen, so musste er gewärtigen, schon am nächsten Tage sein Eigentum als Trümmerhaufen in den Fluten der Elbe versinken zu sehen, abgesehen von dem Ungemach, das seiner Familie dann drohte. Er verfehlte nicht, dem Offizier seine üble Lage darzustellen und ihm zu versichern, dass sein Herz längst auf der Seite der Preußen stände, und er nur der Gewalt weichend den Franzosen zu willen gewesen sei. Er erreichte aber damit nur, dass ihm dieser einen Tag Bedenkzeit gab. Mit sorgenschwerem Herzen nahm der Müller von seiner weinenden Familie Abschied, um getreu seinem den Franzosen verpfändeten Worte gegen Abend nach der Schiffmühle zurückzukehren.
Die Verzweiflung hatte in ihm einen tollkühnen Plan zur Reife gebracht. Die Franzosen, die in der kalten Herbstnacht auf der Schiffmühle ganz erbärmlich froren, stellten, wie so oft schon, an den Müller die Forderung, ihnen einen warmen Punsch zu brauen. Bereitwillig ging Hubrig auf den Wunsch ein, indem er versprach, aus Dankbarkeit für den gewährten Urlaub das Getränk besonders stark zu machen. Sei es nun, dass der Punsch wirklich außerordentlich stark gebraut war, sei es, dass der Müller ihm ein Schlafpulver beigemischt hatte, genug, als die elfte Stunde schlug, da lag die Besatzung der Mühle, den Wachposten eingeschlossen, im festen, tiefen Schlafe. Leise hob Hubrig den Anker und löste die Ketten und Taue, mit denen die Mühle am Ufer festgehalten wurde, und unmerklich fast setzte sich diese den Elbstrom abwärts in Bewegung, gesteuert von des Müllers sicherer Hand. Trotz der herrschenden Dunkelheit hatte aber der am Ufer stehende französische Vorposten die heranschwimmende Mühle erblickt; plötzlich krachten mehrere Schüsse, die das Dach und die Wände durchbohrten. Angstvoll beobachtete Hubrig seine Gefangenen. Aber der Punsch tat seine Wirkung: wohl bewegten sich einige, unverständliche Worte murmelnd, aber keiner erwachte. Der Müller atmete auf, als er die Festung hinter sich hatte und sich immer schneller dem preußischen Lager bei Appollensdorf näherte.
Aber jetzt entstand eine neue Gefahr:
Die preußischen Posten hatten kaum das aus dem nächtlichen Dunkel auftauchende seltsame Fahrzeug erblickt, als sie auch schon, einen Überfall der Franzosen fürchtend, eine Gewehrsalve auf dieses abfeuerten, welche die Mühle an mehreren Stellen durchlöcherte. Nur mit großer Mühe und unter steter Todesgefahr gelang es, dem heldenmütigen Müller sein Eigentum gegen das Ufer zu steuern, durch Werfen des Ankers zum Stillstand zu bringen und sich mit den Preußen zu verständigen.
Kaum war dies gelungen, als auch schon die Schiffmühle von diesen besetzt wurde. Ohne Mühe wurden die noch immer schlummernden Franzosen überwältigt. Ihr Erstaunen war nicht gering, als sie bei dem unsanften Erwecken sich plötzlich von preußischen Soldaten umringt sahen. Das volle Verständnis ihrer Lage ging ihnen aber erst auf, als sie im Morgengrauen die veränderte Lage der Schiffmühle und vor sich am Ufer das Lager der Preußen erblickten. Man kann sich leicht vorstellen, welche frommen Wünsche sie dem lachenden „Meunier“ widmeten.
Nach der Einnahme Wittenbergs durch die Preußen kehrte Hubrig mit seiner Schiffmühle wieder an den alten Platz am Brückenkopf zurück. In den dreißiger Jahren wollte die Militärbehörde ihn zum Aufgeben dieses Platzes zwingen, weshalb Hubrig sich genötigt sah, unter Schilderung der beschriebenen Vorgänge die Hilfe des Königs anzurufen. Im Jahre 1837 verfügte Friedrich Wilhelm III., dass der wackere Mann das Recht habe, sich als Belohnung für jene mutige Tat für seine Mühle den besten Platz in der Elbe bei der Stadt auszusuchen.
Als aber, namentlich seit Einführung der Dampfschifffahrt, der Schiffsverkehr auf dem Elbstrome immer stärker wurde, da bildete die Schiffmühle für diesen Verkehr ein stetes Hindernis, weshalb die Stromverwaltung auf Beseitigung der Mühle drang. Selbstverständlich bestanden der Sohn und dann der Enkel des kühnen Müllers unter Hinweis auf das erteilte königliche Privileg auf eine entsprechende Entschädigung. Es kam darüber zu einem jahrelangen Prozesse zwischen dem Eigentümer der Mühle und dem Stromfiskus. Erst dem Enkel des Helden unserer Schilderung, dem jetzigen Dampfmühlenbesitzer und Amtsvorsteher, Herrn Hubrig in Pratau, gelang es, im Jahre 1867 in letzter Instanz vor dem Reichsgerichte ein obsiegendes Urteil zu erlangen.
Darnach war der Fiskus gehalten, für Ablösung des Privilegs eine namhafte Entschädigung zu zahlen, worauf die historische Schiffmühle aus dem Elbstrome entfernt wurde.
(Bemerkung: Die im Vorstehenden geschilderte kühne Tat des Müllers Hubrig findet sich in verschiedenen Erzählungen, mit viel unhistorischem schmückenden Beiwerk versehen, so z. B. in einer im „Lahrer hinkenden Boten“ vom Jahre 1910 enthaltenen Erzählung von F. Grieben.

Unsere historische Schilderung stützt sich auf die uns von authentischer Seite in dankenswerter Weise aufgrund des vorhandenen Materials gegebene Auskunft.)

6. Wittenberg bis zur Gegenwart.

Wir wollen zunächst einen Rückblick auf die übrigen nicht kriegerischen Ereignisse des vorbehandelten Zeitraumes tun.

Von alters her hat unsere Stadt und ihre Umgegend durch Überschwemmungen schwer leiden müssen.
Die erste größere Wassersnot, von der uns berichtet wird, trat im Jahre 1187 ein.
Da der Elbstrom damals noch keine schützenden Dämme hatte, so ergossen sich die Wasserfluten weithin, rissen die Häuser mit sich fort und begruben unter deren Trümmern die Bewohner mit ihrem Vieh und aller Habe.
Eine noch größere Überschwemmung brachte das Jahr 1432. In Wittenberg stieg das Wasser am Elbtore 3 Ellen und 1 Zoll hoch. Der hohe Wasserstand wurde dort durch eine steinerne Kugel bezeichnet, die noch heute an der Mauer des Lantz’schen Grundstückes zu sehen ist.
Großen Schaden richtete das Hochwasser des Jahres 1594 an.
Am 28. Februar brachen die Dämme bei Dabrun.
Mehrere Einwohner ertranken, und zahlreiches Vieh fiel den Fluten zum Opfer. In der Kirche stieg das Wasser 1½ Ellen hoch und blieb 4 Wochen darin stehen.
Wenige Jahre später, am 5. März 1598, brach die Elbe bei dem genannten Orte wiederum den Damm und richtete großen Schaden an.
Ein gleiches geschah bei den Überschwemmungen in den Jahren
– 1599,
– 1655,
– 1845.
Über die Überschwemmung des Jahres 1655 gab der damalige Pfarrer von Dabrun, Magister Schlüter, eine Beschreibung heraus unter dem Titel

„Scharfe Wasserrute Gottes, mit welcher seine entrüstete göttliche Majestät die verschlimmerte Welt und die schöne Gegend um die Kurstadt Wittenberg gelegener Oerter gestäupet.“

Und das „Wittenbergische Wochenblatt“ vom 5. September 1777 bemerkt darüber:

„Es ist im Jahre 1655 eine so große Wassersnot und unbeschreibliches Elend in der Wittenberger Aue gewesen, dass man sich damals dergleichen gar nicht vorher hat erinnern können. Kein Dorf der Aue ist ohne Gefahr geblieben.“

In der Pretzscher Flur wurde der Damm an zwei Stellen, bei Merschwitz an fünf und bei Bleesern gar an neun Stellen durchbrochen und dadurch die Felder weithin unter Wasser gesetzt und verdorben.
Der großen Flut im März 1784, bei welcher das Wasser am Elbtor eine Elle und 17 Zoll hochstieg, hielten die Elbdämme glücklicherweise stand.
Das Hochwasser im März 1805 gab der Wittenberger Fischerinnung Gelegenheit, sich durch eine mutige Tat hohen Ruhm zu erwerben.
Am 5. März 1805 wollte der Braumeister Thiele aus Bleesern mit den beiden Tagelöhnern Gottfried Lennig und Traugott Steinbiß aus Pratau eine Kahnladung Bier über den damals noch buhnenlosen und deshalb noch viel breiteren Elbstrom schaffen. In der Mitte der hoch angeschwollenen und mit Eis gehenden reißenden Elbe kenterte der Kahn, und die drei Insassen hätten unfehlbar ertrinken müssen, wenn ihnen nicht von der damaligen vor dem Schloßtore gelegenen Amtsfischerei sechs Fischer mit zwei Kähnen zu Hilfe gekommen und die Verunglückten mit eigener Lebensgefahr gerettet hätten.
Als Lohn für diese brave Tat ließ Kurfürst Friedrich August von Sachsen den sechs Rettern die doppelte für die Rettung eines Menschen festgesetzte Gratifikation im Betrage von 10 Talern auszahlen und stiftete der Fischerinnung als unveräußerliches Erinnerungsgeschenk einen 7½Pfund schweren silbernen Becher mit der Inschrift:

„Zum Andenken einer rühmlichen That, womit wackere Bürger ihren Fürsten erfreuten. Friedrich August, Churfürst zu Sachsen, schenkte diesen Becher der Fischerinnung zu Wittenberg. Sie bewies bei dem Aufbruche des Elbeises vorzügliche Tätigkeit zur Erhaltung der Dämme und Brücken; ihre Mitglieder
– J. G. Mucke sen.,
– Kaspar Gattaun,
– Gottlob Feil sen.,
 – Gottfr. Mucke jun.,
– Gottfried Feil jun.,
–  Gottfr. Kühn
retteten mit eigener Lebensgefahr drei verunglückte Menschen aus dem reißenden Strome.“

Am 2. Februar 1806, nach beendigtem Nachmittagsgottesdienste, wurde der Becher der Fischerinnung durch den Kreishauptmann von Trosky in Gegenwart des Kreisamtmann Axt und Vertretern der städtischen Behörde und Bürgerschaft feierlich übergeben. Der Becher hat die Kriegsnöte von 1813 bis 1814 glücklich überstanden, er wird noch heute in der Innungslade der Kleinwittenberger Fischer aufbewahrt und spielt noch heute bei deren Quartal-Versammlungen eine große Rolle.
Von den späteren Überschwemmungen nahmen namentlich die in den Jahren
– 1845,
– 1876,
– 1890 größeren Umfang an.
Wir kommen bei der Behandlung des betreffenden Zeitabschnitts näher darauf zurück und wollen an dieser Stelle nur noch einiges über den Elblauf mitteilen.

Ihren heutigen Lauf hat die Elbe bei unserer Stadt seit der Stromregulierung im Jahre 1842 erhalten. Früher floss sie in mehreren Armen dahin, sodass die Elbaue dem Nildelta nicht unähnlich sah. Der Hauptstrom ging zwischen Probstei und Fleischerwerder hindurch, am Dorfe Pratau vorbei, nach der Fleischerwiese zu. Ein Nebenarm floss zwischen der heutigen Dresdener Straße und der Probstei.
Im Jahre 1505 nahm die Elbe nach einem Hochwasser einen anderen Lauf, wodurch der erstgenannte ein toter wurde.
Im Jahre 1579 wurde die große Schleife, welche der Elbstrom unterhalb der Stadt bildete, durchstochen und so sein Lauf gerade gelegt.
Der „Durchstich“ erinnert in seinem Namen noch heute daran. Im Jahre 1842 wurde der Strom durch Baggern und den Bau von Buhnen usw. reguliert. Übrigens besaß das rechte Elbufer schon früher Buhnen. So baute der bekannte Bürgermeister Thomä, dem wir auch die Allee nach dem Luthersbrunnen verdanken, in der Nähe des Friedhofs drei Buhnen.

Werfen wir nunmehr einen Blick auch auf die freudigen Ereignisse, die unserer Stadt neben allem Elend und Unglück doch nicht versagt geblieben sind. Hierbei stehen obenan die zahlreichen Jubiläumsfeiern.
Vom 18. bis 20. Oktober 1602 wurde das erste Universitätsjubiläum mit großer Feierlichkeit begangen. Der damalige Rector magnificentissimus, Herzog August von Sachsen, ein Bruder des Kurfürsten, hatte hierzu umfangreiche Einladungen ergehen lassen. Neben drei kurfürstlichen Kommissarien und Deputationen verschiedener Universitäten war eine stattliche Zahl vornehmer und bedeutender Persönlichkeiten zur Feier erschienen, die sämtlich auf Kosten des Kurfürsten bewirtet wurden.
Der eigentliche Festtag wurde früh 7 Uhr durch einen Festzug eingeleitet, der sich unter Trompetenklang und Glockengeläut nach der Schlosskirche bewegte, die mit Thron und Katheder ausgestattet und reich mit Blumengewinden und Teppichen geschmückt war.

An der Spitze des Zuges schritten die Professoren der Universität, mit dem Herzog August von Sachsen als Rektor, nebst den kurfürstlichen Kommissarien; dann folgten die Vertreter der fremden Universitäten und der Behörden und dann in langem Zuge die Studenten. Der Festpredigt legte Propst Geßner Psalm 122 zugrunde, den er auf Wittenberg und seine Akademie anwandte; die eigentliche Jubiläumsrede hielt D. Aegidius Hunnius, an deren Schluß der bekannte Professor Taubmann ein von ihm verfasstes schwungvolles Jubiläums-Carmen vortrug. Ein auf Kosten des Kurfürsten im Schloss gegebenes Festmahl beschloss den 1. Festtag. Am 2. Festtage fand die feierliche Promotion von 64 Magistern der philosophischen Fakultät statt, an die sich abermals ein Festmahl im Augusteum anreihte.
Auch das zweite Universitätsjubiläum im Jahre 1702 wurde mit großer Feierlichkeit begangen. Im Hinblick darauf übernahm der Kurprinz Friedrich August schon am 1. Mai 1702 das Amt eines Rector magnificentissimus.
Als Beihilfe zu den Feierlichkeiten schenkte der Kurfürst der Universität die Summe von 1500 Talern. An alle deutschen Universitäten wurden Einladungen zur Teilnahme an der Feier erlassen; nur die Universität Halle (gegründet 1694 durch König Friedrich I. von Preußen) überging man wegen der dort herrschenden pietistischen Zänkereien.
Das Fest wurde am 18. Oktober früh 8 Uhr durch einen großen Festzug eröffnet, der sich unter dem Geläute sämtlicher Glocken vom Augusteum aus durch die Collegienstraße, den Marktplatz und die Schloss Straße nach der Schlosskirche bewegte. Auf dem Marktplatze wurde er von der dort aufgestellten Schützenkompagnie und auf dem Schlossplatz von den in Parade stehenden Truppen der Garnison empfangen.
Die Festpredigt hielt D. Neumann, während die eigentliche Jubiläumsrede von dem berühmten Professor Schurzfleisch gehalten wurde.
Nach dieser erfolgte die übliche Wahl des neuen Rektors, während draußen auf den Wällen Freudenschüsse ertönten.
An den beiden folgenden Tagen fanden zahlreiche Promotionen statt, und zwar wurden 102 philosophische, 17 medizinische, 9 juristische und 7 theologische Doktordiplome verliehen.
Ein glänzendes Festmahl und eine bei Fackelschein dem Rektor und den Deputierten gebrachte Serenade schloss die Reihe der festlichen Tage.
Noch glänzender wurde das dritte Universitätsjubiläum im Jahre 1802 gefeiert. Der Kurfürst stiftete hierzu 3000 Taler.
An alle deutschen Universitäten ergingen die Einladungen hierzu, aber nur die Hochschulen Leipzig, Frankfurt a. d. Oder und Helmstedt ließen sich durch Deputationen vertreten. Dieses Jubiläum wurde die Ursache zu mehreren Verbesserungen in der Stadt. So ließ der Magistrat in den Hauptstraßen das schadhafte Pflaster erneuern und führte die Straßenbeleuchtung durch Laternen ein, in denen vorläufig allerdings nur Rüböl Lämpchen brannten, die nach unsern heutigen Begriffen nur ein recht primitives spärliches Licht verbreiteten.
Der Jubiläumstag wurde in üblicher Weise durch einen Festzug vom Augusteum nach der Schlosskirche eingeleitet. Nach der vom Propst D. Schleußner gehaltenen Festpredigt erfolgte die Wahl des neuen Rektors. Den Schluß der kirchlichen Feier bildete die Jubiläumsrede des Professors Henrici.
Am Nachmittage fand im Saale des Rathauses ein Festmahl statt, an dem sich 200 Personen beteiligten. In der Mitte der in Form eines Hufeisens aufgestellten Festtafel befand sich ein Aufbau, der in symbolischer Weise den Tempel der Wissenschaften darstellte.
Er wurde von neun Marmorsäulen getragen, und auf seinem Fußboden waren durch Mosaik die wichtigsten Entdeckungen des 18. Jahrhunderts dargestellt, nämlich:
– Franklins Blitzableiter,
– der Aërostat,
– der Telegraph,
– Franklins Harmonika,
– das Parkersche Luftschiff,
– die Chladnischen Schall- und Klangfiguren,
– das Weltsystem mit den Bahnen von Uranus, Ceres u. Pallas
– und die Volta’sche Säule.
In der Mitte des Tempels stand auf einem kunstvollen Piedestal eine Apollo-Statue aus weißem Meißner Porzellan. An der Kuppel des Tempels war in goldenen Buchstaben nachstehende Inschrift angebracht:

Der Weisheit Genius, der vor dreihundert Jahren
Auf Friedrichs Wink in diesen Tempel drang,
Und bald mit seinem Licht die Finsternis bezwang,
Wird spät noch Denkfreiheit der Nachwelt aufbewahren.

Jede der beiden Seitentafeln zierte eine Spitzsäule. An der rechten, die eine Nachbildung des Obelisken von Rom darstellte, befand sich das Medaillon Bild Friedrichs des Weisen, und darunter las man die Verse:

Der weise Friedrich schuf den glücklichen Verein,
In dem Religion und Wissenschaft leben.
Was unser Herz jetzt fühlt enthülle dieser Stein
Den frommen Manen, die uns leise hier umschweben.

Die linke Pyramide war mit dem Bilde des Kurfürsten Friedrich August geschmückt und trug folgende auf die Unruhen in Frankreich u. a. Orten hinweisende Inschrift:

Als jüngst, vom Freiheitssinn und Gleichheitsmut entbrannt,
In Blut und Flammen schon der halbe Erdkreis stand,
Schwang er mit weisem Mut die rautumkränzt‘ Aegide,
Und zwischen Hütt‘ und Thron blieb Harmonie und Friede.

An den beiden folgenden Tagen fanden wieder die üblichen Promotionen statt, und zwar ernannte die juristische Fakultät 12, die medizinische 9, die theologische 13 und die philosophische Fakultät 35 Doktoren und Magister der freien Künste, außerdem wurde der kurfürstliche Bibliothekar Dasdorf zu Dresden und drei anderen Gelehrte mit dem Lorbeerkranz des Poeten gekrönt.
Am Abend fand in der Schlosskirche die Aufführung von Haydns „Schöpfung“ durch Mitglieder des Dessauer Hoftheaters statt. Zum Andenken an das Universitätsjubiläum ließ die Universität eine Schaumünze prägen, von welcher zwei goldene Stücke dem Kurfürsten und seiner Gemahlin überreicht wurden.
Ein solenner (feierlicher) Ball im Rathause, an dem mehr als 800 Personen sich beteiligten, beschloss die Jubelfeier.
Sehr würdig wurden auch die verschiedenen Reformationsjubelfeiern begangen.
Die erste im Jahre 1617 wurde drei Tage nacheinander – am 31. Oktober, 1. und 2. November durch Festgottesdienste gefeiert. In gleicher Weise beging man das zweite Reformationsjubiläum im Jahre 1717. Einen besonders glanzvollen Verlauf nahm die dritte Jubelfeier im Jahre 1817, da im Anschluss daran gleichzeitig der Grundstein zum Lutherdenkmale auf dem Marktplatze in Gegenwart König Friedrich Wilhelms III. von Preußen gelegt wurde.
Die ganze Stadt, namentlich die Hauptstraßen und das Rathaus, waren hierzu festlich geschmückt.
Am 31. Oktober früh 8 Uhr fand in der Stadtkirche ein Festgottesdienst statt, in dem Generalsuperintendent Nitzsch die Festpredigt über Offenb. Joh. 3, V. 3 hielt.
Am Nachmittag um 4 Uhr hielt König Friedrich Wilhelm III. seinen Einzug in die Stadt und nahm bei dem Stadtkommandanten, General von Brockhausen, Wohnung. Unmittelbar darauf trafen auch die Prinzen des Königlichen Hauses hier ein, die bei dem Bürgermeister Dörfurt abstiegen. Am 1. November früh 8 Uhr bewegte sich vom Augusteum aus der glanzvolle Festzug durch Collegienstraße, Markt und Schloss Straße und nahm vor der Kommandantur Aufstellung. Hier schloß sich Seine Majestät mit den anwesenden königlichen Prinzen und Prinzessinnen, dem Herzoge von Mecklenburg- Strelitz und dem übrigen Gefolge dem Zuge an, der sich unter fortgesetztem Geläute sämtlicher Glocken nach der Schlosskirche bewegte. Beim Eintritt in das Gotteshaus setzte die Orgel ein, während ringsum auf den Wällen die Kanonen gelöst wurden. Während der Festliturgie wurden unter Leitung des Musikdirektors Mothschiedler Chöre von Händel und Graun vorgetragen. Die Festpredigt hielt Propst D. Schleußner über Ebräer 13 V. 17.
Im Anschluß an den Gottesdienst fand die offizielle Gründung des Predigerseminars und die Aufnahme der ersten Kandidaten desselben statt. Unter diesen befand sich auch Heinrich Eduard Schmieder, der spätere Konsistorialrat und (seit 1854) erste Direktor des Wittenberger Predigerseminars.
Zum ersten Direktor der neu gegründeten Anstalt wurde
– Generalsuperintendent D. Karl Ludwig Nitzsch,
– zum zweiten Direktor D. Johann Friedrich Schleußner
– und zum dritten Direktor D. Heinrich Leonhard Heubner ernannt, der zugleich Ephorus des Seminars wurde und später
– von 1832 bis 1853 – dessen erster Direktor war.
Hierauf erfolgte die feierliche Grundsteinlegung zum Lutherdenkmal.
Die erste Anregung zur Errichtung des Denkmals ging von einem literarischen Vereine aus, der sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts in der alten Grafschaft Mansfeld gebildet hatte. Besonders rührig zeigte sich dabei der Pastor Schnee in Groß – Oerner bei Mansfeld.
Namhafte Persönlichkeiten traten für das Unternehmen ein; so schrieb Jean Paul im Jahre 1805 seine „Wünsche für Luthers Denkmal“.
Die Kriegsunruhen waren jedoch der Fortführung des Werkes hinderlich, aber nach der Befreiung Deutschlands vom französischen Joche nahm die Sache einen kräftigeren Aufschwung.
König Friedrich Wilhelm III. von Preußen stellte sich an die Spitze des Vereins, und die Sammlungen erreichten bald die Höhe von 34500 Talern. Die Grundsteinlegung am 1. November 1817 ging in folgender Weise vor sich:
Nach Beendigung des Gottesdienstes in der Schlosskirche versammelten sich auf dem Marktplatze die städtischen Behörden, die Deputationen, die Vereine und Schulen usw. Auf zwei Seiten des Marktes hatte das Regiment Kolberg, das soeben, aus Frankreich kommend, hier eingetroffen war, samt der Musik Ausstellung genommen. Mit dem Eintreffen des Königs und der Königlichen Familie begann die Feier mit der von einem Sängerchor vorgetragenen Festhymne.
Nach der Weiherede taten zunächst der König und sämtliche Prinzen und Prinzessinnen die üblichen drei Hammerschläge, denen sich die der Behörden, Deputationen usw. anreihten. Hierauf wurden eine Anzahl Münzen und Schriften usw. dem Grundsteine einverleibt und dieser dann geschlossen.
Nach Schluß der Feier nahm Friedrich Wilhelm den Vorbeimarsch des Regiments Kolberg entgegen, das dann weitermarschierend die Stadt durch das Schloßtore verließ. Nachmittags 1½ zogen die Schüler der hiesigen Schulen vom Augusteum aus durch die Collegienstraße und über den Markt in geschlossenem Zuge nach der Stadtkirche zum Gottesdienste, bei dem D. Heubner die Festpredigt über Markus 10 V. 14 hielt.
Auch der König samt Gefolge wohnte dieser bei.
Am Nachmittage fand in der Kommandantur große Festtafel statt. Dem Bürgermeister Dörfurt ließ Se. Majestät 100 Friedrichsdor als Geschenk für die Armen der Stadt überweisen. Ein Festakt in den Schulen und ein beim Luthersbrunnen abgehaltenes Kinderfest beendete am 3. November die Reihe der festlichen Tage. Auf die Feier der übrigen Jubiläen, die sich auf Luther und das Reformationswerk beziehen, wollen wir nicht näher eingehen, da sie sich meist im gleichen Rahmen bewegten.
Am 31. Oktober 1821 fand die feierliche Einweihung des Lutherdenkmals statt. Der Entwurf zu diesem entstammt dem berühmten Schadow. Gegossen wurde das Erzstandbild in der Königlichen Kanonengießerei zu Berlin durch Lequire. Die Zeichnung zu dem Baldachin entwarf Schinkel-Berlin. Das Denkmal erhielt einen Unterbau von poliertem Granit. Am Morgen des Einweihungstages versammelten sich die Schüler der hiesigen Schulanstalten auf dem Kirchhofplatze.
Um 9 Uhr bewegte sich der Zug unter Glockengeläut durch die Coswiger Straße nach dem Schlossplatz und nahm dem Haupteingange der Schlosskirche gegenüber Aufstellung. In einer kurzen Ansprache wies hier D. Heubner auf die Bedeutung des 31. Oktobers hin, worauf sich der Zug durch die Schloss Straße nach dem Marktplatze begab, der von Tausenden von Menschen angefüllt war. Nach der vom Generalsuperintendenten D. Nietzsch gehaltenen Festrede fiel unter dem Gesange des Lutherliedes „Ein feste Burg“ die Hülle, und der begeisterten Menge zeigte sich die hohe, eindrucksvolle Gestalt des Reformators.
König Friedrich Wilhelm III. war der Feier ferngeblieben.

Dagegen sah Wittenberg im Jahre 1823 hohen fürstlichen Besuch. Am 26. November kam die Prinzessin Elisabeth von Bayern hier an, auf der Durchreise nach Berlin zu ihrer dort stattfindenden Vermählung mit dem damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dem späteren König Friedrich Wilhelm IV.
In Pratau wurde die hohe Braut von den Bauernburschen des Dorfes hoch zu Ross in eigens dazu gefertigter Tracht und mit Musik begrüßt – ein sinniger Empfang, zu welchem der damalige Landrat des Wittenberger Kreises, von Jasmund, die Anregung gegeben hatte. Gleichzeitig wurde die Prinzessin von dem Stadtkommandanten, General von Brockhusen, begrüßt, der ihr von hier aus nach der Stadt das Geleite gab.
Der Einzug der hohen Braut erfolgte unter Kanonendonner und dem Geläute sämtlicher Glocken durch das Elstertor, die Collegienstraße, Markt nach der Kommandantur, wo die Prinzessin mit ihrem engeren Gefolge Wohnung nahm. Auf dem Wege durch die Stadt bildeten die Schützen und Grenadierkompanie sowie die sämtlichen hiesigen Innungen mit ihren Fahnen und Emblemen nebst mehreren Musikkorps Spalier. Am Abend war die Stadt festlich illuminiert. Besonders glänzend war diese Illumination an der Wohnung des Landrats von Jasmund im damaligen Galetzky’schen Hause am Markte und am Rathause.
Am Balkon desselben glänzte ein großer Stern, der rechts von einem preußischen Adler und links von dem bayrischen Wappenlöwen in buntfarbigen Lämpchen flankiert wurde.
Einen prächtigen Anblick gewährten auch die Türme der Stadtkirche. Die Verbindungsbrücke zwischen beiden trug ein in bunten Farben leuchtendes   E – der Namenszug der Prinzessin – der bis an die Kuppel hinaufreichte.

Eines ähnlichen hohen Besuchs hatte sich unsere Stadt im Jahre 1829 zu erfreuen. Am 8. Juni traf die Prinzessin Auguste von Sachsen-Weimar auf der Durchreise zu ihrer am 11. Juni zu Berlin stattfindenden Vermählung mit dem Prinzen Wilhelm von Preußen, dem nachmaligen Kaiser Wilhelm I. hier ein.
An der Elbbrücke wurde die hohe Braut von dem Stadtkommandanten, Oberst v. Brockhusen, begrüßt und hielt dann um 5 Uhr Nachmittag durch das Elbtor ihren Einzug in die Stadt, wo sie in der Kommandantur Wohnung nahm. Eine Stunde vorher war der Bräutigam, Prinz Wilhelm, hier angekommen und im Hotel „zur goldenen Weintraube“ abgestiegen. Nach dem Diner, welches die hohen Herrschaften gemeinsam in der Kommandantur einnahmen, fuhren sie durch die Schloss Straße und Collegienstraße nach dem Lutherhause. Am Abend war die Stadt glänzend illuminiert. Prinz Wilhelm reiste noch am Abend 9½Uhr nach Berlin zurück, während die Prinzessin mit dem ihr beigegebenen preußischen Hofstaate und ihrem Gefolge am nächsten Morgen dahin nachfolgte.

Im Jahre 1824 trat eines der wichtigsten städtischen Institute ins Leben – die städtische Sparkasse, welche am 1. Januar 1824 eröffnet wurde. Welchen erfreulichen Aufschwung dieses Institut genommen hat, wird am besten dadurch bewiesen, dass Ende 1909 an Sparkassenbüchern im Umlauf waren 20 123 Stück mit einer Gesamteinlage in Höhe von 14 785 560 M.
Aus der Geschichte der Sparkasse sei hier erwähnt, dass in dieser am 28. Juli 1850 (dem Schützenfest-Montag) ein Einbruch verübt und 1868 Taler teils in Kassenscheinen, teils in barer Münze gestohlen wurden. Trotz der ausgesetzten Belohnung von 200 Talern gelang es nicht, den Dieb zu ermitteln.

Das Jahr 1827 zeichnet sich durch den Erweiterungs- bzw. Neubau zweier Schulanstalten aus. Das älteste Schulgebäude war ein kleines unansehnliches Häuschen auf der Nordseite des Kirchplatzes die spätere Küsterwohnung. In seiner Nähe errichtete man 1564 ein neues Schulhaus, für dessen Bau der Kurfürst 1000 Gulden schenkte. Es ist das unter dem Namen „Altes Gymnasium“ bekannte Gebäude, in dem sich heute die Druckerei des „Wittenberger Tageblattes“ befindet.
Da es räumlich nicht mehr genügte, wurde ihm 1827 ein Stockwerk aufgesetzt.

Die Einweihungsfeier fand am 3. Januar 1828 in Gegenwart der Geistlichen, des Magistrats und zahlreicher Einwohner statt. Die Schule hatte bisher unter dem Namen Lyceum sechs Klassen umfasst, von denen die drei oberen Tertia bis Prima die wissenschaftliche Bildung zum Ziele hatten, während die drei unteren die für das bürgerliche Leben erforderlichen Kenntnisse verleihen sollten.
Am folgenden Tage, dem 4. Januar, fand die feierliche Einweihung des in der Jüdenstraße neu erbauten vorderen Kommunal-Schulgebäudes unter zahlreicher Beteiligung statt. In das neue Gebäude siedelten mit seiner bereits Ostern 1827 geschehenen Eröffnung auch die drei Knabenklassen über, welche bis dahin den Unterbau des Lyceums gebildet hatten, ebenso die beiden Mädchenklassen, von denen die erste bisher im Hause des Tischlermeisters Krüger, Collegienstraße 81, die zweite in dem der Kirche gehörigen Hause auf der Südseite des Kirchplatzes untergebracht war.
Hinzufügen wollen wir, dass am 1. April 1829 an der Kommunal- schule die erste Lehrerin für weibliche Handarbeiten angestellt wurde. Zur Bestreitung der durch die Erweiterung der Schule erwachsenen Mehrausgaben wurde an Stelle des bisherigen Schulgeldes am 1. Juli 1829 mit Genehmigung der Kgl. Regierung eine Schulsteuer eingeführt.

Diese Steuer musste von sämtlichen Hausvätern der Stadt gleichviel ob sie Kinder besaßen oder nicht ,“nach Verhältnis ihrer Besitzungen und Nahrungen“ entrichtet werden.
Für auswärtige Schüler musste nach wie vor Schulgeld gezahlt werden. Die durch die Schulsteuer erzielten Einnahmen mögen wohl zur Bestreitung der Bedürfnisse der Schule nicht ausgereicht haben, denn am 1. Januar 1830 machte der Magistrat bekannt, dass außer der eingeführten Schulsteuer vom Tage ab noch ein monatliches Schulgeld von 6 Sgr. für jedes Kind erhoben werden würde. Dieser Zustand erklärt sich daraus, dass die Schulkasse gänzlich selbständig war und nicht wie in späteren Jahren Beihilfen aus der Kämmereikasse erhielt. Ihre Einnahmen reichten infolgedessen trotz der angegebenen Manipulationen nicht aus, die stetig wachsenden Ausgaben zu decken, so dass am Schlusse des Jahres 1830 ein Defizit von 700 Talern und im Jahre 1831 ein solches von 800 Talern in der Kasse vorhanden war. Durch Aufnahme eines Darlehens von 1500 Talern bei dem damaligen Besitzer der „Goldenen Weintraube“, namens Hille, wurde der Fehlbetrag ausgeglichen. Die Durchführung der beschlossenen Schulsteuer stieß vielfach auf Widerstand. Da die meisten Einwohner die Zahlung derselben, ungeachtet aller Mahnungen, verweigerten, so musste vielfach zur Exekution geschritten werden. Die Bürger erhoben Beschwerde bei der Königlichen Regierung und gaben damit die Veranlassung zu mehrjährigen Verhandlungen. Nachdem mittlerweile im Jahre 1831 die Städteordnung von 1808 eingeführt worden war, wurde die Schulsteuer, die soviel böses Blut erregt hatte, wieder aufgehoben, und zu Anfang des Jahres 1833 den Gepfändeten ihr Eigentum wieder zurückerstattet.
Das Defizit der Schulkasse wurde auf Beschluß der Stadtverordnetenversammlung von den Einnahmen gedeckt, die sich durch Verkauf der im Großen Lug abgeschlagenen Eichen ergaben. Das alte Gymnasialgebäude erfüllte bis zum Jahre 1887 seinen Zweck. Dann wurde es ersetzt durch den heutigen nach den Plänen des Baurats Schwechten in Berlin errichteten geschmackvollem Neubau an der Ecke der verlängerten Neustraße und der Lutherstraße.
Die Einweihung des mit einem Kostenaufwande von 264 000 Mark errichteten Gebäudes fand im Januar 1888 statt.
Eine besonders schöne Ausstattung erhielt die Aula.
Ihre bedeutendste Zierde ist das von Professor Woldemar Friedrich geschaffene Kolossalgemälde „Luther auf dem Reichstage zu Worms“, für welches das Kultusministerium 25 000 Mark besonders angewiesen hatte.

Das Bestreben, den Kindern des Mittelstandes eine über das Ziel der Volksschule hinausgehende Bildung zu vermitteln, führte zur Gründung einer Mittelschule.
Das an der Falkstraße gelegene Mittelschulgebäude wurde mit einem Kostenaufwand von 400 000 Mark errichtet und im Jahre 1900 feierlich eingeweiht.
Mit seiner Eröffnung wurden die beiden Vorschulklassen des Gymnasiums aufgehoben, da deren Aufgabe nunmehr der Mittelschule zufiel. Da die Frequenz der Mädchenklassen der Mittelschule jedoch in den letzten Jahren einen beständigen Rückgang erfahren hat, so wird mit dem 1. April d. J. die Mädchenabteilung der Mittelschule aufgehoben und mit der am gleichen Termine zur Aufhebung kommenden Privat-Mädchenschule zu einer städtischen höheren Mädchenschule vereinigt, die den erlassenen Bestimmungen über das höhere Mädchenschulwesen in Preußen entsprechend ausgebaut werden soll. Als Schullokal erhält diese neue Schule die bisher von der Mädchen – Abteilung der Mittelschule benutzten Räume zugewiesen.
Die wachsende Schülerzahl der Elstervorstadt und der Friedrichstadt machte auch hier einen Schulneubau nötig, der im Jahre 1902 mit einem Kostenaufwand von 100 000 M. ausgeführt und am 16. April 1903 eingeweiht wurde. Mit diesem Tage wurde die Schule der Friedrichstadt mit jener der Elstervorstadt in dem neuen Schulgebäude vereinigt. Das alte Schulhaus der Elstervorstadt nahm einige Klassen der Bürgerschule auf. Denn auch das alte Volksschulgebäude in der Jüdenstraße hat sich seit langem als zu klein erwiesen und machte einen Neubau dringend nötig.
Dieses an der Ecke der Falkstraße und Zimmermannstraße errichtete stattliche Schulgebäude erforderte 400 000 M. Baukosten und dürfte am 1. Mai d. J. seiner Bestimmung übergeben werden. Zu diesem Termine wird gleichzeitig die dreiklassige Volksschule der Schloss Vorstadt aufgehoben und mit der städtischen Volksschule vereinigt.

Über das Schulwesen unserer Stadt sei noch folgendes mitgeteilt: Das Melanchthon Gymnasium hatte am 1. Februar 1909 eine Frequenz von 205 Schülern.
Die Einnahmen der Gymnasialkasse betrugen im letzten Rechnungsjahre 92 891 M. 05 Pf.,
die Ausgaben 91 599 M. 23 Pf.

An Zuschüssen wurden gezahlt:
– aus der Kämmereikasse 37 739 M. 20 Pf.,
– aus der Kirchenkasse 663 M. 72 Pf.,
– aus dem Universitätsfond 6 263 M. 98 Pf.,
– aus der Staatskasse 19 373 M. 62 Pf.,
insgesamt also 64 040 M. 52 Pfg. Zuschüsse.
An Schulgeld wurde erhoben pro Schüler 130 M.,
insgesamt 25 945 M.
Die Mittelschule zählte am 22. März 1909 zusammen 594 Schüler, und zwar 396 Knaben und 198 Mädchen.
Die Kasse der Mittelschule hatte eine Einnahme von 94 828 M. 36 Pf. und eine Ausgabe von 89 026 M. 64 Pf.
Die Kämmereikasse leistete einen Zuschuss von 57 700 M.
Die Einnahme an Schulgeld bezifferte sich auf 11 212 M.
Das Schulgeld betrug pro Schüler in den 2 Unterklassen 36 Mark, in den 2 mittleren Klassen 42 Mark und in den 4 oberen Klassen 48 Mark jährlich.
Die Bürgerschule (städtische Volksschule) zählte am 31. März 1909 insgesamt 1 643 Schüler, und zwar 851 Knaben und 792 Mädchen. Die Elstervorstadtschule hatte 579 Schüler 269 Knaben und 310 Mädchen, die Schloss Vorstadtschule 123 Schüler 57 Knaben und 66 Mädchen.
Insgesamt wurden die drei genannten Volksschulen von 2 345 Schülern – 1 177 Knaben und 1168 Mädchen – besucht.
Die Einnahmen der Kommunalschulkasse betrugen im letzten Rechnungsjahre 117 184 M. 09 Pf.,
die Ausgaben 116558 M. 99 Pf.
An Zuschüssen wurden gezahlt:
– aus der Kämmereikasse 106 200 M.,
– aus der Stiftungskasse 165 M. 70 Pf.,
– aus der Kirchenkasse 1793 M. 72 Pf.,
– aus der Universitätskasse 935 M. 75 Pf.,
– aus der Staatskasse 7807 M. 88 Pf.,
insgesamt also 116903 M. 05 Pf. Zuschüsse.

Schulgeld wird seit Erlass des Volksschullastengesetzes vom Jahre 1887 von den Schülern der Volksschulen nicht mehr erhoben. Zu der oben angegebenen Schülerzahl unserer Stadt treten noch die 72 Schüler (22 Knaben und 50 Mädchen) der mit dem Kgl. Predigerseminare verbundenen dreiklassigen Lutherschule, deren Erhaltung dem Evangelischen Oberkirchenrate in Berlin obliegt, und die 210 Schülerinnen der mit dem 1. April d. Jahres. zur Aufhebung kommenden Privat-Mädchenschule.

Die gewerbliche Fortbildungsschule wurde im letzten Berichtsjahre von 554 Schülern besucht.
Ihre Einnahmen betrugen 1 1057 M. 31 Pf.,
und die Ausgaben 10 864 M. 38 Pf.
An Zuschüssen zahlte die Kämmereikasse 4 920 M.
und die Staatskasse 4 906 M.,
insgesamt also 9 826 M. Zuschüsse.

Das Jahr 1830 brachte der Stadt wiederum eine Jubiläumsfeier. Am 25. Juni wurde der 300 jährige Gedenktag der Übergabe der Augsburgischen Konfession festlich begangen.
Am Festtage früh 7 Uhr bewegte sich vom Augusteum aus ein großer Festzug durch Collegienstraße, Marktplatz, Schloss Straße zur Schlosskirche.
Voran schritt der Sängerchor, dann folgten die Schüler der Kommunalschule, des Gymnasiums, die Mitglieder des Kgl. Predigerseminars, die Lehrer und Geistlichen, Militär- und Zivil- beamte, Magistrat und Bürgerschaft.
Nach dem Gottesdienste in der Schlosskirche ging der Zug in der gleichen Reihenfolge durch die Coswiger Straße über den Kirchplatz nach der Stadtkirche.
Am Nachmittage fand im Luthersbrunnen für sämtliche Schüler der hiesigen Schulen ein Kinderfest statt.
An diesem Tage wurde auch die noch stehende Luthereiche vor dem Elstertore gepflanzt, da der im Jahre 1821 gesetzte Baum (die erste Eiche wurde 1813 durch die französische Besatzung gefällt) nicht Wurzel gefaßt hatte.

Der Verkehr zwischen Wittenberg und dem benachbarten Dorfe Pratau von je her ein beliebter Ausflugsort der Bürgerschaft erlitt namentlich bei Hochwasser oft längere Unterbrechung, da der Weg niedrig gelegen und daher schwer zu passieren war.
Um diesem Übelstande abzuhelfen, wurde in den Sommermonaten des Jahres 1831 der Damm zwischen der Elbbrücke und Pratau gebaut. Gleichzeitig errichtete man eine neue große Flutbrücke. In diesem Jahre näherte sich ein unheimlicher Gast der Stadt die Cholera.
Zur Sicherheit der Bürgerschaft wurde im Gasthofe „Stadt Mailand“ bei Trajuhn sowie an der Elbbrücke eine Quarantänestation eingerichtet. Nur Personen, welche mit genügender Legitimation versehen waren, wurden in die Stadt eingelassen.
Ein wichtiges Ereignis vollzog sich vom 6. bis 8. November desselben Jahres.
Nachdem in Wittenberg die von Stein geschaffene Städteordnung vom Jahre 1808 eingeführt war, wurde an den genannten Tagen die Wahl der ersten Stadtverordneten vollzogen, die dann am 1. Dezember in ihr Amt eingeführt wurden.
Das Jahr 1832 brachte einen wichtigen Straßenbau – den Bau der Chaussee von Wittenberg nach Coswig. Infolge der opferwilligen, tätigen Teilnahme der hiesigen Pferdebesitzer und Einwohner konnte der Bau in verhältnismäßig kurzer Zeit zu Ende geführt werden.

Am 9. Mai 1834 ertönte die im Türmchen des Rathauses hängende Armesünderglocke zum letzten Male. Sie begleitete mit ihren traurigen Klängen den Todesgang des 25 jährigen Fleischergesellen Ernst Wollkopf, der am 12. Dezember 1831 den Müllerburschen Herrmann auf der bei dem Dorfe Priesitz gelegenen Windmühle beraubt und ermordet hatte und für diese Untat auf dem am Galgenberge in der Nähe des Gasthauses „Zum grauen Wolf“ errichteten Schafott hingerichtet (gerädert) wurde.
Es war das letzte Mal, das in Wittenberg eine Hinrichtung vollzogen wurde. Und es ist für jedes gesittete Empfinden erfreulich, dass derartige traurige Akte sich heute in strenger Abgeschlossenheit vollziehen und nicht mehr dazu dienen, wie es bei dieser Hinrichtung der Fall war. die Schaulust einer müßigen Menge zu befriedigen, die auf eigens erbauten Tribünen, auf Wagen usw. zu Tausenden dem abstoßenden Schauspiele beiwohnte.

Der 31. Oktober desselben Jahres brachte der Stadt hohen Besuch. An diesem Tage trafen die Kaiserin von Rußland, eine Tochter König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, und der Großherzog von Sachsen-Weimar nebst Gemahlin hier ein, um – wie es hieß – eine wenig erquickliche Familienangelegenheit zu ordnen. Die Kaiserin nahm in der Kommandantur Wohnung, während die Großherzoglichen Herrschaften in der „Goldenen Weintraube“ abstiegen.

Den hohen Gästen zu Ehren war die Stadt am Abend glänzend illuminiert, und vor ihren Wohnungen fand ein großer Zapfenstreich und eine Serenade statt.

In demselben Jahre wurde das Königliche Predigerseminar durch eine Übungsschule erweitert, die am 2. September eröffnet wurde, und in der jedes Kind freien Unterricht und freie Lernmittel erhielt.
Als Oberlehrer wurde der bisherige Predigtamts-Kandidat August Rüdiger und als zweiter Lehrer E. Hinneberg angestellt. Während der Monate Oktober und November 1836 ließ die Stadtverwaltung den erhöhten Fahrdamm zwischen Elstertor und Elbtor bauen.
Das Jahr 1837 brachte die Eröffnung einer gemeinnützigen Anstalt, der von Archidiakones M. Seelfisch gegründeten Kleinkinder-Bewahranstalt, die am 6. Juli des genannten Jahres im Weidenhammerschen Hause in der Juristenstraße feierlich eröffnet wurde. Die erste Leiterin der Anstalt war die verwitwete Frau Kreisgerichtsrat Mayer, der große Liebe und mütterliche Sorgfalt gegenüber den ihr anvertrauten Kindern, die im Alter von zwei bis 5 Jahren Aufnahme fanden, nachgerühmt wird.
Zum Besten der Anstalt wurde am 3. August 1838 – dem Geburtstage Friedrich Wilhelm III. –  in der Schlosskirche das Oratorium „Absalom“ durch die Dessauer Hofkapelle unter Mitwirkung mehrerer hiesiger Dilettanten aufgeführt. Die Leitung hatte der Komponist, der Herzogliche Hofmusikdirektor Schneider, selbst übernommen, der auch bereits früher in Wittenberg ähnliche Musikaufführungen leitete.
Am folgenden Tage veranstaltete die Hofkapelle im Mennerschen Lokale (dem heutigen, „Gesellschaftshause“) unter der Leitung Schneiders noch ein Konzert. Obgleich das Eintrittsgeld für die Musikaufführung in der Schlosskirche 20 gr. betrug – also ziemlich hoch war – so wurde diese doch zahlreich besucht. Dessen ungeachtet, und trotzdem die fremden Musiker, Sänger und Sängerinnen von den Einwohnern freiwillig und unentgeltlich bewirtet wurden, blieben doch infolge der hohen Kosten von der beträchtlichen Einnahme nur 10 Taler für den bezeichneten guten Zweck übrig. Den Hauptteil verschlang ein Diner, welches man den von auswärts gekommenen Mitwirkenden in „Schreibers Garten“ gab.

Wie sehr die Erinnerung an die im Jahre 1813/14 erduldeten Leiden noch lebendig war, geht daraus hervor, dass man am 13. Januar 1839 das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Befreiung der Stadt vom Drucke der Franzosen durch einen Gottesdienst und am Mittag durch ein Festessen im Meynerschen Saale beging, an dem sich die Geistlichkeit, die Offiziere der Garnison, sämtliche Behörden und viele Bürger beteiligten.

König Friedrich Wilhelm III. war gestorben, und sein Sohn bestieg als König Friedrich Wilhelm IV. den Thron Preußens.
In Wittenberg fand für ihn am 15. Oktober 1840 eine ausgedehnte Huldigungsfeier statt. Sie wurde in der Morgenfrühe durch Kanonendonner von den Wällen, durch Blasen eines Chorals vom Turme der Stadtkirche und durch Reveille eingeleitet. Vormittags 10 Uhr erfolgte ein Festzug der Bürgerschützen- und Grenadierkompagnie, denen sich sämtliche Innungen mit ihren Fahnen und Abzeichen anschlossen. Der Zug begab sich nach dem Arsenalplatze und reihte sich der hier stattfindenden Parade der Garnison an. Nach Beendigung derselben wurde ein Feldgottesdienst abgehalten. Abends war die Stadt festlich illuminiert, und es erfolgte abermals ein Umzug der Schützen und Grenadierkompagnie und der Innungen, der allerdings durch einen heftigen Regen stark beeinträchtigt wurde.

Der 10. September 1841 brachte die Eröffnung einer wichtigen Verkehrsstraße – der Berlin-Anhalter Eisenbahn. Die Linie hatte bei unserer Stadt eine andere Richtung als heute. Sie führte an der Nordseite der Stadt vorüber; der Bahnhof befand sich auf dem Gelände, auf dem heute der ,“Schweizergarten“ steht.

Die Eröffnung wurde durch ein Festmahl im Bahnhofsgebäude gefeiert.

Am 31. Oktober 1841 fand in Wittenberg ein akademisches Erinnerungsfest statt. Auf Anregung des hier lebenden Privatgelehrten Dr. Böhringer vereinigte sich eine Anzahl von Männern, die ehemals auf der Wittenberger Universität studierten, zu einer Gedenkfeier.
Außer dem üblichen Festmahle wurde ein von der Dessauer Hofkapelle in der Schlosskirche gegebenes geistliches Konzert und am Abend ein Fackelzug veranstaltet. Bereits im nächsten Jahre, am  Außer dem üblichen Fest- mahle wurde ein von der Dessauer Hofkapelle in der Schlosskirche gegebenes geistliches Konzert und am Abend ein Fackelzug veranstaltet.
Bereits im nächsten Jahre, am 26. Mai 1842, fand eine zweite derartige Zusammenkunft statt, die eine erhebliche größere Beteiligung aufwies und sich überhaupt in einem größeren, glanzvollen Rahmen bewegte.
Am Vormittage des Festtages fand eine Festsitzung statt, in der u. a. über eine an den König abzusendende Petition um Wiederherstellung der Wittenberger Universität beraten wurde. Einen Erfolg hatten die in dieser Richtung getanen Schritte nicht.
An die Sitzung schloss sich im Meynerschen Saale ein Festmahl. Am Nachmittage zogen die Teilnehmer im geschlossenen Zuge nach Rothemark, das zur Universitätszeit mit prächtigen Eichen bestanden war und einen beliebten Ausflugsort der Wittenberger Studenten bildete. An der Spitze des Zuges schritt ein Musikkorps, und die Schützen- und Grenadierkompagnie gaben ihm das Geleit.
Auf dem Festplatze fand ein von drei Musikkapellen ausgeführtes Konzert statt. Abends vereinigten sich die Teilnehmer mit der Bürgerschaft im Meynerschen Lokale, wobei die früheren freundlichen, Erinnerungen aufgefrischt und so manches lustigen Studentenstreiches gedacht wurde.
Ein weiteres Erinnerungsfest brachte der 29. September desselben Jahres.
An diesem Tage beging das Königliche Predigerseminar die Feier seines 25 jährigen Bestehens in Anwesenheit des Kultusministers Eichhorn.
Vormittags 10 Uhr bewegte sich vom Auditorium des Augusteums aus der Festzug durch Collegienstraße und Schloss Straße zur Schlosskirche, in der Konsistorialrat Superintendent D. Heubner die Festpredigt hielt.
Am nächsten Vormittage um 9 Uhr fand im Auditorium des Seminargebäudes eine Festsitzung statt. Ein Festmahl und ein gemeinschaftlicher Spaziergang beschlossen die Feier, an der sich von den 344 Mitgliedern, die dem Predigerseminar bisher angehörten, 140 beteiligten.
Außerdem nahmen 33 Ehrengäste daran teil.

Mit dem 25. Juli desselben Jahres hörte eine alte sinnige Sitte auf: das Absingen der Stunden durch die Nachtwächter. Statt des anheimelnden, vertrauten Gesanges:
„Hört, ihr Herren, und lasst Euch sagen -“ ertönten von jetzt ab bei jedem Stundenwechsel prosaische, schrille Pfiffe.

Das Jahr 1844 brachte eine viel vermerkte Neuerung in der Uniformierung der hiesigen Schützengilde. Am 29. Juli des genannten Jahres zog die Schützenkompagnie zum ersten Male zum Schützenfeste in der neuen Uniform aus, die aus Waffenrock mit gelber Fangschnur, weißen Beinkleidern und Hirschfänger bestand. Bis dahin setzte sich die Schützenkleidung aus schwarzem Frack, gelben Nankinghosen, Zylinder und langem Säbel zusammen.

Die ersten Apriltage des Jahre 1845 waren für Wittenberg, namentlich aber für die Ortschaften der Elbaue, Tage der höchsten Gefahr. Infolge von Regengüssen und schnellem Tauwetter schwoll die Elbe hoch an; der Elbpegel zeigte 17 Fuß – den höchsten Wasserstand seit 1784.
Das Wasser drang bis zum Elbtore und stand dicht vor der zum Drachenkopf führenden Tür, so dass dort für die Bewohner ein auf hohen Böcken ruhender Steg hergestellt werden musste. Schlimm erging es den Bewohnern der Elbaue. Die Städte Dommitzsch, Pretzsch, Kemberg und zahlreiche Dörfer standen tief unter Wasser und waren von allem Verkehr abgeschnitten. Auf behördliche Anordnung wurde am 3. April bei sämtlichen Wittenberger Bäckern das vorhandene Brot aufgekauft und den notleidenden Ortschaften auf Kähnen zugeführt.

Mit dem 7. Dezember 1845 wurde eine alte Einrichtung, die seit Jahrhunderten hier bestanden hatte, zu Grabe getragen – das sogenannte Frischbacken. Bisher durften an Sonn- und Festtagen nicht sämtliche Bäcker frische Backwaren herstellen, sondern nur abwechselnd 4 bis 5, deren Namen in dem tags vorher erscheinenden „Wittenberger Kreisblatte“ bekannt gegeben wurden.
Die Gewerbeordnung vom 18. Januar 1845 machte dieser Einrichtung wie noch so mancher anderen alten Gepflogenheit ein Ende.

Am 18. Februar 1846 wurde der 300jährige Todestag Luthers durch eine größere Feier würdig begangen, die durch die Anwesenheit König Friedrich Wilhelm IV. und der Prinzen Karl, Friedrich Karl und Albrecht und zahlreicher anderer hohen Gäste eine besondere Weihe erhielt.
Am Vorabend des Festes fand ein Festakt im Gymnasium und ein Gottesdienst in der Stadtkirche statt. Der eigentliche Festtag wurde in üblicher Weise durch Choralblasen vom Stadtkirchturme eingeleitet. Nach dem Festgottesdienst, in dem Superintendent D. Heubner die Festpredigt hielt, stellte sich im Hofe des Lutherhauses ein Festzug auf, welcher den üblichen Weg durch die Collegienstraße, über den Marktplatz, durch die Schloss Straße zur Schlosskirche nahm. Den Zug eröffneten die Schüler der Kommunalschule und des Gymnasiums, dann folgten die Mitglieder des Predigerseminars, die Geistlichkeit, Staatsbeamte, Offizierskorps, Deputationen und Bürgerschaft. Auf beiden Seiten des Schlossplatzes hatte die Schützen und Grenadierkompagnie Spalier gebildet. Nachmittags 3 Uhr kam in der Schlosskirche Mozarts „Requiem“ zur Aufführung.
Eine öffentliche Versammlung vor dem Denkmale Luthers auf dem Marktplatze, bei welcher Superintendent D. Heubner eine Ansprache hielt, beschloss den ersten Festtag.
Am folgenden Tage, dem 19. Februar, zogen die Schüler der sämtlichen hiesigen Schulen in geschlossenem Zuge nach dem Marktplatze zum Luther Denkmal und hierauf zur Stadtkirche zum Festgottesdienst. Die Predigt hielt Archidiakones M. Seelfisch.
Dem Zuge voran wurde eine von König Friedrich Wilhelm IV. geschenkte Fahne getragen, in welche die Worte gestickt waren:

„Ein feste Burg ist unser Gott.“

Der König stiftete für die Armen der Stadt 300 Taler. Diese Summe wurde vom Magistrate unter dem Namen „Friedrich-Wilhelm-Stiftung“ kapitalisiert mit der Bestimmung, dass die Zinsen alljährlich am 18. Februar an sechs männliche und sechs weibliche Arme zur Verteilung gelangten. Gleichzeitig wurde auch zur Erinnerung an diese Feier die „Lutherstiftung“ ins Leben gerufen und als deren nächstes Ziel die Erbauung eines Waisenhauses beschlossen.
Die städtischen Behörden bewilligten zu diesem Zwecke ein Kapital von 2000 Talern aus der Kämmereikasse. Das Übrige sollte durch eine Landeskollekte aufgebracht werden. Da diese aber nur rund 3000 Taler ergab, so war man gezwungen, auf den Bau des Waisenhauses zu verzichten, und beschloss, die Zinsen des Stiftungskapitals zur Erziehung von Waisen in rechtschaffenen Familien zu verwenden.

Mit dem 1. Juli 1846 vollzog sich eine wesentliche Änderung im Schulwesen der Stadt. Die bisherige Kommunalschule wurde in eine sechsklassige Bürgerschule (6 Klassen für Knaben und 6 Klassen für Mädchen) und in eine Volksschule (zweite Bürgerschule) für Knaben und Mädchen gegliedert.

Während des genannten Jahres hatten die Preise für alle Lebensmittel eine bedeutende Steigerung erfahren, so dass unter der ärmeren Bevölkerung Nahrungsmangel eintrat. Um der Not nach Kräften abzuhelfen, trat am 21. Oktober eine Anzahl wohltätiger Männer zusammen und gründete einen Verein zur Speisung der Armen. Die zu diesem Zwecke in der Stadt und den Vorstädten unternommene Sammlung ergab den Betrag von 343 Talern.
Am 1. Dezember wurde im städtischen Armen und Kranken- hause eine Speiseanstalt eröffnet, die von den ärmeren Einwohnern sehr stark benutzt wurde.
Im Monat Dezember allein kamen 4 702 Portionen warmes Mittagessen à 1 Quart zur Verteilung;
davon wurden 3004 Portionen gänzlich unentgeltlich und 1 698 Portionen gegen eine geringe Vergütung von 4 Pfennigen pro Quart abgegeben.
Im Januar 1847 verteilte der Verein 5 868 Portionen, und zwar 3 759 Portionen unentgeltlich und 2 109 Portionen gegen die genannte mäßige Vergütung.
Im Frühling 1847 gingen die Lebensmittelpreise wieder zurück, so dass der Verein am 12. April 1847 seine segensreiche Tätigkeit wieder einstellen konnte.
Der Verein hatte im ganzen 25 608 Portionen ausgegeben, und zwar 17 744 Portionen unentgeltlich und 7 864 Portionen gegen die geringe Vergütung von 4 Pfennigen pro Portion.
An Beiträgen zu dem wohltätigen Zwecke waren insgesamt 607 Talern 19 Sgr. eingegangen.
Die Ausgaben betrugen 598 Taler.
Leider suchten auch hier wie anderwärts skrupellose Leute aus der Notlage Kapital zu schlagen.
Im April hatten die Getreidepreise ihren höchsten Stand erreicht. Es wurde der Scheffel Weizen mit 5 Talern und darüber, der Scheffel Roggen mit 4 Talern und 25 Sgr. bezahlt. Am 24. April war infolge reicher Zufuhr zwar viel Getreide auf dem Markte angefahren, aber die Verkäufer suchten nach getroffener Verabredung die Preise noch höher zu treiben und erlaubten sich zudem noch, die Käufer mit höhnischen Worten zu reizen. Als nun gar noch einer der Verkäufer einem Bürger, der sich über die hohe Forderung beschwerte, die rohe Antwort gab:
„Ihr müsst noch Dr… (Dreck) fressen,“ da war dessen Geduld erschöpft und er quittierte die erhaltene Antwort mit einem derben Faustschlage. Das gab das Signal zu bedauerlichen Ausschreitungen. Mehrere Arbeiter bemächtigten sich der auf gefahrenen Getreidevorräte und schleppten diese fort, während andere die Verkäufer mit Schlägen bedrohten. Vor der empörten Volksmenge ergriffen die geängstigten Bauern die Flucht und fuhren eiligst mit ihrem Getreide vom Marktplatze hinweg und zu den Toren hinaus. Nur mit großer Anstrengung gelang es der Polizei, die Ruhe wieder herzustellen. Alles noch auf dem Marktplatze vorhandene Getreide wurde nach der Ratswaage geschafft, die Eigentümer und die Menge des Getreides wurde polizeilich notiert und dieses dann sogleich an die hiesigen Einwohner für den festen Preis von 4 Taler 15 Sgr. für den Scheffel Weizen und 4 Taler für den Scheffel Roggen gegen Barzahlung verkauft.
Ende April kaufte der Magistrat für Rechnung der Stadt eine größere Partie Roggen. Er ließ diesen in der Stadtmühle mahlen und das Mehl an die ärmeren Einwohner in kleinen Quantitäten zum Selbstkostenpreise verkaufen.

Am 9. Januar 1847 erfolgte die Einweihung eines wichtigen Kulturwerks – der neuerbauten Elbbrücke.
Wir wollen an dieser Stelle einen etwas ausführlichen Rückblick auf die Geschichte und die Schicksale dieses bedeutungsvollen Bauwerks geben.

Unsere Elbbrücke, die nach ihrem im Jahre 1908 vollzogenen Umbau  mit zu den größten und schönsten Brücken des Elbstroms zählt, hat eine sehr wechselvolle Geschichte. Ursprünglich wurde der Verkehr über die Elbe durch Handkähne, später durch eine Fähre vermittelt.
Bei Hochwasser und Eisgang aber musste deren Betrieb eingestellt werden, und beide Ufer waren dann oft längere Zeit ohne Verbindung.
Im Jahre 1380 erließ Kurfürst Wenzeslaus eine Fährordnung, in welcher er den Wittenbergern als eine Bezeugung seiner Gunst eine besonders niedrige Fährtaxe bewilligte, weil – wie es in der betreffenden Urkunde heißt “ uns die weisen Bürgermeister, Ratsmanne und die Stadt, unße lieben, getreuen, vil und dicke nützliche und treue Dienste getan haben und noch wohl tun mögen und sullen in künftige Zeiten.“
Dieses Fährgeld betrug für einen übergesetzten Wagen zB  2 Pfennige, während für jeden anderen Wagen von auswärts 8 Pfennige bezahlt werden mussten. Da die angezogene Urkunde unter den aufgezählten Überfahrtsorten auch Pratau (Broda) nennt, so ergibt sich gleichzeitig daraus, dass die Elbe zu jener Zeit dicht an diesem Orte vorbeigeströmt sein muss. Noch 1424 unter der Regierung von Kurfürst Friedrich I. wird in einer Urkunde über die Privilegien der Stadt Wittenberg die Elbfähre als einzige Verbindung der beiden Ufer genannt.
Im Jahre 1428 ließ dann Kurfürst Friedrich II. oder der Sanftmütige die erste Brücke über die Elbe bauen. Den Bewohnern Wittenbergs wurde ein niedriger Brückenzoll zugestanden. Dieser betrug für jeden Wagen 3 Pfennige bei jeder Ein- und Ausfahrt, für einen Fußgänger aber nur 3 Pfennige das ganze Jahr hindurch und zwar je 1 Pfennig zu Aegidi (1. September), Neujahr und Walpurgis (1. Mai.)
Im Jahre 1455 befreite der Kurfürst Rat und Bürgerschaft aber gänzlich vom Brückenzoll und zwar als Entschädigung für die ihm seitens der Stadt geleisteten Dienste.

Durch die mehrfachen Kriege, in die er meistens durch seinen unbotmäßigen Bruder Wilhelm gestürzt wurde, sah sich der Kurfürst genötigt, bei der Stadt Wittenberg ein Darlehn von 732 rheinischen Gulden aufzunehmen. Diese Summe aber hatte die Stadt wohl selbst erst geborgt, weil sie nach vorhandenen Urkunden dafür jährlich 54 rheinische Gulden als Zinsen zahlte. Zur Vergütung dieser Zinsen, die doch eigentlich der Kurfürst hätte entrichten müssen, erließ dieser den Einwohnern den Brückenzoll.
Die von Friedrich dem Sanftmütigen erbaute Elbbrücke hat aber nur etwa 30 Jahre gestanden. Sie war nach Gepflogenheit der damaligen Zeit aus Holz und vom einfachsten Pfahlwerk erbaut. Ein starker Eisgang riss sie hinweg, und der Verkehr war wieder längere Zeit auf die alte Elbfähre angewiesen.

Eine zweite, stärkere Elbbrücke ließ der hochverdiente Kurfürst Friedrich der Weise bald nach seinem Regierungsantritte im Jahre 1486 über den Elbstrom schlagen. Sie war aus bestem Eichenholz gezimmert, hatte eine Länge von 350 Ellen und eine Breite von 11 Ellen. Sie besaß 11 Joche, von denen jedes 26 Ellen Weite hatte und ruhte auf 11 Pfeilern. Jeder dieser Pfeiler bestand aus 36 eichenen Pfählen von je 17 Zoll Dicke und 25 Ellen Länge. Zum Zwecke der besseren Befestigung im Boden waren die Pfähle mit eisernen Schuhen versehen. Der Brücke waren in der Stromrichtung mehrere Eisbrecher von je 27 Pfählen vorgelagert.
Die Höhe der Brückenjoche betrug 12 Ellen über dem niedrigen Wasserstande. An Baukosten erforderte die Brücke 10 000 Gulden, und für ihre Instandhaltung mussten jährlich im Durchschnitt 300 Schock Groschen ausgegeben werden.
Nach der Brückenzollordnung vom Jahre 1504 gaben die Einwohner Wittenbergs für einen Wagen 1 Gr. 3 Pf., die Auswärtigen für jedes Pferd 6 Pf., ein Reiter 3 Pf., Fußgänger zahlten einen alten Heller.
In den folgenden Zeiten wurde das Brückengeld zwar etwas geändert, aber immer für die Einwohner der Stadt sehr milde angesetzt, ,“und durchgängig auf die Erleichterung der Zufuhre und den Wohlstand gemeiner Stadt gesehen“, wie dies aus den noch vorhandenen Geleits-Pachtbriefen hervorgeht.

Auch hat der Rat der Stadt Wittenberg den Brückenzoll längere Zeit in Pacht gehabt.
Vom Jahre 1558 bis 1622 betrug dieses Pachtgeld 1500 Gulden, im letztgenannten Jahre wurde es um 50 Gulden erhöht und 1630 auf 3000 Gulden gesteigert.
Eine Abbildung dieser Brücke finden wir auf dem über der Thesentür der Schlosskirche angebrachten Lavabilde und auf einem im städtischen Archive befindlichen über drei Ellen langen Holzschnitte.
Diese zweite Elbbrücke, die zu ihrer Zeit als ein Wunderbau gepriesen wurde, hielt 151 Jahre lang stand. Zwar erlitt sie hin und wieder auch Beschädigungen, so am 12. März 1546, wo durch starken Eisgang zwei Joche hinweggerissen wurden. Und als im Jahre 1547 nach der unglücklichen Schlacht bei Mühlberg, in welcher Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige in Gefangenschaft geriet, Kaiser Karl V. gegen Wittenberg zog, da ließen die Kurfürstlichen zum Schutze der Stadt die Elbbrücke unpassierbar machen. Da diese außerdem noch mit Geschützen besetzt war, so hielt es der Kaiser für ratsam, eine halbe Stunde stromabwärts gegenüber von Piesteritz auf einer Schiffbrücke die Elbe zu überschreiten.
Die Schäden, welche die Elbbrücke erlitten hatte, wurden wieder ausgebessert.

Da kam der unglückselige dreißigjährige Krieg, der auch über Wittenberg viel Not und Elend brachte.
Am 16. Januar 1637 rückte der schwedische General Banner mit zwei Regimentern zu Ross und 1000 Füsilieren nebst 4 kleinen Geschützstücken von Süden her gegen Wittenberg. Durch das Feuer von den Festungswällen wurden die Schweden zum Rückgehen bewogen, ohne dass sie der Elbbrücke erheblichen Schaden zufügen konnten. In der darauffolgenden Nacht aber kehrten sie zurück und legten Feuer an die Elbbrücke, sodass drei Joch derselben abbrannten. Zwar traf der damalige Festungskommandant Oberst Hans von der Pforte bald darauf Anstalten, die Brücke wieder herstellen zu lassen – er wies ua. zu diesem Zwecke 52 Eichenstämme in der Rothemark und 106 Fichtenstämme in der Dietrichsdorfer Heide an – aber durch den Krieg und die ihm folgende Pest war Wittenberg und der Kur kreis so verarmt, dass vorerst eine Wiederherstellung der Elbbrücke unmöglich war.
Was die Schweden noch übrig gelassen hatten, das vernichtete in den nächsten Jahren Eisgang und Hochwasser.
Im Jahre 1657 erging daher an den Amtsschreiber Jakob Kormann der kurfürstliche Befehl, die Reste der Elbbrücke – es standen noch 6 Joche – abtragen zu lassen, was denn auch sogleich geschah.

Von 1637 bis 1787, also 160 Jahre lang, war nun der Verkehr über die Elbe wieder auf die Fähre angewiesen. Wiederholt stellten Universität und Rat mit Unterstützung auch anderer Landstände und Städte auf den Landtagen das Gesuch um Erbauung einer neuen Elbbrücke bei Wittenberg. Aber erst unter dem 7. Juni 1784 erließ Kurfürst August III. den entsprechenden Befehl zum Bau der Brücke.
Im Oktober des genannten Jahres nahm dieser seinen Anfang. Das benötigte Eichenholz wurde aus dem Wittenberger Ratsgehölz für 1300 Reichstaler gekauft. Die Anlage geschah nach den Plänen des Majors Günther und des Wasserbau-Kommissars Wagner.

Diese dritte Brücke, die ebenfalls aus Holz war, führte in der gleichen Richtung wie die jetzige, nur etwas oberhalb von dieser, vom „alten Brückenhause“ ab über die Elbe.

Die Oberaufsicht über den Brückenbau führte der Ober- Landbaumeister Exner, die eigentliche Bauleitung führte der Hofmaschinenmeister Reuß.
Mit der Ausführung der Arbeiten wurde der hiesige Amtszimmermeister Kaspar Köhler betraut.
Am 3. November 1784 begann man mit dem Einrammen der Brückenpfähle. Es wurden zu diesem Zwecke sechs Rammen mit 10 bis 13 Zentner schweren Rammklötzen aufgestellt, an denen insgesamt 265 Arbeiter tätig waren.
Die Zahl der beim Bau beschäftigten Zimmerleute betrug im Durchschnitt 40.

Die Brücke ruhte auf 12 Pfeilern, 7 Landpfeilern und 5 Wasserpfeilern.
Jeder Landpfeiler bestand aus 33 Pfählen von je 20 bis 21 Ellen Länge und 12 bis 15 Zoll Stärke, jeder Wasserpfeiler aus 76 gleichen Pfählen, von denen 30 zum Hauptpfeiler und die übrigen auf den Eispfeiler kamen.
Die Weite der Joche betrug zwischen den Landpfeilern 33 Ellen, zwischen den Wasserpfeilern, aber 40 Ellen.
Die Brücke erhielt eine Gesamtlänge von 500 Ellen und eine Breite von 11 Ellen.
An beiden Seiten war ein Geländer von 5 Ellen Höhe angebracht. Die Bogenhöhe betrug beim Niedrigwasser ungefähr 14 Ellen, bei Hochwasser etwa 7 Ellen.
Zum Schutze der Brücke bei Eisgang wurden dieser in 300 bis 380 Ellen Entfernung mitten im Strome 4 Eisblöcke vorgebaut, von denen jeder aus 25 Pfählen bestand. Unmittelbar am Eingang der Brücke auf dem rechten Elbufer errichtete man das geräumige Brückenhaus, das neben anderen Räumen im Erdgeschoß auch eine Schenkstube enthielt.

Die Gesamtkosten dieses Brückenbaues bezifferten sich auf 80 000 Reichstaler.
Noch vor Vollendung des Baues erließ das Kurfürstliche Finanzkollegium in Dresden eine spezialisierte Brückenzollordnung. Danach wurde an Brückengeld u. a. erhoben:
– von jedem Fußgänger 3 Pfennige,
– mit einer Traglast 6 Pfennige,
– bei Fuhrwerk für jedes Zugtier 2 Groschen,
– ebenso für ein Reitpferd 2 Groschen.

Die Einwohner Wittenbergs und der Vorstädte genossen auch hier wieder eine Bevorzugung vor den Auswärtigen, denn sie brauchten von den vorgenannten und allen übrigen Brückengeldsätzen nur die Hälfte zu zahlen.
Von einer Abgabe auf die Ladung der Wagen wurden sie mit Rücksicht auf die im Jahre 1424 erteilten und 1702 und 1729 bestätigten Privilegien gänzlich befreit. Daneben genoss eine ganze Anzahl von Personen gänzliche Befreiung vom Brückengelde.
Dazu gehörten u. a.
– alle kurfürstlichen Beamten und Militärpersonen,
– ferner die Professoren der Universität nebst ihren Angehörigen,
– die Geistlichen und Schuldiener,
– desgleichen der Organist
– und der Küster der Schlosskirche und Pfarrkirche,
– sowie alle Studenten.

Ende Juli 1787 war die Brücke fertiggestellt, und am 30. Juli dieses Jahres erfolgte die Einweihung, die sich zu einer glanzvollen Feier gestaltete. Am Morgen des Festtages, um 6 Uhr früh, wurden vom Turme der Pfarrkirche unter Pauken und Trompetenbegleitung mehrere Danklieder gesungen und damit die Feier würdig eingeleitet.
Den Höhepunkt derselben bildete ein Festzug.
Da an diesem Tage das althergebrachte Schützenfest seinen Anfang nahm, so konnte dieser um so imposanter gestaltet werden.
Gegen 9 Uhr vormittags versammelten sich die zur Baukommission gehörigen Personen nebst den am Brückenbau beteiligten Zimmerleuten und Maurern, sowie den Angehörigen der Fischerinnung und den amtsvorstädtischen Bürgern auf dem Kreisamte und Schlosshofes, der Rat der Stadt und die Bürgerschaft in und vor dem Rathause, während die Schützengesellschaft vor der am Marktplatz gelegenen Wohnung ihres Hauptmanns, des Bürgervorstehers Pezold, und die Bürgergrenadierkompagnie vor dem Hause ihres Oberhauptmanns D. Thomä am Markte Aufstellung nahm.
Um 9 Uhr zog letztere unter Anführung ihres Hauptmanns Klingner unter klingendem Spiele mit den kurfürstlichen Fahnen nach dem Schlosshofes, wo der Festzug sich ordnete.
Voran schritt die erste Abteilung der Grenadier-Kompagnie, dann folgten die Zimmerleute mit ihren Winkelmaßen und aufgesteckten Zitronen, dann die Maurer und andere beim Brückenbau beteiligten Gewerke, denen die Gewerkmeister voranschritten, sowie die Mitglieder der Fischerinnung mit bunten Fischerstäben und die Bürger der Amtsvorstadt.
Hierauf folgte eine zweite Musikkapelle und hinter dieser die Brückenbaukommission, an welche sich die zweite Abteilung der Grenadier-Kompagnie anschloss. Der Zug bewegte sich durch die Coswiger Straße zunächst nach dem Marktplatze, wo sich das Ratskollegium mit den beiden Ratsförstern und die Schützengesellschaft mit ihrer Musik und der Schützenfahne anschloss.
An ihrer Spitze schritt der derzeitige Schützenkönig, Lizentiat Wetzke. An die Schützengesellschaft gruppierte sich paarweise die Bürgerschaft unter Vorantritt der Viertelsmeister.
Den Schluß bildete die schon vorher erwähnte zweite Abteilung der Grenadier-Kompagnie mit fliegender Fahne und klingendem Spiele. Der Zug, dem eine große schaulustige Menge aus der Stadt und ihrer Umgebung folgte, bewegte sich um den Marktplatz, dann durch Elbstraße und Elbtor nach der Elbbrücke.
Hier hielt der erste Brückenbaukommissar, Amtshauptmann von Trosky, die Weiherede, in welcher er nach einem kurzen Rückblicke auf die Geschichte der Wittenberger Elbbrücke die Verdienste ihres Erbauers, des Kurfürsten August III., feierte. Hierauf bewegte sich der Zug über die neue Brücke nach dem jenseitigen Ufer und wieder zurück.
Sodann tat der Amtszimmermeister Köhler, der den Brückenbau ausgeführt hatte, den üblichen Bauspruch und trank auf das Wohl des Landesherrn. des Rats und der Baukommission, worauf der Schützenhauptmann das dreimalige Hoch auf den Kurfürsten ausbrachte.
Der Zug marschierte nun in der gleichen Ordnung nach der Stadt zurück, wo er sich auf dem Marktplatze auflöste. Die einzelnen Vereinigungen beschlossen den Tag außerdem noch durch besondere Festlichkeiten, und am Abend gab der damalige Bürgermeister D. Bauer zu Ehren der anwesenden vornehmen Gäste einen Ball.

Auffallen muss es, daß bei der geschilderten Feier nichts von einer Beteiligung der Universität gesagt wird.
Unser Bericht bemerkt dazu in recht bezeichnender Weise:
„Von Seiten der löblichen Universität war bey den hiesigen Herren Studierenden alles so veranstaltet, damit die Solennität auf keine Weise gestört werden möchte, zu welchem Ende die Herren Professors diesen und die folgenden Tage ihre Vorlesungen ununterbrochen fortgesetzt haben.
Man muss es zum Ruhme unserer Herren Studioforum öffentlich gedenken, dass von keinem einzigen derselben weder bey dieser solennen Anstalt, noch die Woche hindurch, wo das Vogelschießen gedauert hat, irgend Unordnung oder sonstiges Vergehen ist veranlasset worden; und wir wünschen gar sehr, dass auf anderen hohen Schulen, die sich zumal der feineren Sitten und ausgezeichneten Lebensart rühmen, bey so feierlichen, an Ausschweifung und Auflauf so nahe grenzenden Gelegenheiten so vernünftige Ordnung und Ruhe unter ihren gelehrten Bürgern eintreten möge“.

Nach diesen Auslassungen zu urteilen, scheinen die Wittenberger Studenten jener Zeit nicht im besten Rufe gestanden zu haben, da man von ihrer Beteiligung an der Feier Störungen befürchtete. Um sie aber von der Feier des Tages nicht ganz auszuschließen, wurde ihnen gestattet, dem Kurfürsten am Abend auf dem Marktplatze unter Pauken- und Trompetenschall ein freudiges „Vivat“ zu bringen.
Zur Erinnerung an die Einweihungsfeier der Elbbrücke hatte die Gattin des schon genannten Schützenkönigs, Frau Lizentiat Karoline Wetzke, eine Kantate verfasst unter dem Titel:
„Frohe Empfindungen über die neuerbaute Elbbrücke zu Wittenberg, am Augustustage 1787 geäußert von der dasigen Schützengesellschaft.“

Aber auch über diesem Bauwerk – dem Vorgänger unserer jetzigen Elbbrücke – waltete kein guter Stern:
Es erreichte nur ein Alter von 54 Jahren und wurde im Jahre 1841 durch einen starken Eisgang fortgerissen.
Wittenberg war im Jahre 1815 an Preußen gekommen, und unter der preußischen Regierung ging es mit dem Neubau der Elbbrücke schneller als vordem.
Bereits am 8. September 1842 wurde der Grundstein zu dieser vierten festen Brücke auf dem Wittenberger Ufer gelegt.
Es ist die Brücke, welche heute noch steht.
Sie erhielt gepflastertes Holzsprengwerk, welches auf 11 Pfeilern aus Sandstein ruhte, und bekam 12 Joche. Die Länge betrug 270 Meter und die Totalbreite 8,15 Meter. Die Maurer- und Steinmetzarbeiten wurden von den Maurermeistern Zimmermann und Voigt, die Zimmerarbeiten vom Zimmermeister Schütze ausgeführt.
An Baukosten erforderte die neue Brücke die Summe von 800.000 Mark.
Am 30. August 1846 wurde der Schlussstein auf dem Pratauer Ufer gelegt und der Bau am 19. Dezember 1846 vollendet und dem Verkehr übergeben. Die feierliche Einweihung geschah am 9. Januar 1847 in Gegenwart zweier Regierungskommissare, des Kgl. Landrats, der städtischen Behörde und der benachbarten Ortsbehörden sowie zahlreicher Zuschauer von nah und fern.
Der schnell anwachsende Schiffsverkehr und der namentlich mit Einführung der Dampfschifffahrt stetig steigende Tonnengehalt der Schiffe machte in den Jahren 1886 und 1887 einen teilweisen Umbau der Brücke notwendig.

Auf der linken Elbseite wurden zwei Pfeiler herausgenommen und dadurch die beiden südlichen Joche in der Fahrrinne von je 20 m auf 43,25 m verbreitert. Diese so verbreiterten Joche erhielten einen eisernen Überbau mit großen über die Brücke hinausreichenden eisernen Sprengbogen, die Breite der Brücke wurde hier von 8,15 m auf 11 m erhöht.
Verschiedene Schäden, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet hatten, machten im Jahre 1907 einen zweiten Umbau nötig. Dabei ist das Holz-Sprengwerk ganz in Wegfall gekommen und durch Eisenträger ersetzt worden. Gleichzeitig hat auch die Brücke eine Verbreiterung erfahren.
Die Fahrbahn misst 5,70 m, jede der beiden mit Mosaikpflaster belegten Gehbahnen 1,95 m, sodass die ganze Breite 9,60 m beträgt. Der Umbau begann am 1. September 1907 und wurde in der vertragsmäßigen Frist von 53 Wochen bis zum 12. September 1908 vollendet.

Nachdem die Brücke die Belastungsprobe durch drei mit Wasser gefüllte und mit Steinen beschwerte Chausseewalzen, die ein Gesamtgewicht von rund 600 Zentnern repräsentierten, bestens bestanden, wurde sie am obengenannten Tage dem ungehinderten Verkehre übergeben.
Der Umbau wurde von der Brückenbau-Aktiengesellschaft Union aus Essen ausgeführt. Seine Kosten belaufen sich auf 283.000 M. – Möge unsere Elbbrücke, dieses große und wichtige Kulturwerk, vor allem Schaden bewahrt bleiben und unserer Stadt bis in die fernste Zukunft zum Segen gereichen.

Wir treten nunmehr in das ereignisreiche Jahr 1848 ein. Ehe wir uns mit den charakteristischen Vorgängen selbst beschäftigen, wollen wir noch auf den sich am 1. März dieses Jahres vollziehenden Garnisonwechsel hinweisen.
An diesem Tage rückte das bisher hier garnisonierende Füsilier-Bataillon des 27. Infanterie-Regiments ab und wurde durch das Füsilier-Bataillon des 32. Infanterie-Regiments ersetzt.

Die Unruhen, die in anderen Staaten schon seit längerer Zeit bedenkliche Formen angenommen hatten, griffen mehr und mehr auch auf Preußen über. Aus vielen Orten unseres Vaterlandes liefen Nachrichten von bedauerlichen Ausschreitungen ein, die auch in Wittenberg nicht ohne Wirkung blieben.
Daß es in unserer Stadt im Gegensatz zu anderen Städten zu groben Exzessen kam, ist wohl in nicht erster Linie dem besonnenen, friedliebenden Charakter ihrer Bürgerschaft zu danken, die auch in diesen bewegten Tagen nicht vergaß, das Wittenberg in ganz besonderem Maße seinem Könige Dank schuldete.
Zur Erhaltung der Ordnung trug auch nicht wenig der Umstand bei, daß einflussreiche, besonnene und königstreue Männer sich an die Spitze der Bürgerschaft stellten und die auch hier vorhandene Erregung in ruhige Bahnen zu lenken wussten. Bei dem Interesse, welches dieses Kapitel der Geschichte besitzt, sollen die Vorgänge, soweit sie sich auf unsere Stadt beziehen, hier etwas ausführlicher zur Darstellung gelangen.

Die Erregung, welche die breiten Schichten der Bevölkerung ergriffen hatte, fand ihren Ausdruck in zahlreichen öffentlichen Volksversammlungen, die während der Monate April bis Juli hier tagten. Die erste von den hiesigen Innungsmeistern einberufene Versammlung fand am Dienstag den 18. April nachmittags 3 Uhr im Luthersbrunnen statt.
In dieser wurde beschlossen, eine Deputation nach Eilenburg zu entsenden, um mit dem dort gebildeten Komitee über die zur Hebung des Gewerbestandes in den Städten des Herzogtums Sachsen an die Behörden zurichtenden Anträge zu beschließen. Gleichzeitig wurde der Beschluß gefaßt, die gewerbetreibenden Bürger der zum Wittenberger Kreise gehörenden Städte Kemberg, Schmiedeberg, Pretzsch und Zahna aufzufordern, sich den Wittenberger Innungsmeistern anzuschließen und zu diesem Zwecke sich in einer für den zweiten Osterfeiertag nachmittags 2 Uhr in Rothemark an beraumten Versammlung einzufinden.
Der Aufruf zum Zusammenschluss der Gewerbetreibenden fiel auf fruchtbaren Boden.
Am 8. Juli tagte in Wittenberg im Meynerschen Saale die Generalversammlung des in Eilenburg gegründeten Handwerkervereins, die von den Deputierten aus den 49 vormals sächsischen Städten besucht war.
Eine Folge dieser Versammlung war, dass sich auch in unserer Stadt auf Anregung des Nagelschmiedemeisters Horst, des Kupferschmiedemeisters Strumpf, das Posamentierers Sichler und des Braueigners Grotius am 31. August ein Handwerkerverein bildete, der sich in erster Linie nachstehende Aufgaben stellte:
– 1. Ermittlung der Ursachen, durch welche der Gewerbestand gelitten hat und noch leidet.
– 2. Aufsuchen der Mittel, wodurch jene Übelstände gehoben werden könnten.

In den ersten Versammlungen des neuen Vereins, welche im Heinzeschen Lokale in der Juristenstraße stattfanden, wurde eine Petition an das Staatsministerium beraten, in welcher um Abänderung einzelner Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 18. Januar 1845 gebeten wurde.

Die politischen Ergebnisse drängten von selbst zur Gründung politischer Vereine in unserer Stadt.
Der erste derselben trat nach einem von Professor Lommatzsch, Justizrat Glöckner, Konrad Wensch und Rechnungsrat Bonsack unterzeichneten Aufrufe am 19. April unter dem Namen „Patriotischer Verein“ ins Leben.

Der Zweck des Vereins war nach § 1 seiner Satzungen folgender:
„Das Bewusstsein der Rechte und Pflichten, die aus der uns gegebenen Konstitution fließen, in uns und anderen zu entwickeln und darauf hinzuwirken, dass unserem Vaterlande daraus auf dem Wege der Ordnung und des Gesetzes der mögliche Segen erwachse.“

Dass diese Aufklärung über das Wesen der konstitutionellen Monarchie sehr nötig war, geht auch aus der im „Wittenberger Kreisblatt“ vom 29. April 1848 veröffentlichten Ansprache des damaligen Landrats von Jagow an die Kreiseingesessenen hervor, in denen er diese über Konstitution, Rede und Pressefreiheit und Versammlungsrecht belehrt. Die in väterlichem Tone gehaltene Ansprache schließt mit den Worten:
„Nehmt diese Ansprache von mir, Eurem besten Freunde, der nun beinahe 8 Jahre unter Euch wirkte, und stets bemüht war, Gesetzlichkeit und unparteiische Gerechtigkeit zu üben, wie sie Euch aus vollem Herzen gegeben wird, willig auf. Habe ich Euch, geliebte Kreiseingesessene, den Begriff unserer konstitutionellen Freiheit erklärt, so rufe ich Euch zum Schlusse zu: Das freie Volk ist das glücklichste, welches zugleich das gesetzlichste ist!“

Unbestritten hat der „Patriotische Verein“ viel für die Aufklärung der Bewohner über die damalige politische Lage geleistet. Zu diesem Zwecke veranstaltete er allwöchentlich öffentliche Versammlungen, in denen belehrende Vorträge gehalten wurden. Es kamen ua. folgende Gegenstände zur Verhandlung:
– 1. Die Charakteristik eines Deputierten zur Nationalversammlung, wie er sein soll.
– 2. Über den Unterschied der absoluten, der konstitutionellen und der republikanischen Verfassung.
– 3. Über Bureaukratie als eine Stütze des Absolutismus.
– 4. Über die Macht der öffentlichen Meinung und über die Selbstregierung in der konstitutionellen Monarchie.
– 5. Über Gesetzgebung.
– 6. Über Gewerbefreiheit.
– 7. Über den Reichsverweser als eine provisorische Zentralgewalt für Deutschland.
– 8. Über Zwangsanleihe und freiwillige Anleihe.
– 9. Über Mahl- und Schlachtsteuer.
– 10. Über die Berliner Nationalversammlung und den Verfassungsentwurf.

Die zwischen den gemäßigten und den radikaleren Elementen des „Patriotischen Vereins“ zu Tage getretenen Gegensätze führten bald zu heftigen Kämpfen in den Vereinsversammlungen. So verlangte ein von den letzteren gestellter und von dem Gerichtsassessor Teichmann aus Kemberg begründeter Antrag: der Verein solle die Revolution anerkennen und öffentlich aussprechen, daß diejenigen, die in den Märztagen in Berlin kämpften, sich um das Vaterland verdient gemacht hätten. Der Antrag wurde zwar heftig bekämpft, fand aber doch bei der Abstimmung eine erhebliche Majorität.
Auf den dringenden Rat des Justizrats Glöckner, die Sache lieber zu vertagen, um sie bei ihrer Wichtigkeit reiflicher überlegen zu können, wurde er schließlich von dem Antragsteller zurückgezogen. Da die Differenzen innerhalb des Vereins fortdauerten, so löste sich dieser schließlich auf, nachdem er kaum ein Vierteljahr bestanden hatte.

Auf Anregung des Majors Müller, des Tischlermeisters Gabelmann und des Kupferschmiedemeisters Strumpf bildete sich am 25. Juli ein neuer politischer Verein, der den Namen „Verein für konstitutionelle Monarchie“ annahm.
Der Zweck des Vereins bestand nach seinen Satzungen in folgendem:
– § 1. Der Verein erkennt die konstitutionelle Monarchie, im Anschluß an die allgemeine deutsche Verfassung, als die von ihm zu erstrebende und festzuhaltende besondere Staatsform Preußens an.
– § 2. Der Verein will, auf Gesetz und Recht gegründet, die Rechte der konstitutionellen Monarchie wie die Rechte des Einzelnen wahren, das Bewusstsein der Pflicht entwickeln und das Wohl des Vaterlandes und die Ordnung auf ordnungsmäßigem Wege befördern. Es wird darum ungesetzlichen und ordnungswidrigen Bestrebungen, seien sie reaktionär, anarchisch oder republikanisch, durch Wort und Tat entgegenwirken.
Er hofft dadurch beizutragen, daß der innere Frieden im Vaterlande wiederkehre und das so gesunkene Vertrauen wieder auflebe. Seine Ziele suchte der neue Verein gleichfalls durch öffentliche Versammlungen, die im Saale der „Stadt London“ (dem jetzigen Offizierskasino) abgehalten wurden, zu verwirklichen.

In diesen Versammlungen wurden u. a. folgende Themen besprochen:
– 1. Über das Verhältnis Preußens zu Deutschland und die Stellung des Reichsverwesers zu den einzelnen deutschen Staaten.
– 2. Über das Verhältnis Österreichs zu Deutschland in Beziehung auf seine Besitzungen außerhalb Deutschlands.
– 3. Über Volksbewaffnung.
– 4. Über Gewerbefreiheit.
– 5. Über die Reaktion usw.

Trotzdem die Wogen der Erregung in diesen Versammlungen oft recht hoch gingen, kam es doch erfreulicherweise zu keinerlei Ausschreitungen.
Eine Ausnahme hiervon machte nur eine Volksversammlung, die am 28. Mai in Rothemark tagte, und in welcher ein Vortrag über die Arbeiterverhältnisse gehalten wurde. Die in der sich anschließenden Debatte zutage tretenden Gegensätze erhitzten die Gemüter derart, daß es schließlich zu Tätlichkeiten kam. Es war dies aber – wie bemerkt — ein Ausnahmefall.
Besonders hervorgehoben zu werden verdient, daß das gute Einvernehmen zwischen Bürgerschaft und Garnison keine offensichtliche Störung erlitt, wie dies in anderen Garnison- orten des Kreises, z. B. in Kemberg, der Fall war, wo es zwischen Militär und Bürgerschaft zu unerquicklichen Szenen kam. Wir lassen hier eine Bekanntmachung des politischen Führers der Kemberger Bürger, des Oberlandesgerichts- Assessors Teichmann, folgen, die ein helles Streiflicht auf die dort herrschende Stimmung wirft. Das Schriftstück lautet:

Vor einigen Tagen rückte die Eskadron des dritten Husarenregiments nach einer mehrwöchentlichen Abwesenheit wieder in Kemberg ein. Schon längere Zeit vorher hatte hierselbst eine Bürgerwehr sich gebildet, welche vom besten Geiste durchdrungen ist, und sich überzeugt hat, daß sie allein das beste Mittel, alle etwaigen Unordnungen zu beseitigen. Diese Bürgerwehr wollte auch nach dem Einrücken der Eskadron die Ruhe, welche übrigens wirklich niemals bedroht gewesen, selbst aufrecht erhalten. Deshalb bat der Vorstand der Bürgerwehr den Chef der Eskadron um eine Unterredung, um mit ihm die nötigen Maßregeln zu beraten. Hierbei lehnte derselbe das Ansinnen, die Wache durch Husaren und Mitglieder der Bürgerwehr gemeinschaftlich beziehen zu lassen, ohne weiteres ab. Die Bürgerwehr bezog ein anderes Wachlokal.
Mit Rücksicht auf die späteren Ermittlungen war es auch recht, daß jenes Übereinkommen nicht zustande kam. Denn schon beim Einzuge der Eskadron und später wiederholt sind seitens der Mannschaften Drohungen in mannigfacher Form vernommen worden, die ausgesteckten deutschen Fahnen und Kokarden gewaltsam abreißen zu wollen. Nur der nicht genug zu rühmende Ordnungssinn ließ die hiesigen Einwohner jene Schmähungen verachten. Auch rückte schon am gestrigen Tage die Eskadron, natürlich ohne deutsche Kokarde aus, um in Schleswig-Holstein für die deutsche Freiheit und Einigkeit zu kämpfen.
Schließlich die Bemerkung, daß der Eskadron Chef sich allein für den Geist seiner Mannschaft verantwortlich erklärte. Deshalb fällt jeder Vorwurf gegen dessen Untergebene von selbst weg. Mögen sie geändert wiederkehren. Dann sollen sie willkommen sein.

Kemberg, den 18. April 1848.
Teichmann, O.-L.-G.-Assessor.

Der Herr Assessor scheint sich überhaupt als Herr der Situation gefühlt zu haben, wie aus folgenden an die Adresse der Kreisbehörden gerichteten Ratschlägen hervorgeht. Er veröffentlicht unter dem gleichen Datum nachstehendes Schreiben:

„Gestern abend fand hierselbst eine schon vor mehreren Tagen verabredete allgemeine Versammlung statt. Wie zu erwarten, ging es hierbei mit der Ruhe zu, welche wahrhaft freier Staatsbürger würdig ist. Auch sonst ist die Ruhe niemals bedroht gewesen.
Dies diene zur Würdigung der ausgestreuten Gerüchte über hier ausgebrochene Unruhen, zu deren Dämpfung dem Vernehmen nach bereits Militär in Wittenberg marschfertig gewesen.
Die hiesige Bürgerwehr von beinahe 400 Mann ist stark genug, die Ruhe aufrecht zu erhalten. Möchten doch die Kreisbehörden baldigst von der frühern zu großen Bevormundung der Stadt und Dorfgemeinden sich entwöhnen und entbunden werden, damit sie nicht in den Fall kommen, durch ihre zu zärtliche Fürsorge erst Erbitterung zu schaffen. Diese entstand hier dadurch, daß bereits gestern Abend hier ausgesprengt worden, es werde beabsichtigt, die Versammlung nicht zustande kommen zu lassen, und die Truppen von Wittenberg seien schon im Anmarsch. Auch wäre es sehr rätlich gewesen, die Lauterkeit der Quelle über hier ausgebrochene oder bevorstehende Unruhen näher zu prüfen.
Die nächste Volksversammlung findet am 26. d. Mts. abends 7 Uhr hier statt. Gegenstand der Beratung sind die Wahlgesetze. Auswärtige von Stadt und Land werden hiermit zur Teilnahme eingeladen.

Kemberg, den 18. April 1848.
Der Assessor Teichmann, als Ordner.“

Allerdings musste es sich Teichmann gefallen lassen, daß er später desavouiert wurde. Unter dem 28. Juli erschien eine Bekanntmachung des Landrats von Jagow folgenden Inhalts:

Als die 1. Eskadron des Königl. 3. Husarenregiments im Monat April d. Js. ihre Garnison Kemberg bereits seit mehreren Tagen verlassen, erschien im hiesigen Kreisblatt Nr. 17 ein Inserat des Oberlandesgerichts-Assessors Teichmann daselbst, welches die Gesinnungen und Handlungen des Eskadron Chefs, Rittmeister Flies, und der Eskadron auf verletzende Art anfocht, und wurde die Sache so dargestellt, als ob die Missstimmung des Herrn Teichmann sich auch der verehrlichen Bürgerschaft von Kemberg mitgeteilt habe.

Höhern Orts beauftragt, habe ich ausführliche Erörterungen darüber angestellt, ob sich die feindseligen Gesinnungen des Herrn Teichmann der Bürgerschaft mitgeteilt und ob in jenem Inserate auch ihre Ansichten ausgesprochen seien. Die Erörterungen haben, wie es nicht anders zu erwarten war, ergeben, daß die Bürgerschaft von Kemberg zu jener Zeit mit den Offizieren und Husaren der Eskadron in den freundschaftlichsten Verhältnissen gestanden hat, und daß jenes Inserat der Bürgerschaft selbst mißfällig gewesen ist. Herr Teichmann hat in jenem Inserat also nur seine eigene, keineswegs die Ansicht der Bürgerschaft ausgesprochen.

Dies öffentlich bekannt zu machen,bin ich höheren Orts beauftragt.
Wittenberg, den 28. Juli 1848.
Königl. Landrat des Wittenberger Kreises. von Jagow.

Bereits mehrere Wochen vorher hatte sich der Magistrat von Kemberg veranlasst gesehen, den Herrn Assessor in dieser Angelegenheit zu dementieren. Betrachtet man allerdings vorurteilslos die Vorgänge und spätere Publikationen, so kann man doch nicht die Überzeugung gewinnen, daß Teichmann lediglich nur seine eigene Ansicht zum Ausdruck gebracht habe.

In unserer Nachbarstadt Zahna drohten wiederholt Unruhen auszubrechen, weshalb das dortige Schützenbataillon mehrfach freiwillig zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufmarschierte. Da auch an anderen Orten, namentlich im Kreise Schweinitz, die Ruhe wiederholt gefährdet war, so wurde ein Teil der Landwehr, darunter auch das Herzberger Landwehr-Bataillon, das aus den Wehrmännern der Kreise Wittenberg, Schweinitz und Liebenwerda bestand, in Herzberg zusammengezogen. Die Wehrmänner der beiden letztgenannten Kreise aber erwiesen sich als höchst unzuverlässige Elemente, die, wie es in einer amtlichen Bekanntmachung heißt, „durch eine höchst strafwürdige Emeute die Formation des Bataillons vorläufig vereitelt und dadurch ihre Ehre befleckt.“
Von den Wehrmännern des Wittenberger Kreises dagegen beteiligte sich nicht ein einziger an der Meuterei, wofür ihnen der Landrat von Jagow in einer besonderen Publikation seinen Dank ausspricht, der mit den Worten schließt:
„Der Wittenberger Kreis möge daher mit Stolz auf seine Wehrmänner blicken, die es verstanden, ihren Namen unbefleckt zu erhalten. Ich aber kann nicht umhin, diesen wackern Kameraden für ihre Pflichttreue und ihr patriotisches Verhalten meinen tiefgefühltesten Dank auszusprechen. Mögen sie immer des schönen Wahlspruchs gedenken: Mit Gott für König und Vaterland!“
Zur Unterstützung der Familien der einberufenen Wehrmänner warde seitens des Wittenberger Magistrats eine öffentliche Sammlung veranstaltet, die einen recht erfreulichen Ertrag hatte. Noch eine andere Sammlung wurde hier wie an vielen anderen Orten eröffnet, die geboren war aus der weisen Erkenntnis dessen, was unserem Vaterlande not tat – die Sammlung für eine deutsche Flotte.
In dem diesbezüglichen Aufrufe, dessen Inhalt auch noch für unsere Tage Geltung hat, heißt es:

„Deutschlands Macht nicht nur, der Aufschwung seiner Industrie und seines Handels, sondern auch Deutschlands Ehre und damit seine politische Existenz ist abhängig von einer Flotte. Der Krieg mit Dänemark zeugt so laut dafür, daß es keines weiteren Beweises bedarf. Wem daher daran liegt, daß das einige, freie und mächtige Deutschland nicht eine leere Redensart bleibe, sondern Tat und Wahrheit werde, wer Nationalgefühl hat und Nationalehre zu würdigen weiß, der beeile sich – denn Gefahr liegt im Verzuge – soviel er kann, dazu beizutragen, um seinem von drei Meeren bespülten und zum Wettstreit mit den anderen seefahrenden Nationen aufgeforderten Vaterlande das zu verschaffen, was ihm jetzt gerade an äußeren Mitteln zu seiner Erhaltung und Weiterentwickelung vor allem not tut.“

Die in dem Aufrufe ausgesprochenen Gedanken fanden namentlich auch in der Frauenwelt begeisterte Zustimmung, und auf eine von Potsdam ausgehende Aufforderung hin bildete sich auch in Wittenberg auf Anregung der Frau Superintendent Heubner, Frau Konsistorialrat Schmieder und Frau Professor Lommatzsch am 16. September 1848 ein „Frauenverein zur Erwerbung eines Kriegsschiffes für die deutsche Flotte.“
Zu diesem Zwecke wurden von hiesigen Frauen und Jungfrauen gespendet:
– zwei silberne Armbänder,
– drei silberne Zuckerzangen,
– zwei silberne Sahnelöffel,
– ein goldenes Armband,
– drei Speziestaler
– und etwa 50 Taler Geld.

Aus dem Ertrage der im ganzen Reiche veranstalteten Sammlung wurde bekanntlich ein kleines seetüchtiges Schiff erworben, das den Namen „Frauenlob“ erhielt.

Mittlerweile hatten die durch das Wahlgesetz vom 8. bzw. 11. April 1848 angeordneten ersten Wahlen für die zur Beratung der preußischen Staatsverfassung zu berufende Versammlung in Berlin (Landtag) und für die Nationalversammlung in Frankfurt a. Main (Reichsparlament) stattgefunden.
Für die Stadt Wittenberg, welche nach der im Jahre 1846 vorgenommenen Zählung 10283 Einwohner besaß (9018 Zivilpersonen und 1265 Militärpersonen) wurden 5 Wahlkreise gebildet.
Zu Wahllokalen wurden bestimmt:
– 1. der Saal des Tabagist Heinze,
– 2. der Saal des Cafétier Menner,
– 3. der Garten des Zimmermeisters Hehne vor dem Schloßtore,
– 4. der Saal des Tabagist Vogel und
– 5. der Saal des Tabagist Moritz Sichler.

Die Urwahlen zu beiden Körperschaften fanden in getrennten Wahlgängen am 1. Mai statt. Der Einwohnerzahl entsprechend wurden für jeden Bezirk 2 Wahlmänner, im ganzen also 10, für die Wahl der Abgeordneten zu der konstituierenden Versammlung in Berlin wie zur Nationalversammlung in Frankfurt gewählt. In einer Versammlung der Wahlmänner des Kreises Wittenberg wurden folgende Männer als Kandidaten aufgestellt:
1. für die konstituierende Versammlung in Berlin:
– Bürgermeister Fließbach in Wittenberg,
– Professor Lommatzsch in Wittenberg,
– Landrichter Treff in Kleinwittenberg,
– Ober-Landesgerichtsassessor von Rochow in Pretzsch,
– Ober-Landesgerichtsassessor Teichmann in Kemberg.

2. für die Nationalversammlung in Frankfurt a. M.:
– Hauptmann Deetz in Wittenberg,
– Professor Lommatzsch in Wittenberg,
– Landrichter Treff in Kleinwittenberg,
– Diakonus Fischer in Pretzsch,
– Superintendent Vogt in Zahna,
– Justiz-Kommissar Rostosky in Wittenberg.

Neben den Genannten bewarb sich auch der Geheime Finanzrat Hesse aus Berlin um ein Mandat und ließ zu diesem Zwecke eine gedruckte „Wahlbewerbung“ verbreiten, in welcher er sich bemühte, seine Vorzüge ins hellste Licht zu rücken. Bei der am 10. Mai in Schweinitz von den Wahlmännern vollzogenen Hauptwahl wurden folgende Abgeordnete der Kreise Wittenberg und Schweinitz gewählt:

1. für die konstituierende Versammlung in Berlin:
– Bürgermeister Fließbach in Wittenberg und als
– Stellvertreter Ober-Landesgerichtsassessor von Rochow in Pretzsch;
2. für die Nationalversammlung in Frankfurt a. M.
– Hauptmann Deetz in Wittenberg und als
– Stellvertreter Kammergerichts- Assessor Ribbeck in Herzberg.

Daß es auch damals in unserer Stadt findige Köpfe gab, die es verstanden, aus der allgemeinen patriotischen Begeisterung Kapital zu schlagen, geht aus der vom damaligen Wirt von Rothemark im „Wittenberger Kreisblatt“ erlassenen Einladung hervor, die wir ihres charakteristischen Inhaltes wegen hier folgen lassen:

Großes Volksfest!

Damit auch ich zum Aufschwunge der Zeit beitrage, so beabsichtige ich, am Sonntag den 28. d. M. bei Gelegenheit der hier stattfindenden Volksversammlung die Eröffnung der preußischen und deutschen Nationalversammlung durch ein Volkssest mit Konzert und brillanter Erleuchtung zu feiern. Das Musikchor des Hochlöbl. 32. Infanterie-Regiments wird zur Verherrlichung des Tages auch mehrere Parlaments-Symphonien vortragen. Abends wird im Pavillon a la Charte gespeist und gleichzeitig das direkt aus Nürnberg per Eilfuhre bezogene bayrische Doppel-Lagerbier angezapft.

Rothemark, den 23. Mai 1848.
Löffler.

Welche besonderen Wünsche die Einwohner der Stadt und des Kreises Wittenberg in Bezug auf die zu vereinbarende preußische Staatsverfassung hegten, geht aus nachstehender Zusammenstellung hervor, die dem Abgeordneten, Bürgermeister Fließbach, übermittelt wurde:

– 1. Aufhebung des eximierten Gerichtsstandes.
– 2. Aufhebung der Patrimonial-Gerichte (Herrengerichte) und der Privat-Polizeigewalt.
– 3. Aufhebung des Privatpatronatsrechtes, wenigstens dessen Beschränkung nach Maßgabe der von dem Berechtigten zu gewährenden Vorteile.
– 4. Einführung des Familienrats in Vormundschaftssachen.
– 5. Einführung einer (Land) Gemeindeordnung in Art der Städte ordnung mit größerer Macht zur Selbstverwaltung und eigener Wahl der nötigen Beamten seitens der Gemeinden.
– 6. Vereinfachung des Geschäftsganges in allen Verwaltungs- zweigen und dabei Verminderung des Beamtenheeres und dessen hoher Besoldung.
– 7. Erhebung der Volksschule zur Staatsanstalt.
– 8. Herstellung einer gleichen direkten Besteuerung, sowohl durch Heranziehung der bisher Nichtbesteuerten, als durch Einführung einer wahren Einkommensteuer.
– 9. Erhöhung der Einfuhrsteuer für alle Luxusgegenstände und Ermäßigung der Stempelsteuer sowie der Gerichts- und Separationskosten.
– 10. Aufhebung der Lehngelder und überhaupt des Lehns-Nexus resp. Allodifikation (Verwandlung von Lehngütern in Eigengüter) nach billigeren als den bisherigen Sätzen.
– 11. Aufhebung des Jagdrechts auf fremden Grundstücken.
– 12. Aufhebung der Frohndienste resp. der bisher zumteil dafür gewährten Rente nach billigeren als den bisherigen Sätzen.
– 13. Aufhebung der Hutungsgerechtigkeit nach billigeren als den bisherigen Ablösungsgrundsätzen.
– 14. Ablösung aller sonstigen Natural-Leistungen nach geringerem als dem bisherigen Maßstabe.
– 15. Wiedergewährung der benötigten Streu und des Raff- und Leseholzes ohne Entgelt, sowie Verabreichung des sonstigen Holzbedarfes nach der Taxe, unter Wegfall der Lizitationen, aus fiskalischen Forsten.
– 16. Wiederanlegung größerer Forsten und Abschaffung der hohen Deputate sowie der (hohen) Geldstrafen für den Forstdiebstahl.
– 17. Verkauf oder Verpachtung der Domänen sowie der Kirchen-, Pfarr- und Schulgrundstücke in kleineren Parzellen durch öffentliche Lizitationen und resp. deren teilweise Benutzung zu wahren Musterwirtschaften und neu anzulegenden Obstplantagen.
– 18. Fixierung der Geistlichen und Schullehrer für alle ihre Amtshandlungen auf einen bestimmten Geldgehalt unter Wegfall der bisherigen Ackerwirtschaft und Natural-Lieferungen.
– 19. Beschränkung bei der Dismembration (Teilung) der Privatgüter insoweit, daß das Stammgut noch zur Abführung aller Staats- und Kommunallasten völlig fähig bleiben muß.
– 20. Feststellung der Beitragspflicht der Gemeinden mit Nebenkirchen und Nebenschulen in der Weise, daß solche Gemeinden zu den Hauptkirchen und Hauptschulen nichts beizutragen haben und umgekehrt die Hauptgemeinden nichts zu den Nebenkirchen und Nebenschulen.
– 21. Feststellung aller Kommunalabgaben nach dem Werte des Grundbesitzes mit Ausnahme derer, die durch vorhandene Baulichkeiten bedingt werden, wo die Feuerkassen-Versicherungssumme als Maßstab dienen muß.
– 22. Einführung einer neuen Wegebau-Ordnung, namentlich unter Wegfall des bisher noch benutzten sächsischen Straßenbau-Mandats.
– 23. Regulierung der Abdecker-Gerechtigkeit unter Wegfall der bisher den Abdeckern zu gewährenden Entschädigung.

Betrachtet man die vorstehenden in schwülstigem Juristenstil abgefassten Wünsche (sie wurden von dem Oberlandesgerichts-Assessor von Rochow formuliert), so muss man bekennen, daß viele von ihnen noch heute der Erfüllung harren.

Die in Berlin zusammengetretene Versammlung rechtfertigte indessen nicht die auf sie gesetzten Erwartungen. Sie erging sich in scharfen, uferlosen Debatten, bei denen die Gegensätze heftig aufeinander brannten, ohne positive Arbeit zu leisten.
Der „Verein für konstitutionelle Monarchie“ in Wittenberg fühlte sich daher veranlasst, der konstituierenden Versammlung in einer nach Berlin gesandten Adresse seine Missbilligung auszudrücken, in der die bezeichnende Stelle sich befindet:

„Seit 4 Monaten ist die hohe Versammlung vereinigt, und das Volk hat vergeblich der verheißenen und ersehnten Verfassung geharrt. Soll die Tüchtigkeit der hohen Versammlung an ihren Früchten erkannt werden, so müssen wir bekennen, daß wir mit vielen unserer Brüder nach diesen Früchten vergeblich geforscht haben. Für den Zweck, zu welchem die hohe Versammlung allein berufen und mit dem Vertrauen des Volkes beehrt worden, ist noch wenig geschehen, ja, dieselbe hat ihr Mandat überschritten und sich Rechte angeeignet, die ihr nicht zustehen, und dies namentlich durch die Annahme des Steinschen Antrags bewiesen, wodurch sie eine Gewissenstyrannei ausgeübt hat, wie kaum in den finstersten Zeiten des Mittelalters vorgekommen ist.“

Während so die Wittenberger ihrer Missstimmung über die erfolglosen und unerquicklichen Verhandlungen in Berlin in unverhohlener Weise Ausdruck geben, erklärten sie sich in Gemeinschaft mit der Mehrheit der Wähler der Kreise Wittenberg und Schweinitz mit der Tätigkeit ihres Abgeordneten in der Nationalversammlung, Major Deetz, einverstanden und gaben dem in einer an diesen gerichteten Dankadresse Ausdruck.

Unbekümmert um die im Lande wachsende Missstimmung fuhr die konstituierende Versammlung in Berlin in ihren unfruchtbaren Redekämpfen fort, ohne zu einem ersprießlichen Resultate zu kommen.
An die Stelle des Ministeriums von Pfuel trat das Ministerium von Brandenburg. Nachdem schon früher einzelne Abgeordnete wegen ihrer Abstimmung in der Versammlung von unzufriedenen Volkshaufen tätlich angegriffen worden waren, belagerte am 31. Oktober eine aufgeregte Menge den Sitzungssaal der Versammlung und versuchte, unter Demonstrationen für die Republik die Abgeordneten durch Drohungen einzuschüchtern.
König Friedrich Wilhelm IV. sah sich daher veranlasst, die Versammlung vom 8. bis zum 27. November zu vertagen und sie von Berlin nach Brandenburg zu verlegen. Unter denen, die dieser Ordnung Folge leisteten, befand sich auch der Abgeordnete unseres Wahlkreises, Bürgermeister Fließbach.
In einer ausführlichen Erklärung gab die Mehrzahl seiner Wähler ihr Einverständnis mit diesem Schritte zu erkennen.
Nur die Kemberger unter Führung des schon genannten Oberlandesgerichts-Assessors Teichmann waren abwiegender Meinung und fühlten sich veranlasste, dies durch ein dem Abgeordneten Fließbach übersandtes Misstrauensvotum auszudrücken.
Unter Missachtung der königlichen Botschaft blieb ein Teil der Abgeordneten unter Führung des bisherigen Präsidenten von Unruh in Berlin versammelt, sodass gleichzeitig zwei Versammlungen tagten, von denen weder die in Brandenburg noch die in Berlin beschlussfähig war.
Zu der letzteren begab sich plötzlich der als Stellvertreter für Fließbach gewählte Oberlandesgerichts-Assessor von Rochow aus Pretzsch, ohne hierzu eine Verpflichtung oder einen bindenden Auftrag zu haben.
Aufgestachelt durch Unzufriedene schien er danach Verlangen zu tragen, auch einmal eine politische Rolle zu spielen. Die Mehrzahl der Wähler, die nach wie vor nur Fließbach als ihren Deputierten anerkannten, waren jedoch mit diesem eigenmächtigen Schritte Rochows nicht einverstanden und gaben ihm dies in einem Protest mit scharfen Worten unzweideutig zu verstehen.
Die zerfahrene Situation jener Tage beleuchtete sehr treffend ein in jener Zeit veröffentlichtes Gedicht, betitelt
„Die neue Verfassung“. Es heißt dort u. a.:

Im Versammlungslokale wird viel debattiert,
Gezankt, gestritten, gesaget;
Zuweilen auch tüchtig interpelliert,
Dann wieder die Sitzung vertaget.
Herr meines Lebens, wo will das hinaus?
Die Sache wird farbig und edig und kraus.
Es steiget von Tage zu Tage
Im Lande die Not und die Klage.
Ein Ministerium um das andere tritt ab,
Die Versammlung zerfällt in Parteien,
Sie wird in sich uneins, sie gräbt sich ihr Grab,
Aus Reden wird Toben und Schreien.
Die Linke will’s Linke, die Rechte will’s Recht‘,
Und wer nicht zur Linken gehört, heißt ein Knecht,
Heißt Reaktionär und dergleichen;
Drum spricht er für’s Recht nur durch – Schweigen.

Da es trotz aller Bemühungen nicht gelang, die sich bekämpfenden Parteien der konstituierenden Versammlung zur Lösung der ihr gestellten Aufgabe zu vereinigen, so löste der König unter dem 5. Dezember 1848 die Versammlung auf.
Im Anschluß daran wurde die von der Krone gegebene Verfassung veröffentlicht.
Der hiesige „Verein für konstitutionelle Monarchie“ drückte dem König hierfür durch eine Adresse seinen Dank und sein Vertrauen aus.

Durch Gesetz vom 6. Dezember wurden die Urwahlen für die durch die Verfassung geschaffene II. Kammer auf den 22. Januar 1849 und die für die I. Kammer auf den 29. Januar 1849 angeordnet. Für die Urwahlen zur II. Kammer wurde unsere Stadt wiederum in 5 Wahlkreise eingeteilt. In diesen wurden gewählt:
– im 1. Wahlbezirk 8,
– im 2. Wahlbezirk 9,
– im 3. Wahlbezirk 10
– im 4. Wahlbezirk 8
–  im 5. Wahlbezirk, der die Vorstädte umfasste, 6 Wahlmänner, zusammen also auf 10283 Einwohner 41 Wahlmänner.
Für die Urwahlen zur I. Kammer war die Stadt in zwei Wahlbezirke eingeteilt, von denen auf den ersten 201 und auf den zweiten 101 Urwähler kamen.
Zu wählen waren im 1. Wahlbezirke 2 und im 2. Wahlbezirke 1 Wahlmann. Wie rege die Wahlagitation betrieben wurde, geht aus den zahlreichen Aufrufen und öffentlichen Bekanntmachungen jener Tage hervor.
Daß sich einzelne Personen selbst zu Kandidaten ernennen und sich mit einer diesbezüglichen öffentlichen Proklamation an die Wähler wenden, darf bei den damaligen politischen Verhältnissen uns nicht wundern. Seltsam aber mutet es uns an, wenn sich der Premierleutnant und Kompanieführer von Ziegler und Klipphausen durch Zeitungsinserat sogar zum Wahlmann empfiehlt.
Als Wahlmänner für die Wahl der Abgeordneten zur 1. Kammer wurden gewählt aus der Stadt Wittenberg:
– Professor Lommatzsch,
– Senator und Apotheker Richter und Justizkommissar Rostosky;
aus dem Kreise Wittenberg:
– Gastwirt Richter in Kemberg,
– Ortsrichter Krüger zu Dorna,
– Ortsrichter Griehl zu Bösewig,
– Ortsrichter Sperfeld zu Bülzig,
– Ortsrichter Bölke zu Straach und
– Rektor Kühne zu Schmiedeberg.
Die Wahl der Abgeordneten zur 2. Kammer fand am 5. Februar 1849 in Dommitzsch statt.
Gewählt wurde der
– Kammergerichts-Assessor Gustav Eberty aus Wittenberg
– und der Justiz-Kommissar Moritz aus Torgau.

Zahlreiche Wähler aber waren mit dieser Wahl, die nur infolge großer Zersplitterung der Stimmen zustande kam, nicht zufrieden und gaben ihre Missstimmung in zahlreichen teilweise recht erregten Erklärungen und Angriffen Ausdruck, die sich insbesondere gegen den Kammergerichts-Assessor Eberty und seine Tätigkeit als Abgeordneter richteten.
Mittlerweile hatte sich am 29. April in Wittenberg unter der Leitung Friedrich Sichlers und in Kemberg unter Leitung des Oberlandesgerichts – Assessors Teichmann ein neuer politischer Verein unter dem Namen
„Verein zur Wahrung der Volksrechte“ gebildet, der für den heftig befehdeten Abgeordneten eintrat. Die Satzungen des neuen Vereins bezeichneten als seinen Zweck „mit gemeinsamer vereinter Kraft die Freiheit des Volks und seine Rechte auf gesetzlichem Wege zu schirmen und zu erhalten. auch allem reaktionären und anarchistischem Treiben entgegenzutreten.“
Die neu gewählte Versammlung der Abgeordneten, die am 23. Februar in Berlin eröffnet wurde, war nur von kurzem Bestande. Da sie sich mit der Regierung nicht über die von dieser vorgeschlagene Verfassung einigen konnte, so wurde sie am 26. April abermals aufgelöst.
Die Urwahlen zu der dritten Versammlung fanden in Wittenberg am 17. Juli unter den gleichen Bedingungen wie bei der 2. Wahl statt.
Die Wahl der Abgeordneten zur 2. Kammer geschah am 27. Juli in Schweinitz. Gewählt wurde diesmal der Landrat des Wittenberger Kreises von Kleist.
Die neu gewählte Versammlung trat am 7. August in Berlin zusammen, um die von der Krone dargebotene (oktroyierte (aufgezwungene)) Verfassung zu beraten.
Durch Entgegenkommen von beiden Seiten wurde endlich die Verfassung glücklich vereinbart und im Januar 1850 vom König feierlich beschworen.
Damit trat auch in unserer Stadt nach langer Zeit, in der die Wogen der Leidenschaft und der Erregung zuweilen recht hoch gingen, wieder die erwünschte Ruhe ein. –

An dieser Stelle müssen wir zurückgreifen, um einiger nicht politscher Ereignisse zu gedenken, die viel vermerkt wurden.

Am 17. September 1848 stieg in Wittenberg und zwar auf dem Exerzierplatze vor dem Schloßtore der erste bemannte Luftballon auf. Der Ballon gehörte einem reisenden Luftschiffer namens Erfurth und war inkl. der Gondel 80 Fuß hoch bei einem Umfange von 153 Fuß und einem Inhalte von 50 000 Kubikfuß erwärmter Luft. Die Ballonhülle bestand aus 2000 Ellen Zeug von 1¾ Elle Breite.
Beim Aufsteigen des Ballons ereignete sich leider ein beklagenswerter Unfall dadurch, daß durch das Herabfallen einer gebrochenen Holzstange einem Schneidergesellen das Auge ausgeschlagen wurde.
Am 21. September 1848 und die folgenden Tage fand in unserer Schlosskirche eine aus allen Teilen Deutschlands beschickte kirchliche Versammlung statt, die über die Verhältnisse der evangelischen Kirche in jener Zeit, über einen Zusammenschluss der Evangelischen zu einem Kirchenbunde und über eine alljährlich tagende allgemeine evangelische Kirchenversammlung beschließen sollte.
Am 11. und 12. September des folgenden Jahres hielt der neu gegründete deutsche evangelische Kirchenbund an der gleichen Stelle seine zweite Versammlung ab.
Im Anschluß an diese tagte am gleichen Orte vom 13. bis 15. September der Kongress für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche.
In der allgemeinen Versammlung hielt Wichern sein berühmtes Referat über die Frage:
„Wie ist die innere Mission als Gemeindesache zu behandeln?“ Es ist bekannt, welchen Beifall seine Ausführungen fanden, und welchen nachhaltigen Eindruck sie machten, der seinen Ausdruck in der Gründung eines Vereins für innere Mission fand.
Noch eine andere bemerkenswerte Vereinsgründung brachte das Jahr 1849: die am 26. März erfolgte Konstituierung eines „Wittenberger Bauernvereins“, der aber nicht, wie man aus seinem Namen schließen könnte, die Förderung von Berufsinteressen bezweckte, sondern der – wie aus seinen Satzungen hervorgeht – politische Ziele verfolgte und seine Hauptaufgabe in der Pflege der Liebe und Treue zum König und zum Vaterlande erblickte.
Unter den Gründern befanden sich
– Landrat von Jagow aus Wachsdorf,
– Amtsrat Lucke aus Bleesern,
– Major Müller aus Wittenberg,
– Pastor Thümmel aus Eutzsch u. a.

Die erste Versammlung fand im „Freischütz“ zu Pratau statt.

In Wittenberg wurde, wie in anderen Städten auch, für eingeführtes Mehl und für Fleischwaren eine Steuer, die sogenannte Mahl- und Schlachtsteuer, erhoben. Zu diesem Zwecke war an den Toren der Stadt eine besondere Kontrolle errichtet. Zur größeren Sicherung derselben wurden am 1. Januar 1831 auf Veranlassung der Regierung besondere Torbeamte angestellt. Die mannigfachen Scherereien, welche diese Einrichtung mit sich brachte, ließen den Wunsch, diese unbequeme Steuer abzuschaffen und durch eine andere, zweckdienlichere zu ersetzen. immer dringender werden.
Am 17. April 1848 beschloss daher die Stadtverordneten-versammlung in öffentlicher Sitzung die Aufhebung der Mahlsteuer und ihren Ersatz durch eine direkte Steuer. Da die Ausführung dieses Beschlusses jedoch auf große Schwierigkeiten stieß, so beschränkte die Stadtverordnetenversammlung am 23. Mai ihren obigen Beschluß auf die Aufhebung der Steuer für Roggenmehl und zwar hauptsächlich deshalb, um den ärmeren Einwohnern bei den steigenden Preisen eine Erleichterung zu gewähren.
Am 18. August dehnte die Versammlung den Beschluß vom 17. April auch auf die vollständige Aufhebung der Schlachtsteuer aus. Die von dem Königlichen Provinzial-Steuerdirektor auf Veranlassung der städtischen Behörden angestellten Berechnungen über den durchschnittlichen Jahresertrag jener Steuern ergaben, daß die von der Stadt mittels einer anderen Steuer aufzubringende Abfindungssumme inkl. des nötig werdenden Kommunalsteuer-Zuschlags die beträchtliche Summe von 17 083 Taler betrug.

Nach eingehender Beratung beschloß daher die Stadtverordnetenversammlung am 19. September unter Hinweis auf die entgegenstehenden Schwierigkeiten und namentlich mit Rücksicht auf die vom Finanzministerium in Aussicht gestellte Einführung einer direkten Einkommensteuer für den Umfang des ganzen preußischen Staates, von der Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer bis auf weiteres abzusehen. Sollte die vom Finanzministerium verheißene direkte Einkommensteuer mit Anfang des Jahres 1849 noch nicht in Kraft getreten sein, so sollte die Mahl- und Schlachtsteuer definitiv aufgehoben werden. Die ungünstige Finanzlage der Stadt gestattete aber auch dann noch nicht die Ausführung dieses Beschlusses, und die viel angefochtene Steuer blieb noch 26 Jahre lang bestehen, bis sie endlich am 1. Januar 1875 endgültig aufgehoben und durch eine Klassen- und Kommunalsteuer ersetzt wurde, die bei einem Einkommen von 303 M. bis 420 M. mit dem Steuersatz von 1 M. 20 Pf. begann. Der berechnete jährliche Durchschnittsbetrag der Steuer betrug bei der Aufhebung 60 000 M., wovon zwei Drittel = 40 000 M. als Abfindung an den Staat zu zahlen waren, während der Anteil der Stadt ein Drittel 20 000 M. betrug.
Nach zutragen ist noch, daß sich im Jahre 1848 die Bürger- Grenadierkompagnie auflöste, so daß hinfort nur noch die Schützenkompagnie bestand.

Im Jahre 1851 erhielt unsere Stadt in der Person Steinbachs einen neuen Bürgermeister. Am 3. September traf dieser von Jüterbog kommend, auf dem hiesigen Bahnhofe ein. Die Schützengesellschaft, die an diesem Tage ihr Abschießen in Kleinwittenberg hielt, entsandte zu seiner Begrüßung eine Deputation, welche das neue Stadtoberhaupt zu Wagen nach Kleinwittenberg geleitete, wo es von der Schützenkompagnie in Parade-Aufstellung empfangen wurde.
Die Einführung Steinbachs in sein Amt fand am 10. September statt.

Im Jahre 1852 hatte Wittenberg hohen Besuch. Am Abend des 1. Pfingsttages (30. Mai) um 11½ Uhr traf König Friedrich Wilhelm IV. auf der Rückreise von Naumburg hier ein und nahm in der Kommandantur Wohnung.
Am nächsten Morgen früh 8 Uhr begab er sich zu Fuß nach der Stadtkirche, um die Predigt des von ihm hochgeschätzten
„Vater Heubner“ zu hören. Als Beitrag für den Klingelbeutel schenkte er 100 Taler, wovon Observanz mäßig die eine Hälfte zur Kirchenkasse und die andere Hälfte zur Armenkasse floss. Auf Beschluß der Armenkommission wurde der Anteil der letzteren Kasse als Pfingstlegat kapitalisiert, dessen Zinsen bestimmungsgemäß alljährlich zu Pfingsten an zwei Arme verteilt werden sollten.
Am 10. September 1853 weilte Friedrich Wilhelm IV. abermals in unserer Stadt.

Mit dem 16. Dezember 1853 wurde die neue Städteordnung vom 30. Mai 1853 hier eingeführt, und es fand die erste Sitzung der nach deren Bestimmungen gewählten Stadtverordneten statt. Im gleichen Jahre begann man mit einer teilweisen Besserung unserer Straßen, deren Zustand allerdings dringend Abhilfe verlangte.
Bekanntlich wird unsere innere Stadt von zwei Bächen durchflossen dem rischen Bache und dem faulen Bache. Diese waren früher offen, und ein Passieren der Straßen zur Nachtzeit war damals bei der äußerst primitiven Straßenbeleuchtung nicht ohne Gefahr. Gar mancher Unvorsichtige nahm in den Bächen ein unfreiwilliges kaltes Bad.
Die Handlaternen waren deshalb eine ebenso bekannte als notwendige Erscheinung im nächtlichen Straßenbilde unserer Stadt. Um den durch diese Zustände bedingten Unzuträglichkeiten abzuhelfen, ging man endlich daran, die Bäche zu überdecken. Bei der ungünstigen Finanzlage Wittenbergs konnten aber diese Arbeiten nur langsam und nur stückweise vorgenommen werden.

Im Jahre 1853 wurde zunächst der rische Bach in der Jüdenstraße mit Sandsteinplatten überdeckt und diese Straße gleichzeitig umgepflastert. Beides verursachte einen Kostenaufwand von 3 445 Talern.
Sieben Jahre später, im Jahre 1860, erhielt der faule Bach in der Mittelstraße und der rische Bach in der sogenannten Fleischergasse die gleiche Bedeckung, was eine Ausgabe von 7 700 Talern erforderte.
Im Jahre 1864 erhielt die Nordseite der Collegienstraße Trottoir, während gleichzeitig der faule Bach am Marktplatze reguliert wurde. Die Ausgaben betrugen 3 395 Taler.
Noch später, im Jahre 1872, bekam die Südseite der Collegienstraße Trottoir, während der Marktplatz und die Nordseite der Schloßstraße dieses erst im Jahre 1873 erhielten.

Die Lebensmittelpreise hatten im Jahre 1854 wieder eine beträchliche Höhe erreicht, so daß in den ärmeren Familien der Stadt vielfach große Not herrschte. Um dieser zu begegnen, wurde wieder, wie im Jahre 1846, im Armenhause eine Speiseanstalt eingerichtet, die am 8. Januar eröffnet wurde und bis zum 2. Juni bestand.
In dieser wurde täglich von 11½ bis 12½ Uhr an die ärmeren Einwohner warmes kräftiges Mittagessen zum Preise von 6 Pfennigen pro Quart verabreicht. Da die Teuerung auch noch in den folgenden Jahren anhielt, so wurde die Speiseanstalt am 3. Januar 1855 wieder eröffnet und bis zum 30. April offen gehalten.
Am 15. Dezember wurde sie abermals eröffnet und blieb bis zum 19. April des Jahres 1856 offen.
Der andauernde Notstand veranlaßte die städtische Behörde, an unbemittelte Gewerbetreibende, verheiratete Gesellen und Arbeiter, die nicht aus Armenfonds unterstützt wurden, Mehl zu einem billigen Preise in Quantitäten von 1/8 Zentner abzugeben.
Im ganzen wurden an 424 Familien 251 Zentner Mehl gegeben, was einen Zuschuss von 268 Taler erforderte.

Nachzutragen ist noch folgendes:
Im Juli 1854 erwarb die Stadt von dem Verschönerungsvereine, der sich wegen mangelnder Unterstützung aufgelöst hatte, den so genannten Kreisgarten.

Am 9. Juni 1855 erfolgte die Gründung eines landwirtschaftlichen Vereins für den Kreis Wittenberg, der sich im Gegensatz zu dem 1849 gegründeten Bauernvereine lediglich die Förderung von Berufsinteressen zur Aufgabe stellte. Die Gründung erfolgte in erster Linie auf Anregung des Dekonomierats Strien. Die konstituierende Versammlung fand im „Freischütz“ zu Pratau statt.
Die Mitgliederzahl, welche anfangs nur 7 betrug, stieg im Laufe des Jahres schon auf 110 Personen.
Am 4. Juni 1905 feierte der Verein in den Sälen der „Reichspost“ in Gegenwart des Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, Dr. von Bötticher, sein fünfzigjähriges Jubiläum.

Am 16 August 1855 fand auf dem links der Dresdenerstraße gelegenen Friedhofe eine bemerkenswerte Gedächtnisfeier statt.
An diesem Tage versammelten sich die Kinder der Armenschule am Grabe des Postmeisters Zimmermann, dessen Denkmal restauriert und mit einem eisernen Gitter versehen worden war. Zimmermann ist der Begründer der nach ihm benannten und noch heute in großem Segen wirkenden Zimmermann’schen Stiftung, deren Zinsen zur Unterstützung armer Kinder verwandt werden. Er war in zweiter Ehe verheiratet. Aus Habsucht vergiftete die zweite Frau die sieben Kinder ihres Mannes aus erster Ehe und wurde zur Sühne für dieses entsetzliche Verbrechen vor dem Rathause am 26. Oktober 1728 hingerichtet, nachdem ihr vorher die rechte Hand abgehauen war, die noch heute als Sehenswürdigkeit im städtischen Archiv aufbewahrt wird.
Der unglückliche, schwer geprüfte Mann vermachte sein gesamtes Vermögen zu dem angegebenen Zwecke der Stadt. Die Zinsen der Zimmermann’schen Stiftung erreichten im Jahre 1909 die Höhe von 7556 M. 52 Pf.

Am 25. August 1856 geschah die Gründung des hiesigen Gustav-Adolf-Zweigvereins, und am 1. Oktober desselben Jahres wurde das Knaben-Rettungshaus im Hause Mittelstraße 167 eröffnet, das der Justizrat Glöckner der Anstalt überwiesen hatte. Da das Haus bei der wachsenden Zahl der Zöglinge nicht mehr ausreichte, so erwarb Justizrat Glöckner im Jahre 1874 ein in der Fleischergasse (der jetzigen Poststraße) gelegenes größeres Grundstück und schenkte es der Anstalt.
Die Grundsteinlegung zu dem neuen Knaben-Rettungshause geschah am 31. Juli 1874 in Gegenwart des Kgl. Landrats von Koseritz, der Geistlichkeit, den Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung.
Glöckner, der mittlerweile nach Dresden verzogen war, wurde im November desselben Jahres zusammen mit einem andern Wohltäter der Stadt, dem Rentier Gast, zum Ehrenbürger Wittenbergs ernannt.

Der 1. Januar 1857 war ein großer Festtag für die hiesige katholische Gemeinde. An diesem Tage wurde die in der Bürgermeisterstraße neuerbaute katholische Kirche feierlich eingeweiht, in der nun fortan der Gottesdienst der hiesigen katholischen Gemeinde abgehalten wurde. Diese hat sich aus kleinen Anfängen entwickelt. Die erste Einrichtung katholischen Gottesdienstes in Wittenberg ist der Hochherzigkeit König Friedrich Wilhelms III. zu verdanken, der in den dreißiger Jahren durch den katholischen Militärpfarrer aus Berlin für die katholischen Militär- und Zivilpersonen Wittenbergs periodisch Gottesdienste abhalten ließ, zu denen bereitwilligst die Stadtkirche zur Verfügung gestellt wurde.
Als später die Zahl der Katholiken erheblich wuchs, wurde durch Verfügung des Bischofs von Paderborn vom 10. Dezember 1858 in Wittenberg eine Seelsorgerstelle errichtet, die am 1. Oktober 1909 in eine selbständige Pfarrstelle umgewandelt wurde.

Aus Anlass der Hochzeit des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen (des nachmaligen Kaisers Friedrich) mit der Prinzessin Viktoria von Großbritannien und Irland wurde hier am 25. Januar 1858 die Viktoria-Stiftung mit einem Kapitale von 500 Talern ins Leben gerufen, dessen Zinsen alljährlich einer unbescholtenen Bürgerstochter als Heirats-Ausstattung zukommen sollten.
Am 20. April 1858 – dem 300 jährigen Todestage von Luthers Mitarbeiter D. Johannes Bugenhagen – wurde an dessen Wohnhause, der Superintendentur, eine Gedenktafel angebracht mit der Inschrift:

„Hier wohnte, wirkte und starb D. Johannes Bugenhagen, Generalsuperintendent des Kurkreises, geb. zu Wollin in Pommern, den 24. Juni 1485, gestorben in Wittenberg,
den 20. April 1558. Hebräer 13, 7.“

Wie bereits bemerkt, war die Tür der Schlosskirche, an welche Luther am 31. Oktober 1517 die 95 Sätze anschlug. bei der Beschießung Wittenbergs am 13. Oktober 1760 mit verbrannt. Als Ersatz schenkte König Friedrich Wilhelm IV. eine Erztür, in welche die Thesen eingelassen waren.
Die beiden Bronzeflügel waren von Friebel entworfen, während die auf den Kapitälen der Säulen stehenden musizierenden 9 Chorknaben ein Werk Drakes sind.
Am 10. November 1858 fand die feierliche Einweihung der Tür statt. Der Festtag wurde früh 7 Uhr mit dem vom hiesigen Stadtmusikkorps vom Turme der Pfarrkirche geblasenen Chorale „Eine feste Burg ist unser Gott“ eingeleitet.
Um 10 Uhr bewegte sich von der Stadtkirche aus ein Festzug über den Marktplatz nach dem Schlossplätze und nahm der Thesentür gegenüber Aufstellung, worauf der Direktor des Kgl. Predigerseminars, Superintendent Dr. Sander, die Weiherede hielt. Die Festpredigt in der Schlosskirche wurde von Konsistorialrat D. Schmieder gehalten. Nachmittag 5 Uhr fand in der Stadtkirche ein geistliches Konzert durch den Kgl. Domchor aus Berlin statt, und am Abend beschloss eine vor dem Lutherdenkmal auf dem Marktplatze abgehaltene Feier das Fest.

Im gleichen Jahre wurde mit dem Bau des neuen vor das Elstertor verlegten Bahnhofes begonnen. Bereits im Jahre vorher – 1857 – war der Bau der Eisenbahnbrücke über den Elbstrom in Angriff genommen, der bis zum Jahre 1859 vollendet wurde.
Die Eröffnung der neuen Eisenbahnlinie Berlin-Halle erfolgte im Jahre 1859.

Infolge der drohenden Kriegsgefahr wurde am 14. Juni desselben Jahres die Mobilisierung von 6 Armeekorps, u. a. auch des vierten, zu dem die Wittenberger Garnison gehörte, angeordnet. Infolge dieser Mobilmachung wurde ein Zuschlag von 25 Prozent zur klassifizierten Einkommensteuer, zur Klassensteuer, sowie zur Mahl und Schlachtsteuer erhoben.
Am 25. Juli erfolgte die Demobilisierung der Truppen.

Der 100jährige Geburtstag Schillers am 10. November 1859 wurde auch hier wie in ganz Deutschland festlich begangen, ua. fand am Abend im Saale der „Stadt London“ eine öffentliche Feier statt, bei der neben musikalischen Darbietungen Schillers, „Braut von Messina“ von den Primanern des Gymnasiums mit verteilten Rollen gelesen wurde.

Im gleichen Jahre wurde der Ausladeplatz vor dem Elstertore mit einem Kostenaufwande von 2 240 Talern eingerichtet und bei dem großen Anger acht neue Buhnen mit einem Kostenbetrage von 2 250 Talern erbaut.

Zu Anfang des Jahres 1860 betrug die Einwohnerzahl unserer Stadt über 10 000.
Entsprechend § 12 der Städteordnung wurde daher vom Januar ab die Zahl der Magistratsmitglieder auf 7 (inkl. dem Bürgermeister) und die Zahl der Stadtverordneten von 18 auf 24 erhöht.
Beide städtischen Behörden beschlossen im Januar, daß zu Ehren Luthers und Melanchthons künftig am Geburtstage der beiden Reformatoren – 10. November und 16. Februar – morgens 7 Uhr vom Turme der Pfarrkirche der Choral „Ein feste Burg“ geblasen werden solle.
Am 1. Februar wurde im hiesigen Postgebäude die erste Telegraphenstation in Betrieb gesetzt.

Der 19. April 1860 war wieder ein großer Festtag für unsere Lutherstadt. An diesem Tage fand in Gegenwart des Prinzregenten (des nachmaligen Kaiser Wilhelms I.) die feierliche Grundsteinlegung zum Melanchthondenkmale auf dem Marktplatze statt. Bereits tags zuvor fand um 4 Uhr ein Festakt des Gymnasiums in der Aula des Lutherhauses statt. Diesem folgte um 61/2 Uhr ein Gottesdienst in der Schlosskirche, bei dem Konsistorialrat D. Schmieder predigte. Den Hauptfesttag leitete früh 6 Uhr Choralblasen von den Türmen der Pfarrkirche ein.
Bei dem 9½ Uhr in der Pfarrkirche abgehaltenen Gottesdienste hielt Generalsuperintendent D. Lehnerdt die Festpredigt.
Um 11½ Uhr bewegte sich vom Lutherhause aus unter dem Geläute sämtlicher Glocken ein imposanter Festzug nach dem Marktplatze. Diesen eröffneten die Schüler der Bürgerschule und des Gymnasiums, dann folgten die Mitglieder des Predigerseminars, die Geistlichkeit, die höheren Staatsbeamten, die vom Denkmalskomitee geleiteten Deputationen, das Offizierkorps, die städtischen Behörden und Beamten, die Lehrer, der Gemeinde-Kirchenrat und die Bürgerschaft.
Nach der von Oberkonsistorialrat D. Nitzsch gehaltenen Weiherede wurde die Grundsteinlegung vollzogen, wobei der Prinzregent im Auftrage seines Bruders König Friedrich Wilhelms IV. die ersten drei Hammerschläge tat.
Nachmittags 4 Uhr erfolgte in der Schlosskirche eine geistliche Musikaufführung. Abends 6½Uhr, der Sterbestunde Melanchthons, fand in der Schlosskirche eine Gedächtnisfeier mit Ansprache und Gesang statt.
Als Nachfeier fand am 20. April vormittags 9 Uhr ein Schüler-Gottesdienst in der Stadtkirche statt, zu welchem diese unter Glockengeläut über den Marktplatz nach der Kirche geführt wurden, in welcher der Superintendentur-Vikar Archidiakones M. Seelfisch predigte.
In den Grundstein des Melanchthondenkmals waren am 19. April gelegt worden:

a) von Seiten des Denkmalkomitees:
– 1. eine Urkunde auf Pergament geschrieben, welche eine Übersicht über die Vorgeschichte des Denkmalbaues enthielt und von allen Mitgliedern des Komitees unterzeichnet war,
– 2. mehrere darauf bezügliche Drucksachen und Schriften,
– 3. eine lithographische Ansicht der Stadt Wittenberg von der Elbseite aus und zwei photographische Aufnahmen des Marktplatzes,
– 4. verschiedene Münzen vom Jahre 1860;

b) von Seiten der Stadt wurden beigefügt:
– 1. eine in eine kupferne Kapsel gelegte Urkunde, die von sämtlichen Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung unterschrieben war,
– 2. der Verwaltungsbericht der Stadt Wittenberg vom Jahre 1858,
– 3. die Nr. 15 des „Wittenberger Kreisblattes“ vom Jahre 1860,
– 4. eine bronzene Luther-Medaille aus dem Jahre 1846 und
– 5. eine silberne Denkmünze vom Amtsjubiläum des Generalsuperintendenten D. Nitzsch vom Jahre 1831.

Gelegentlich der Grundsteinlegung wurde dem Bürgermeister Steinbach die goldene Amtskette verliehen, welche ihm am 19. November desselben Jahres in einer Festsitzung der beiden städtischen Behörden feierlich überreicht wurde.
In diesem Jahre vollzog sich auch ein Garnisonwechsel. An Stelle des zweiten Bataillons des 27. Infanterie-Regiments wurden die beiden ersten Bataillone des 67. Infanterie-Regiments nach Wittenberg verlegt.

Am 14. Mai 1861 veranstalteten die landwirtschaftlichen Vereine der Kreise Wittenberg, Schweinitz, Jüterbog und Luckenwalde auf dem Platze vor dem Schloßtore (dem Tauentzienplatze) eine Tierschau und eine Ausstellung von Landwirtschaftlichen Geräten.

Die Krönung König Wilhelms I. wurde am 18. Oktober durch Reveille, Salutschießen vom Festungswalle, Choralblasen vom Turme, Festgottesdienst und Parade der Garnison festlich begangen. Am Abend war die Stadt prächtig illuminiert.

Das Jahr 1862 begann mit einem schrecklichen Unglück.
Am 28. Januar explodierte der Dampfkessel in der Tuchfabrik des Tuchscherermeisters S. Neumann, Collegienstr. 59 (der jetzigen Scheinigschen Pantinenfabrik). Dabei wurde das Fabrikgebäude zerstört und zwei Personen,
der Feuermann und ein Sohn Neumanns, sofort getötet, während fünf andere Personen schwer verwundet wurden, darunter auch die Gattin Neumanns, die später an den Folgen der Verletzungen starb.

Am 12. Mai wurde der hiesige Männer-Turnverein gegründet. Am 17. Juni bildete sich eine zweite Schützenkompagnie, die als Uniform die graue Joppe trug.
Am gleichen Tage erfolgte auch die Gründung des hiesigen Männergesangvereins.

Am 17. Dezember 1863 erschien an Stelle des bisherigen „Wittenberger Kreisblattes“ die erste Nummer des Fiedlerschen „Wochenblattes“.

Zur Erinnerung an die vor 50 Jahren erfolgte Befreiung Wittenbergs von der Willkürherrschaft der französischen Besatzung fand am 13. Januar 1864 eine größere Feier statt, die aus Festakten in der Schule, Festgottesdienst, Parade und Illumination bestand.
In den Anlagen nördlich vom Schloßtore, auf der Stelle, an welcher die der Festung am nächsten gelegene preußische Batterie erbaut worden war, wurde ein Gedenkstein errichtet, der die Inschrift trägt:

„Zum Andenken an die hier erbaute Batterie.
Das Offizierskorps der Garnison 1864.“

Einen wichtigen Fortschritt in der Beleuchtung unserer Stadt bezeichnet der 21. Januar 1864. An diesem Tage wurde die mit einem Kostenaufwand von 46 170 Talern erbaute städtische Gasanstalt eröffnet.
Die erste Beleuchtung unserer Straßen geschah – und zwar vom Jahre 1802 ab – durch Rüböllämpchen, welche in eiförmigen Glasballons brannten und allerdings nur ein spärliches Licht verbreiteten. Einen Fortschritt zum besseren bezeichnete die Einführung der Petroleumlampen, die dann, wie bereits bemerkt, am 21. Januar 1864 durch die Gasbeleuchtung abgelöst wurden, die mit 144 Straßenlaternen und 974 Privatflammen eröffnet wurde. Welchen Umfang das Beleuchtungswesen unserer Stadt angenommen hat, erhellt aus folgenden Zahlen:
der Verbrauch an Gas betrug im Jahre 1908
1 332 090 Kubikmeter
(530 003 Kubikmeter Privat-Leuchtgas, 316 090 Kubikmeter Gewerbe- und Kochgas; für Straßenbeleuchtung wurden 165 762 Kubikmeter Gas verbraucht).
Die Zahl der Straßenlaternen betrug im genannten Jahre 510 Stück. An der angegebenen Verbrauchsmenge ist die Nachbargemeinde Kleinwittenberg mit 42 457 Kubikmetern beteiligt.
Die Einnahmen der Gaswerkskasse betrugen 318 537 M. 66 Pf., die Ausgaben 244 408 Mark 39 Pf.
Dem Gaswerk ist in dem am 12. Februar 1908 eröffneten städtischen Elektrizitätswerke ein Rivale entstanden, dessen Konkurrenz in Zukunft jedenfalls noch fühlbarer werden dürfte.

Bereits in den Jahren 1900 bis 1905 war die Errichtung eines Elektrizitätswerkes in Wittenberg ins Auge gefaßt worden.
Im Frühjahr 1906 wurde von den Gniest-Bergwitzer Braunkohlenwerken der Stadt das Anerbieten unterbreitet, von ihrer am Bahnhof Bergwitz gelegenen Zentrale hochgespannten Drehstrom nach Wittenberg zu leiten, und dort in einer Unterstation diesen Strom auf gebrauchsfähige Spannung zu bringen. Von den von verschiedenen Firmen eingereichten Projekten wurde das der Siemens-Schuckert-Werke zu Magdeburg angenommen und diese Firma mit der Ausführung dieses Projekts, das einen Kostenaufwand von insgesamt 215 740 M. erforderte, beauftragt.
Danach wird der Drehstrom von 5 000 Volt von Bergwitz aus in einem unterirdischen Kabel nach der vor dem Schloßtore liegenden, im Jahre 1907 erbauten Unterstation geleitet. In dieser fand ein Gleichstrom – Drehstrom – Umformer Aufstellung, außerdem eine Akkumulatoren – Batterie und mehrere Transformatoren.
Für Lichtzwecke, wozu ein besonderes Netz verlegt ist, wird Gleichstrom verwendet, der bei geringer Belastung der Akkumulatoren-Batterie entnommen wird;
bei stärkerer Belastung wird der Umformer in Betrieb gesetzt, und das Netz erhält durch die Gleichstrommaschine direkt den Strom. Um Schwankungen zu vermeiden, ist eine Akkumulatoren Batterie parallel zur Gleichstrommaschine geschaltet. Für Kraftzwecke wird der von Bergwitz kommende Drehstrom von 5000 Volt durch Transformatoren auf 220 Volt herabgemindert, die wiederum, je nach Bedürfnis, mit dem Kraftnetz verbunden werden. Im ersten Betriebsjahre erforderte das Elektrizitätswerk einen Zuschuß aus der Kämmereikasse in Höhe von 17 000 Mark.
Es waren am 31. März 1908 an das Stromnetz angeschlossen:
– 89 Stück Lichtzähler,
– 19 Stück Kraftzähler,
– 1109 Glühlampen,
– 30 Bogenlampen sowie
– mehrere Motore und Apparate mit 67,5 PS.

Am 31. März 1909 waren angeschlossen:
– 178 Stück Lichtzähler,
– 47 Stück Kraftzähler,
– 2 515 Glühlampen,
– 59 Bogenlampen,
– sowie Motore und Apparate mit 158,6 PS.
Der Zuschuss aus der Kämmereikasse betrug 10 136 Mark.

Am 16. April 1864 wurde der Evangelische Männer- und Jünglingsverein gegründet. Dieser rief gleichzeitig die „Herberge zur Heimat“ ins Leben, die zunächst im Knaben- Rettungshause ein bescheidenes Unterkommen fand.
Im Jahre 1885 erbaute der Verein Mittelstraße 1 der „Herberge zur Heimat“ ein eigenes Haus, in dessen Saale er auch seine Versammlungen abhielt. Da der Raum in diesem Hause später nicht mehr ausreichte, so wurde im Jahre 1908 in der Zimmermannstraße ein ziemlich komfortabler Neubau bezogen. Aus dem Jahre 1864 ist noch zu bemerken, daß am 25. Juli hier ein Zentral- und Vereinsschießen stattfand, an dem sich aus den Nachbarstädten 10 Schützengilden mit 300 Schützen in Uniformen und mit ihren Fahnen beteiligte.
Die Stadt Torgau entsandte außerdem von ihrer Geharnischten-Kompagnie 5 Mann.
Das Ausschmücken des Festplatzes vor dem Elstertore kostete der hiesigen Schützengesellschaft 500 Taler, wozu die Stadt 100 Taler beitrug.
Am 5. Dezember wurde die aus dem Kriege gegen Dänemark zurückkehrende Artillerie am Weichbilde der Stadt, bei Dobien, von den städtischen Behörden feierlich empfangen und unter den Klängen der Musik nach der Stadt geleitet.
Den Offizieren wurde am 8. Januar 1865 seitens der Stadt in der „Stadt London“ ein Festessen gegeben.

In Gegenwart König Wilhelms erfolgte am 31. Oktober 1865 die Einweihung des Melanchthon-Denkmals auf dem Marktplatze. Das Standbild des Reformators war von Professor Drake aus Berlin modelliert, während der Entwurf zum Baldachin von Oberhofbaurat Strack aus Berlin angefertigt war. Gegossen wurde das Denkmal in der Königlichen Eisengießerei in Berlin. Die Kosten betrugen insgesamt gegen 24 000 Taler.
Der Festtag wurde in üblicher Weise durch Choralblasen vom Stadtkirchturme eingeleitet.
In dem 9½ Uhr beginnenden Festgottesdienste in der Stadtkirche predigte Superintendent Schapper.
Der König traf gegen 11 Uhr auf dem hiesigen Bahnhofe ein und begab sich durch die Stadt nach der Kommandantur, wo er vom Professor D. Lommatzsch namens des Denkmal-Komitees und vom Bürgermeister Steinbach namens der Stadt begrüßt wurde. Um 12 Uhr mittags erfolgte ein Festzug vom Hofe des Lutherhauses aus unter dem Geläute aller Glocken durch die Collegienstraße nach dem Marktplatze in derselben Zusammensetzung wie bei der Grundsteinlegung des Denkmals. Nachdem König Wilhelm unter dem eigens errichteten Baldachin Platz genommen hatte, trug der Königliche Domchor aus Berlin vom Balkon des Rathauses aus eine Motette vor. Hierauf hielt Oberhofprediger D. Hoffmann aus Berlin die Weiherede, worauf die Denkmalshülle sank und die Übergabe des Denkmals an die Stadt durch den Oberpräsidenten von Witzleben erfolgte.

Der Ausbruch des deutsch-österreichischen Krieges im Jahre 1866 hatte namentlich auch für unsere Stadt bedeutsame Folgen.
Am 1. April wurde mit der Armierung der Festungswerke begonnen. Am 15. Mai rückten die hier garnisonierenden beiden Bataillone des 67. Infanterieregiments ins Feld.
Am 8. Juni wurde eine Verproviantierung der Einwohner angeordnet, und diese fürchteten nicht mit Unrecht, daß sich die noch in trüber Erinnerung stehenden Kriegsdrangsale der Jahre 1813 bis 1814 wiederholen könnten.
Bereits am 4. Juli trafen 520 Mann der bei Gitschin gefangen genommenen österreichischen Truppen hier ein.
Am 7. und 8. Juli passierten in 4 Extrazügen 4 000 verwundete Preußen und Österreicher unsern Bahnhof und wurden hier durch die Bürgerschaft mit Erfrischungen bewirtet.
Am 24. Juli trafen 65 gefangene bayrische Soldaten ein, die hier gleichfalls interniert wurden.
Nach beendigtem Kriege wurden am 14. September die in Wittenberg internierten Kriegsgefangenen entlassen.

Die am 19. bezw. 27. September aus dem Feldzuge heimkehrenden beiden Bataillone des 67. Infanterie-Regiments und die Fuß-Abteilung des Brandenburgischen Feldartillerie-Regiments Nr. 3 (General Feldzeugmeister) wurden hier mit großem Jubel empfangen. Zunächst erfolgte an der am Elstertore errichteten Ehrenpforte eine Begrüßung durch eine Abordnung der städtischen Behörden.
Dann geschah der Einzug der heimkehrenden Krieger in die mit Fahnen und Blumengewinden reichgeschmückte Stadt.
Auf dem Marktplatze, auf dem sich die Behörden, die Geistlichkeit, die Lehrer, Schützen, Innungen sowie die Schüler des Gymnasiums und der Bürgerschule aufgestellt hatten, erfolgte die eigentliche Begrüßung durch den Bürgermeister Steinbach, der den tapferen Truppen Lorbeerkränze überreichte.
Nach dem auf den König und die siegreiche Armee ausgebrachten Hoch sang die ganze Versammlung unter Musikbegleitung den Choral
„Nun danket alle Gott“,
worauf die Mannschaften in den ihnen angewiesenen Quartieren in freigebigster Weise bewirtet wurden. Außerdem erhielt jeder Truppenteil von der Stadt eine Summe Geld zur Verteilung überwiesen. Am Abend war die Stadt festlich illuminiert.
Den Offizieren gaben die städtischen Behörden am 18. Oktober ein Festmahl im Hotel „Stadt London“.

Der 31. Oktober 1867 brachte wieder eine größere Gedächtnisfeier und zwar zum Andenken an die vor 350 Jahren geschehene Reformation. Der Rahmen, in welchem sich die Feier bewegte, war der übliche:
früh 7 Uhr Festgeläute und Choralblasen von den Stadtkirchtürmen, um 8 Uhr Festgottesdienst in der Stadtkirche, wobei Superintendent Romberg die Festpredigt hielt, um 10½ Uhr Festzug vom Lutherhause nach der Schlosskirche, hier Gottesdienst, in dem der stellvertretende Generalsuperintendent Burghardt predigte, nachmittags sowie abends abermals Gottesdienst in der Pfarrkirche und abends 8 Uhr eine öffentliche Feier auf dem Marktplatze mit Gesang und Festansprache des Superintendenten Romberg.
Im Anschluß daran wurde am 1. November das 50 jährige Bestehen des Königlichen Predigerseminars durch einen Festakt in der Aula des Lutherhauses gefeiert.
Die Festrede hielt der Direktor des Predigerseminars, Konsistorialrat D. Schmieder.

Das Jahr 1868 brachte abermals einen Garnisonwechsel.
Am 19. bzw. 21. Januar rückten zwei Bataillone des 3. Brandenburgischen Infanterieregiments Nr. 20, von Küstrin kommend, in Wittenberg ein und wurden am Weichbilde der Stadt, beim Gasthofe zur „Stadt Mailand“, von einer Abordnung der städtischen Behörden begrüßt.
Am 3. Oktober wurde der bedeutendste der damaligen Wittenberger Gasthöfe, das Hotel „Stadt London“, welches sich lange Jahre im Besitz der Familie Lantzsch befunden hatte, vom Militärfiskus für 25 000 Taler käuflich erworben. Das Gebäude wurde abgerissen und an seiner Stelle das heutige Offizierskasino errichtet.

In diesem Jahre gelangte auch eine alte Bestimmung über die Königswürde bei der Schützengesellschaft wieder zu Ehren. Seit undenklichen Zeiten wurde demjenigen Schützen die Königswürde zuerkannt, der das letzte Stück vom Vogel getroffen hatte.
Im Jahre 1863 änderte man diese Bestimmung dahin ab, daß die Königswürde dem Schützen zufiel, welcher den besten Schuss auf der Scheibe getan hatte. Da die Schützen mit dieser Einrichtung sich nicht befreunden konnten, so wurde sie nach fünfjährigem Bestehen zugunsten der alten Bestimmung wieder aufgehoben.

Im Jahre 1869 fand in Wittenberg eine Allgemeine Deutsche Gewerbe- und Industrie- Ausstellung statt, die sehr reich beschickt war.
Sie wurde in einem eigens dazu errichteten großen Gebäude vor dem Schloßtore untergebracht und dauerte vom 1. Juni bis zum 31. August. Unter den zahlreichen Gästen, welche die Ausstellung besuchten, waren auch König Wilhelm und seine Gemahlin, Kronprinz Friedrich Wilhelm nebst Gemahlin, der Prinz von Hessen nebst Gemahlin und die Prinzessin Friedrich Karl von Preußen.

Namentlich auf Anregung des damaligen Gymnasiallehrers und späteren Bürgermeisters Dr. Schild wurde am 21. September 1868 eine Turnerfeuerwehr ins Leben gerufen.
Im Oktober 1869 fand die Einkleidung derselben statt. Diese Feuerwehr bestand zunächst aus einem Hauptmann zwei Zugführern, einem Kassierer, einem Fourier, 12 Steigern (inkl. 2 Rohrführern), 31 Spritzenmannschaften und 2 Signalbläsern. Nach einer im Beisein des damaligen Stadtkommandanten Oberst von Zedtwitz und der städtischen Behörden abgehaltenen ausgedehnten Übung der Wehr erfolgte am 3. April 1870 im Magistratssitzungszimmer deren Vereidigung.

Vom Monat Juli des Jahres 1870 ab stand das ganze Leben unserer Stadt und Festung unter dem Einflusse des Kriegs gegen Frankreich.
Am 15. Juli traf die Kriegserklärung Frankreichs ein und weckte hier wie allerorten große Begeisterung.
Bereits am 16. Juli erschien die Mobilmachungs-Ordre.
Am 20. Juli trat das Lokalkomitee zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger unter dem Vorsitz von Bürgermeister Steinbach, Senator Knoke und Polizeikommissar Behns mit einem Aufrufe an die Öffentlichkeit, in dem um Liebesgaben für die Familienglieder der ärmeren eingezogenen Reservisten und Wehrleute gebeten wurde.
Zu gleicher Zeit erging von Freiin von Manteuffel und Frau Bürgermeister Steinbach ein Aufruf um Gaben an Leinwand, Charpie, Verbandzeug und Geld usw.
In diesen Tagen fanden hier auch infolge der Einberufungsordre zum mobilen Heere mehrere schleunige Eheschließungen statt, zu denen kein vorheriges Aufgebot nötig war, und einfach die Gestellungsordre als Legitimation genügte.

Am 23. Juli rückten die beiden ersten hier in Garnison stehenden Bataillone des 3. Brandenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 20 nach dem Kriegsschauplatze ab. Die Herren von Freyberg in Reinsdorf deponierten für den Mann der 1. Kompagnie des Regiments, welcher die erste französische Fahne erbeutete, ein Geldgeschenk von 100 Talern.

Am folgenden Tage wurde der Güterverkehr auf der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn wegen der Truppenbeförderung gänzlich eingestellt, und die Personenbeförderung auf vier Züge täglich beschränkt.
Vom 26. Juli bis 5. August war der Personenverkehr gänzlich aufgehoben.
Am 27. Juli wurde der vom König angeordnete allgemeine Buß- und Bettag durch Gottesdienste in sämtlichen hiesigen Kirchen begangen. Da der Wittenberger Bahnhof von zahlreichen Truppenzügen berührt wurde, so hatte sich hier ein Komitee zur Erfrischung der durchpassierenden Truppen gebildet.
Am 29. Juli konnte dieses seine Tätigkeit beginnen.
An diesem Tage und den beiden folgenden berührten 16 000 Mann Infanterie, 1 200 Mann Kavallerie und 1 800 Mann Artillerie, Pioniere usw. unsern Bahnhof.
Es wurden insgesamt an diese Truppen 3000 Quart Limonade und 30 Tonnen Bier verabreicht. In welch großem Umfange auf unserm Bahnhofe die Truppen verladen wurden, geht aus einer Bekanntmachung des Magistrats hervor, wonach bei der Unzulänglichkeit der Quartiere den Truppen gestattet wurde, bis zu ihrer Verladung auf den angrenzenden abgeernteten Feldern zu biwakieren.
Die in der Nacht vom 6. zum 7. August hier eintreffende Nachricht von dem Siege bei Wörth rief ungeheuren Jubel hervor, der sich noch steigerte, als die bekannte Depesche des Königs an die Königin zur Kenntnis gelangte. Hunderte von Menschen drängten sich in den Straßen und begrüßten die freudige Nachricht mit donnernden Hochrufen auf den Kronprinzen, das Heer und das Vaterland.
Nachmittags wurden 101 Salutschüsse abgefeuert.
Am 6. August kamen die ersten der in der Schlacht bei Weißenburg gefangenen Franzosen hier an. Es waren ca. 500 Mann aller Waffengattungen, Artillerie, Infanterie, Kavallerie, Turkos und Zuaven nebst 10 Offizieren.
In den nächsten Tagen passierten wiederholt Züge mit gefangenen Franzosen und erbeutetem Kriegsmaterial unsern Bahnhof. Leider benahmen sich auch hier nicht alle Bewohner mit derjenigen Würde und Zurückhaltung, wie sie sich den gefangenen Franzosen gegenüber gebührte.
Namentlich wird an dem allzu liebenswürdigen Benehmen eines Teils der weiblichen Bevölkerung mit Recht herbe Kritik geübt. Am 21. und 22. August trafen die ersten Verwundeten unseres 20. Infanterieregiments hier ein, die bei Vionville bis auf 200 Schritt am Feinde gewesen waren.
Am 28. August kamen wiederum ca. 780 Kriegsgefangene, die größtenteils in den Schlachten von Vionville und Gravelotte verwundet worden waren, hier an.
Es war ein langsamer, trauriger Zug, der sich vom Bahnhofe nach dem Kasernenhofe bewegte.
Einzelne der Verwundeten mussten von den deutschen Begleitmannschaften geführt werden.
Die gefangenen Offiziere wurden vom Bahnhofe aus, wo sie sich eines fast kameradschaftlichen Empfangs zu erfreuen hatten, mit den Wagen der Hotels zur Stadt gebracht.
Von den auf den Kasernenhof gebrachten Gefangenen wurden die Schwerverwundeten sofort hinauf in die Stuben geschafft, die übrigen aber hinaus in das Zeltlager geführt, welches auf dem großen Artillerie-Exerzierplatz hinter Rothemark errichtet war.
In diesem waren 275 Zelte aufgestellt, die für 2000 Mann bestimmt waren. Eine größere Begeisterung, als die am 3. September hier eintreffende Freudenbotschaft von der Gefangennahme des Kaisers Napoleon und der Armee Mac Mahons hat wohl kaum jemals eine Nachricht in unserer Stadt hervorgerufen. Blitzartig verbreitete sich diese durch alle Kreise der Bevölkerung, die freudig erregt und bewegt durch die Straßen flutete, und binnen kürzester Zeit bedeckten sich die Straßen mit dem reichsten Flaggenschmuck.
Die Einzigen, welche in diese Freudenbezeugungen nicht einstimmten, waren die französischen Gefangenen.
Die Nachricht, welche ihnen nicht vorenthalten werden konnte, wurde zunächst einigen, der deutschen Sprache kundigen Elsässern vorgelesen, die es dann übernahmen, ihren Kameraden von der für sie so traurigen Kunde Mitteilung zu geben. Der Eindruck auf diese war, wie sich erwarten ließ, ein niederschmetternder, und einzelne machten ihrer Aufregung dadurch Luft, daß sie die Fäuste ballten und vor Wut mit den Füßen stampften.
Am 11. September ging der erste größere Transport von Liebesgaben, die für die Truppen der Wittenberger Garnison gesammelt waren, von hier nach dem Kriegsschauplatze ab.
Es waren
– 658 Leibbinden,
– 1263 Paar Fußlappen,
– 50 wollene Unterjacken,
– 114 Paar Strümpfe,
– 6000 Stück Zigarren,
– 5 Zentner Tabak,
– 300 Quart Liköre,
– sowie Kaffee,
– Schokolade,
– Tee,
– Schinken,
– Wurst,
– Zwiebeln,
– Lichte usw.
Der Transport wurde geleitet von dem Domänenrat von Bismarck und dem Kaufmann Mertens, denen zu diesem Zwecke freie Fahrt und freier Transport von der Eisenbahnverwaltung bewilligt worden war.
Am 14. September 1870 kamen wieder ca. 700 französische Kriegsgefangene hier an, die im Zeltlager auf Rothemark untergebracht wurden.
Ein größerer Transport – 1600 Mann – traf am 16. September ein. Die Gefangenen waren in Dauermärschen von Sedan nach Remilly marschiert und hatten bisher 4 Tage ununterbrochen auf der Eisenbahn zugebracht.
Sie gewährten im allgemeinen einen bemitleidenswerten Anblick; die ausgestandenen Strapazen drückten sich in ihrer Haltung und Kleidung unverkennbar aus. Sie gehörten allen Waffengattungen an, jedoch war besonders die Infanterie stark vertreten. Die Montierungsstücke waren arg mitgenommen, namentlich die roten Hosen und das Schuhwerk.
Wohl dem, der überhaupt noch solches besaß!
Viele kamen barfuß an, oder steckten mit nackten Füßen in den Gamaschen. Auf ihren Kaiser waren sie nicht gut zu sprechen, dagegen sagten sie von Mac Mahon:
„Ah c’est un brave soldat!“ ( „Ah er ist ein tapferer Soldat!“)
Mit den deutschen Begleitmannschaften verkehrten sie ganz kameradschaftlich und nahmen von diesen gern Speise und Trank, was diese willig mit ihnen teilten.
Im ganzen waren in Wittenberg 4730 französische Gefangene interniert, die sich im Zeltlager auf die verschiedenste Art die Zeit vertrieben: mit Ballschlagen, Tanz, Kegelschieben.
Sogar zwei Theater hatte man errichtet, in denen fast täglich Aufführungen stattfanden, wozu auch den hiesigen Einwohnern der Zutritt gestattet war.
Diese machten von der erhaltenen Erlaubnis reichlich Gebrauch, so daß der Weg zwischen der Stadt und dem Zeltlager stets voller Menschen war.
Unter den Schaulustigen waren namentlich an den Sonntagen die Bewohner der Nachbarstädte stark vertreten.
Die gefangenen 40 Offiziere lagen nicht im Zeltlager, sondern bewohnten Privatquartiere in der Stadt.
Von den im Zeltlager internierten Mannschaften erhielten einzelne die Erlaubnis, bei Handwerksmeistern in der Stadt zu arbeiten.
Im Monat Oktober wurde ein Teil der hiesigen Kriegsgefangenen nach dem großen, für 14000 Mann eingerichteten Barackenlager bei Jüterbog gebracht, während ein anderer Teil nach den Städten Dresden, Greiz, Coswig, Kemberg, Gräfenhainichen usw. befördert wurde, um in Wittenberg für die Neuankommenden Platz zu machen.
Diese ließen auch nicht lange auf sich warten.
Am 4. November abends 7 Uhr trafen 2 000 Mann der in Metz gefangenen französischen Truppen hier ein – zumeist Dragoner und reitende Jäger.
Der Zug der Gefangenen hatte eine ansehnliche Länge; die ersten hatten bereits das Schloßtore passiert, während die letzten noch am Bahnhofe standen.
Zur Aufnahme der Gefangenen waren im Zeltlager bei Rothemark 130 Strohbaracken neu erbaut worden.
Hier wurde ihnen ein warmes, kräftiges Abendessen, zu welchem 1000 Pfund Rindfleisch verwendet worden waren, verabreicht.
Zu der gleichen Zeit wurden vor dem Schloßtore, hinter „Schreibers Garten“ (,“Kaisergarten“) zwei große Holzbaracken mit Steinernen Fundamenten zur Aufnahme der verwundeten und erkrankten Franzosen erbaut.
Mit diesen war auch ein schlimmer Gast in unsere Mauern gekommen – die Menschenpocken, welche von Anfang November ab bis in die ersten Monate des Jahres 1871 hier epidemisch auftraten und neben vielen Gefangenen auch zahlreiche hiesige Einwohner hinwegrafften.

Am 27. Oktober nachmittags gegen 5 Uhr traf in Wittenberg die Nachricht von der am Morgen desselben Tages erfolgten Kapitulation der Festung Metz und der Armee Bazaines ein.
Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht durch die Stadt und versetzte die Bewohner in die freudigste Bewegung. Wie durch Zauberschlag bedeckten sich die Häuser mit Flaggenschmuck, und unter dem Gesang patriotischer Lieder durchzogen die Schüler des Gymnasiums  die Straßen.
Gegen 71/2 Uhr wurde vom „hohen Kavalier“ (der Kavalierschanze) Viktoria geschossen.
Trotz der Kürze der Zeit waren bis zum Anbruche der Dunkelheit alle Vorbereitungen zu einer allgemeinen Illumination getroffen, und bald prangte die ganze Stadt im hellen Lichterglanze. Unter dem Geläute aller Glocken und unter dem Vortritte der Schüler des Gymnasiums, die farbige Papierlaternen trugen, bewegte sich eine nach Tausenden zählende Menge nach dem Marktplatze.
Nach einer kurzen Ansprache des Bürgermeisters Steinbach dankte die Versammlung dem Lenker der Schlachten durch den Gesang des Chorals
„Nun danket alle Gott“, worauf die Menge begeisterte Hochrufe auf den König, den Kronprinzen, den Prinzen Friedrich Karl und die siegreiche Armee ausbrachte und zum Schlusse
„Heil dir im Siegerkranz“ und die
„Wacht am Rhein“ anstimmte.

In dieser Zeit sowie auch vor und nachher wurden von verschiedenen Vereinen Gesangskonzerte und Theatervorstellungen veranstaltet, deren Einnahmen zur Pflege der im Kampfe verwundeten Krieger oder auch zur Unterstützung der Familien der im Felde stehenden Landwehrleute und Reservisten verwendet wurden.
Im Monat Dezember wurde auf der Berlin-Anhalter Bahn der Güterverkehr sehr eingeschränkt, da täglich 100 Güterwagen mit Munition zur Beschießung des eingeschlossenen Paris in Berlin beladen wurden und hier durch passierten. Ebenso wurde eine größere Anzahl Waggons zum Transport der Ersatzmannschaften und zu Pferdetransporten in Anspruch genommen.

Die ersten Monate des neuen Jahres 1871 standen in unserer Stadt ebenfalls noch unter dem Eindrucke der großen auf Frankreichs Boden sich vollziehenden kriegerischen Ereignisse. Am 18. Januar war König Wilhelm im prunkvollen Schlosse zu Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen und damit das Sehnen und Hoffen aller vaterlandsliebenden Männer erfüllt worden.
Auch in unserer Stadt erweckte jenes bedeutungsvolle Ereignis ein freudiges, begeistertes Echo.
Als am 29. Januar nachmittags 3 Uhr die amtliche Bestätigung der erfolgten Kapitulation der stolzen Hauptstadt Paris eintraf, da versetzte diese Nachricht, die ein baldiges Ende des blutigen Krieges verhieß, die Bewohner Wittenbergs in die freudigste Bewegung.
Auf dem Marktplatze versammelten sich vor dem Hause, in welchem die Telegraphenstation untergebracht war, dichte Gruppen. Mit Windeseile hatte sich die frohe Botschaft durch die Stadt verbreitet, und im Umsehen schmückten sich die Häuser mit wehenden Fahnen.

Bald nach 3 Uhr donnerten die beiden vor dem Schloßtore liegenden Bastionen das Viktoria, und halb 6 Uhr kündete feierliches Glockengeläut von den Türmen der Stadtkirche das frohe Ereignis.
Als sich die Dunkelheit herabsenkte, flammten überall in den Fenstern die Kerzen auf.
Um 7 Uhr setzte sich vom Arsenalplatze aus unter dem Vorantritt eines Musikchors, welches patriotische Weisen spielte, ein stattlicher Zug mit Fackeln und Lampions in Bewegung, an dem sich die älteren Schüler des Gymnasiums und der Bürgerschule, der Bürgerverein, der Schützen-Gesangverein, die Turnerfeuerwehr und viele andere Bürger beteiligten.
Vor der Kommandantur wurde Halt gemacht und auf Kaiser Wilhelm, den Siegreichen, ein dreifaches Hoch ausgebracht. Nach dem Umzuge durch die Hauptstraßen löste sich der Zug auf dem Marktplatze auf, nachdem noch die versammelte Menge den Choral „Nun danket alle Gott“ aus dankerfülltem Herzen gesungen hatte.
Noch lange aber wogten Hunderte trotz Schnee und Kälte in der gehobensten Stimmung durch die Straßen.
Aus Anlass der am 26. Februar stattgefundenen Unterzeichnung der Friedenspräliminarien hüllte sich unsere Stadt wiederum in Flaggenschmuck; der Nachmittagsunterricht in den Schulen wurde ausgesetzt, und auf den Straßen herrschte ein frohbewegtes Leben.
Am 3. März nachmittags traf die Depesche über die Sanktionierung der Friedenspräliminarien durch die französische Nationalversammlung in Bordeaux hier ein, und wieder wehten von allen Dächern die Fahnen. Gleichzeitig klangen von allen Türmen die Glocken, und in ihren Schall mischten sich die Salutschüsse vom Walle am Schloßtore.
Am Abend fand großer Zapfenstreich mit Illumination statt. Damit war das große blutige Ringen beendet, und die deutschen Krieger durften nacheinander ins geeinte Vaterland zurückkehren.
Als die ersten rückte am 29. März das Bitterfelder Landwehr-Bataillon, dessen 4. Kompagnie der Kreis Wittenberg gestellt hatte, in Stärke von 600 Mann hier ein, um das Garnison-Bataillon Nr. 72, welches aufgelöst werden sollte, abzulösen. Das Bataillon, welches zu Fuß von Bitterfeld kam, wurde schon in Pratau vom Magistrat, dem Bureau der Stadtverordnetenversammlung, und dem Komitee für Erfrischung der Truppen empfangen.
Nachdem es vor dem Gasthofe „Zum Freischütz“ Aufstellung genommen hatte, hieß Bürgermeister Steinbach Offiziere und Mannschaften in einer herzlichen Ansprache willkommen, die in ein Hoch auf den Kaiser und die deutsche Armee ausklang.
Der Bataillonskommandeur, Major von Görtel, dankte im Namen des Bataillons für den herzlichen Empfang, worauf dieses mit Frühstück, Bier und Wein bewirtet wurde.
Sodann erfolgte der Abmarsch und mit einem von der Stadt gestellten Musikkorps der Einzug in die mit Fahnen reich geschmückte Stadt durch das Elstertor, Collegienstraße, Markt, Schlossstraße, Coswigerstraße bis auf den Arsenalplatz, wo die Quartierbilletts ausgegeben wurden.
Am 7. Juni wurde das Barackenlager vollständig geräumt und die letzten 1 300 französischen Kriegsgefangenen in ihre Heimat entlassen.
Nur in der Lazarettbaracke blieben noch 90 Mann, die nicht transportfähig waren, zurück.
Der 6. Juli war ein Fest- und Freudentag für unsere Stadt.
Am Nachmittage dieses Tages rückten die zur Entlassung kommenden Mannschaften des 20. Infanterieregiments in ihre Garnisonstadt wieder ein und wurden hier von der gesamten Bevölkerung mit jubelndem Willkommen begrüßt.
Das Regiment selbst blieb noch bis auf weiteres zur Okkupation bestimmter Gebietsteile in Frankreich.
Zum Empfang der Heimkehrenden hatte sich die Stadt reich mit Fahnen, Laubgewinden und Kränzen geschmückt.
Am Elstertore war eine blumengeschmückte Ehrenpforte errichtet.
Zur ersten Begrüßung hatten sich auf dem Bahnhofe die Spitzen des Militärs und eine Abordnung der städtischen Behörden eingefunden.
Als gegen halb fünf Uhr der Zug mit den tapferen Kriegern in den Bahnhof einfuhr, stimmte die Musik die
„Wacht am Rhein“ an, die von dem zahlreich versammelten Publikum mitgesungen wurde.
Nach Ausstellung der Mannschaften erfolgte seitens des Senators Haldensleben eine kurze vorläufige Bewillkommnung, da der eigentliche offizielle Empfang erst auf dem Marktplatze geschehen sollte.
Unter den Klängen der Musik und dem Geläute der Glocken begann der Einzug der Krieger in die geschmückte Stadt. Der Zug der Heimkehrenden zählte 3 Offiziere, 70 Unteroffiziere und 550 Mann.
Aus allen Fenstern der Collegienstraße regneten Blumen und Kränze auf die Einziehenden nieder.
Auf dem Marktplatze hatte man Bäumchen eingegraben und mit Fahnen und Flaggen geschmückt; von einem zum andern schwangen sich Laubgewinde, welche auf großen Schildern die Namen und Daten der Gefechte und Schlachten trugen, an denen das Regiment teilgenommen hatte.
Die zum Empfang erschienenen Behörden, Geistlichen, Schulen, Turner, Feuerwehrmannschaften usw. bildeten einen nach Süden offenen Halbkreis, in welchem auch die hier weilenden Verwundeten des Regiments auf Bänken am Melanchthon- Denkmale Platz gefunden hatten.
Nachdem die heimgekehrten Sieger an der offenen Seite des Halbkreises Ausstellung genommen hatten, begrüßte sie Bürgermeister Steinbach namens der Stadt durch eine Ansprache, in der er ihre Verdienste feierte.
Sodann überreichte er den Offizieren Lorbeerkränze und brachte ein Hoch auf das 20. Infanterieregiment, auf die deutsche Armee, ihre Heerführer und auf den Kaiser aus. Namens der Reserven und des Regiments sprach Major von Stocken in warmen Worten den Dank für den herzlichen Empfang aus.
Unter Musikbegleitung und Glockengeläut sang hierauf die ganze versammelte Menge das Lied, welches anzustimmen unser Volk während dieses Krieges so oft Gelegenheit hatte: „Nun danket alle Gott.“
Nach einem Hoch der Reserven auf die Stadt Wittenberg begaben sich diese in ihre Quartiere.

Am Abend fanden sie sich wieder in dem Vergnügungslokale Kamtschatka“ (dem heutigen „Bürgergarten“) zusammen, wo sie seitens der Stadt mit Bier und Zigarren bewirtet wurden.

Am 23. Juli veranstaltete die Stadt zu Ehren der aus dem Kriege heimkehrenden Wittenberger Landwehrleute, 237 an der Zahl, in den Meyerschen Sälen, („Gesellschaftshaus“) ein Festessen, an dem sich ca. 300 Personen beteiligten.
Ein gleicher herzlicher Empfang und festliche Bewirtung wurde auch den am 13. August in Stärke von 500 Mann und am 23. Oktober in Stärke von 250 Mann aus Frankreich zurückkehrenden Reserven des 20. Infanterie- Regiments, sowie der am 21. September wiederkehrenden 7. Kompagnie der Garde-Artillerie, die vor Ausbruch des Krieges hier in Garnison stand, zuteil.
Am 2. September fand eine Gedächtnisfeier der Schlacht bei Sedan statt, die durch Choralblasen vom Turme und Festakte in den Schulen begangen wurde.
Abends zog ein Musikchor, patriotische Lieder spielend, durch die Straßen. Zum Schluß ließ dieses auch vom Balkon des Rathauses aus vaterländische Weisen ertönen.

Aus dem Jahre 1871 sind noch folgende bemerkenswerte Ereignisse nachzutragen:
Am 3. März erfolgten die ersten Wahlen für den ersten Reichstag des neuen deutschen Reichs.
In unserem Wahlkreise Wittenberg-Schweinitz wurden insgesamt 6 132 Stimmen abgegeben.
Davon entfielen:
– auf Herrn von Bodenhausen (kons.) 3 737,
– auf Grotjahn-Polzen (lib.) 1911,
– auf Held-Berlin (lib.) 472 Stimmen,
– 12 Stimmen waren zersplittert.
Der Erstere war somit gewählt.
Geklagt wird über die schwache Beteiligung an der Wahl.

Am 4. Juli wurde unter den üblichen Feierlichkeiten bei dem Dorfe Labetz der erste Spatenstich zu der neuen Bahnlinie Wittenberg-Falkenberg getan.
Diese Strecke, welche durch die Berlin-Anhaltische Eisenbahngesellschaft erbaut wurde und eine Länge von 7¼ Meile (30,289 km) erhielt, er forderte einen Kostenaufwand von 2 595 500 Talern, sodass auf jede Meile im Durchschnitt 358 000 Taler kamen. Die verschiedenen größeren Brückenanlagen im Gebiete der schwarzen Elster erforderten 150 000 Taler.

Am 26. September brach in dem historischen Cranachhause, der Adler-Apotheke, Feuer aus, welches das obere Stockwerk ganz und das darunter liegende teilweise zerstörte. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es der Turnerfeuerwehr und den zur Unterstützung herbeigeeilten Mannschaften der Garnison, das Gebäude vor völliger Vernichtung zu bewahren. Als Anerkennung ihrer opfermutigen Tätigkeit bewilligten die städtischen Behörden der Feuerwehr 100 Taler sowie 50 Taler für deren Unterstützungskasse. Weitere 100 Taler wurden dem Stadtkommandanten zur Verteilung an die bei dem Rettungswerke tätigen Mannschaften der Garnison übergeben.

Am 9. Dezember wurde die von dem landwirtschaftlichen Verein des Kreises Wittenberg errichtete landwirtschaftliche Winterschule mit 9 Schülern eröffnet. Die Schule erhielt den Zweck ihre Schüler – zumeist Söhne von Landwirten – in zwei während der Wintermonate (November bis März) abgehaltenen Kursen mit dem für den Beruf des Landwirts notwendigen Wissen auszurüsten.
Im Laufe der Zeit hat sich die segensreich wirkende Schule in sehr erfreulicher Weise entwickelt. Hierzu trug wesentlich auch der Umstand bei, daß sie aus den Händen des landwirtschaftlichen Kreisvereins in die Verwaltung der Landwirtschaftskammer überging, wodurch ihr namentlich eine stärkere finanzielle Grundlage gegeben wurde.
Der letzte Kursus der Schule 1909 bis 1910 war von 66 Schülern in zwei Klassen besucht.

Eine weitere Schulgründung brachte das Jahr 1872. Da die auf den Wunsch vieler Einwohner eingerichtete gehobene Bürgerschule nicht den erwarteten Besuch fand, so wurde sie mit Genehmigung der Königlichen Regierung Ostern 1872 aufgehoben.
An ihre Stelle trat zu diesem Termin eine dreiklassige Vorbereitungsschule für das Gymnasium. Diese bestand bis zu der Ostern 1899 erfolgten Eröffnung der neuen Mittelschule, deren Unterklassen nunmehr die Vorbereitung für das Gymnasium übernahmen.
Die Klassenräume der Vorschule befanden sich im Hause der Bürgerschule; im Jahre 1883 siedelte sie in den Neubau des Gymnasiums über.

Seit langem hatte sich in unserer Stadt das Verlangen nach einer Schülerbibliothek geltend gemacht. Um die zu deren Begründung erforderlichen Geldmittel zu gewinnen, veranstaltete ein Komitee in den ersten Monaten des Jahres 1872 im Saale des Offizierskasinos mehrere populär wissenschaftliche Vorträge, die eine Einnahme von 70 Talern ergaben.
Bereits am 1. Januar war – namentlich durch Zuwendungen des Rentiers Gast – der Grundstock zu der Volksbibliothek geschaffen worden.
Im Jahre 1873 schenkte dieser abermals 1 000 Taler, mit der Bestimmung, daß die Zinsen dieses Kapitals zur Ergänzung und Erweiterung der Bibliothek verwendet werden sollten.
Im September des genannten Jahres zählte diese bereits 500 Bände.
Gleichzeitig ließ Gast dem Lehrer Erfurth in Dabrun 10 Taler zugehen, als Beihilfe für die von diesem dort gegründete Schülerbibliothek.
Das Jahr 1872 brachte mehrere einschneidende Veränderungen im gewerblichen Leben unserer Stadt.
Vom 6. Januar ab schlossen die meisten hiesigen Kaufleute und Gewerbetreibenden ihre Geschäfte von 9 Uhr abends ab. Auch hörte von diesem Tage ab die hier bisher übliche „Zugabe“ auf die gekauften Waren auf.
Mit dem 1. Januar wurden gleichzeitig die durch Reichsgesetz angeordneten neuen Maße und Gewichte eingeführt, was anfangs zu vielen Irrtümern und Misshelligkeiten zwischen Käufern und Verkäufern führte, da letztere diesem Umstand zu einer Erhöhung der bisherigen Preise benutzten. Bei der allgemein einsetzenden Teuerung sahen sich die städtischen Behörden veranlasst, am 20. Januar den hiesigen städtischen Beamten und Lehrern eine einmalige Teuerungszulage im Betrage von 10 bis 20 Talern zu zahlen, was ca. 3¾ bis 4½ Prozent der bisherigen Gehälter ausmachte.
Am 16. Oktober beschloss die Stadtverordnetenversammlung, das Gehalt der Gymnasiallehrer und der Kommunallehrer zu erhöhen.
Nach der vom 1. Oktober ab in Kraft tretenden Gehaltsskala betrug das Anfangsgehalt der Kommunallehrer wie bisher 250 Taler, nach 5 jähriger Dienstzeit 100 Taler mehr, und nach je 5 weiteren Dienstjahren erhöhte es sich jedes mal um 50 Taler, sodass es nach 30 jähriger Dienstzeit den Höchstsatz von 600 Talern erreichte.

Zur Bestreitung der Ausgaben für die erhöhte Besoldung der Gymnasiallehrer wurde vom 1. Januar 1873 ab das Schulgeld am Gymnasium erhöht, und zwar für
– Klasse I auf 26 Taler jährlich,
– Klasse II 24 Taler,
– Klasse III 24 Taler,
– Klasse IV 22 Taler,
– Klasse V 20 Taler,
– Klasse VI 18 Taler,
mit einem Zuschlag für auswärtige Schüler in den Klassen I bis III im Betrage von 4 Talern, in den Klassen IV bis VI im Betrage von 2 Talern.

Am 5. April 1872 erhielt Wittenberg in der 6. Batterie des Brandenburgischen Feldartillerie – Regiments Nr. 3 (General-Feldzeugmeister) eine neue Garnisontruppe.
Diese rückte, von Jüterbog kommend, nachmittags hier ein und wurde vom Offizierskorps und der Musik des 27. Infanterie- Regiments vom Bahnhofe eingeholt und bis zum Arsenalplatz geleitet.
Am 31. Oktober verließen beide Batterien bereits wieder unsere Stadt, um nach Jüterbog bzw. Frankfurt a. Oder in Garnison zu gehen.
An ihre Stelle rückten am 1. November zwei Batterien des Torgauer Feldartillerie-Regiments. Nr. 4 als neue Garnison hier ein.

Im Juni dieses Jahres erfuhr die bisherige freiwillige Turnerfeuerwehr eine bemerkenswerte Erweiterung.
Nachdem der ursprünglich festgesetzte Etat derselben 3 Jahre hindurch 50 Mann betragen hatte, ging man im Interesse der Sache daran, dieses Institut zu erweitern. Es wurde die bisherige freiwillige Turner-Feuerwehr in eine allgemeine freiwillige Feuerwehr umgewandelt, zu der auch Nichtmitglieder des Turnvereins Zutritt hatten. Die Meldungen gingen so zahlreich ein, daß der Gesamtbestand der Kompagnie auf 90 uniformierte Mitglieder gebracht werden konnte. Aus den Neuhinzugetretenen wurde ein zweiter Spritzenzug gebildet und außerdem mit der Bildung eines Pionierzuges begonnen. Die erste freiwillige Feuerwehr unserer Stadt, die Turner-Feuerwehr – ging wie bereits bemerkt – aus dem Turnverein hervor. Nachdem das Misstrauen der Regierung gegen das Turnen endlich soweit geschwunden war, daß es nicht länger polizeilich verboten oder überwacht wurde, fand es auch in Wittenberg eine Heimstätte.

Zuerst wurde das Turnen im Gymnasium, zunächst allerdings nur als fakultativer Unterrichtsgegenstand, eingeführt.
Die Gieseschen Erben erteilten in entgegenkommender Weise die Erlaubnis, in dem ihnen gehörigen Walde der Rothemark einen Turnplatz anzulegen, der also den ersten Turnplatz Wittenbergs bildete.
Ein alljährlich bereits abgehaltenes Schauturnen erweckte der Turnsache in weiteren Kreisen Sympathie.
Als im Jahre 1846 ein Ministerialerlass verfügte, daß auch die Schüler der Bürgerschule turnen sollten, da erwies sich der bisherige Turnplatz als zu klein.
Ein eifriger Förderer des Turnens, der Kaufmann G. Arnold, lenkte die Aufmerksamkeit der städtischen Behörden auf einen geeigneten Platz in der Fortsetzung des heutigen Kreisgartens, der Eigentum der Kirchengemeinde war, und übernahm es, nach Bewilligung der nötigen Mittel, den ziemlich wüsten Platz für seinen neuen Zweck herzurichten.
Am 29. April 1847 fand die Eröffnung dieses Turnplatzes mit einer entsprechenden Feier und unter lebhafter Beteiligung der Bürgerschaft statt. Von jetzt ab benutzten Gymnasium und Knaben-Bürgerschule den Turnplatz gemeinsam. Ein Teil der letzteren wurde zu einem kleinen Musikkorps ausgebildet. Alljährlich zog nun die turnende Knabenschar unter Vorantritt des Trommler- und Pfeiferkorps mit wehenden Fahnen auf den festlich geschmückten Turnplatz zum Schauturnen.
Im Jahre 1862 traten in „Schreibers Garten“, dem jetzigen „Kaisergarten“, 29 junge Männer zusammen und gründeten unter Leitung des Lehrers Lausch den Männer-Turnverein. Die Jugend dieses Vereins verlief nicht immer glatt und ruhig, und es hat manchen Kampf gekostet, bis dieser, der oft sein Turnlokal wechseln mußte, festen Fuß fassen konnte.
Im Jahre 1885 war es ihm möglich, namentlich durch die unermüdliche Arbeit seines damaligen Vorsitzenden, des Klempnermeisters Louis Eckhardt, einen eigenen Turnplatz an der Pfaffenstraße zu erwerben und dort eine Turnhalle zu erbauen. Heute steht der Verein auf sicheren Füßen, er zählt mehr als 200 Mitglieder, darunter auch eine Damenriege, und besitzt eine der besteingerichteten Turnhallen im Kreise III c der deutschen Turnerschaft.

Am 2. September 1872 wurde die Erinnerung an den Tag von Sedan durch eine große allgemeine Feier festlich begangen.
Um 6 Uhr früh wurde vom Stadtmusikkorps das große Wecken ausgeführt. Eine Stunde später läuteten die Glocken das Fest ein. Die Stadt hatte sich zu diesem mit Blumengewinden und Fahnen würdig geschmückt. Um 8 Uhr fanden in den Schulen Festfeiern statt, während um 9 Uhr der Festgottesdienst in der Stadtkirche begann, in welchem Superintendent Dr. Romberg die Festpredigt hielt. Nach Schluß des Gottesdienstes trugen die vereinigten Gesangvereine auf dem Marktplatze patriotische Lieder vor. Den Nachmittag füllten die Schulen durch Spaziergänge in die Umgebung der Stadt aus. Am Abend nahm die Feier den Charakter eines Volksfestes an. Sie gipfelte in einem Umzuge durch die Straßen der Stadt, der um 8 Uhr vom Arsenalplatze aus sich in Bewegung setzte. Daran beteiligten sich die Feuerwehr, die Schüler des Gymnasiums und der Bürgerschulen, der Kriegerverein, das Schützenkorps, der Männer-Turnverein und einzelne Innungen. Im Zuge, den das Stadtmusikkorps eröffnete, wurden mehr als 1000 Pechfackeln, Stocklaternen und Lampions getragen. Nach vollendetem Umzuge nahmen die Teilnehmer auf dem Marktplatze Aufstellung, und hier brachte der Beigeordnete Haldensleben das von der nach Tausenden zählenden Menge begeistert aufgenommene Hoch auf den Kaiser und König aus.

Am 31. Oktober wurde ohne besondere Feierlichkeit am Hause der Adler-Apotheke eine Gedenktafel für Lukas Cranach angebracht.

Der Festungscharakter Wittenbergs bildete wie wir in den früheren Kapiteln wiederholt dargetan haben eine beständige Gefahr für die Stadt und setzte diese in Kriegszeiten wiederholt den größten Drangsalen aus. Aber auch in Friedenszeiten bildeten die Rayon Bestimmungen eine fortgesetzte Belästigung der Bewohner und unterbanden die Entwickelung und Ausbreitung der Stadt.

So enthielt um nur einiges hervorzuheben das Rayon Gesetz vom 21. Dezember 1871 folgende lästigen Bestimmungen:
Innerhalb des zweiten Rayons waren unzulässig
– 1) alle Massivkonstruktionen von Gebäuden oder Gebäudeteilen,
– 2) jede Art von Gewölbebauten, sowie Eindeckungen von Kelleranlagen mit steinerner oder eiserner Konstruktion,
– 3) die Anlage von bleibenden Ziegel und Kalköfen,
– sowie überhaupt massiver zu Fabrik und sonstigen gewerblichen Zwecken bestimmter Öfen von größeren Abmessungen.
Ohne Genehmigung der Kommandantur waren nicht zulässig:
– 1) die Anlage von Beerdigungsplätzen,
– 2) die Errichtung von Grabhügeln von mehr als 50 Zentimeter Höhe, sowie von Denkmälern aus Stein oder Eisen, welche in den mehr als 50 cm über der Erdoberfläche liegenden Teilen eine größere Stärke haben, als 15 cm für Stein, bezüglich 2 cm für Eisen usw.
Immer dringender wurde daher der Wunsch der Bewohner, der Festungsring möge fallen. Dieser Wunsch kam nach dem siegreichen Kampfe gegen Frankreich seiner Erfüllung näher; hatte man sich doch in diesem Feldzuge genügend davon überzeugen können, daß die kleineren Festungen bei den Fortschritten der Waffentechnik kaum noch ernstlichen Widerstand leisten konnten und also ziemlich wertlos waren. Immerhin vergingen noch Jahre, ehe der beengende Gürtel fiel, ja, im Juli trat sogar in sehr bestimmter Form das Gerücht auf, Wittenberg würde überhaupt nicht entfestigt, sondern zu einem großen befestigten Lager erweitert werden, um so die Reichshauptstadt Berlin gegen einen von Süden erfolgenden etwaigen feindlichen Stoß zu decken.
Zu dem Zwecke würden der Apollensberg, der Gallun und andere auf dem rechten Elbufer im Halbkreise um die Festung liegenden dominierenden Höhen starke Befestigungen erhalten. Zum Glück für unsere Stadt bewahrheitete sich dieses Gerücht nicht.
In der Anfang Februar 1873 dem Bundesrate zugegangenen Gesetzesvorlage, betreffend die Umgestaltung deutscher Festungen, wurde neben den zur Aufhebung bestimmten Festungen Minden, Erfurt, Kosel, Graudenz, Koblenz und Stralsund auch Wittenberg genannt.
Bereits im April begannen die diesbezüglichen Verhandlungen zwischen dem Kriegsministerium und den städtischen Behörden. Diese erstreckten sich in erster Linie auf folgende Punkte: ob die Stadt
– 1) die Freilegung und gleichzeitige Verbreiterung der drei Tore (auf 15 Meter) beschleunigt sehen wolle,
– 2) die Durchlegung eines neuen Tores nach Mitternacht zu für wünschenswert erachte,
– 3) von dem zur Festung gehörigen Areale zunächst das Terrain zwischen dem Elstertore und der Arche des rischen Baches, die Armenhausschanze vor dem Schloßtore und das Elbtor-Ravelin nebst der diesem Werke vorliegenden Lünette und den zwischen beiden gelegenen Gartengrundstücken käuflich zu erwerben geneigt sei.
Die städtischen Behörden beantworteten die Anfragen im zustimmenden Sinne, und am 30. Mai wurde durch kaiserliche Kabinettsorder die Entfestigung Wittenbergs verfügt.
An dieses Ereignis erinnert das sogenannte „Entfestigungsdenkmal“ in den Anlagen vor dem Schloßtore. Bereits am 4. Juni begann man damit, ein Teil des Wallgrabens am Elstertore zuzuschütten, und am 11. Juni erfolgte die Aufhebung der lästigen Rayon Beschränkungen.
Nur die Sicherheitsrayons für die Pulvermagazine blieben bis zur Räumung derselben noch bestehen.
Die weitere Entwickelung der wichtigen Angelegenheit machte allerdings langwierige Verhandlungen, namentlich wegen Erwerbung des frei werdenden Terrains durch die Stadt, zwischen der städtischen Verwaltung und der Militärbehörde notwendig. Zu diesem Zwecke hatte die mit dieser Angelegenheit betraute städtische Deputation, die sich aus dem Bürgermeister Steinbach, Senator A. Naumann, Stadtverordnetenvorsteher F. Dorno und Stadtverordneten Rechtsanwalt Vette zusammensetzte, am 27. Juni im Kriegsministerinm sowie im Reichskanzleramte zu Berlin eine Audienz, aus der sie mit günstigem Bescheide zurückkehrte.
Ende August wurde durch Einziehung der Torwachen der Torverschluss aufgehoben und den wegen der noch bestehenden Mahl- und Schlachtsteuer an den Toren postierten Steuerbeamten der Wachtdienst dort allein über lassen.
Bald darauf wurden sämtliche 3 Tore zum Abbruch verkauft.
Als erstes wurde das Elbtor Ende August abgebrochen;
ihm folgte im Oktober das Elstertor und im März 1874 der Abbruch des Schloßtore.
Während der Abbrucharbeiten wurde die Passage durch die Tore gesperrt. Da zudem der Abbruch zuweilen sehr langsam von statten ging und Abbruchsmaterial und Schmutz an den Toreingängen längere Zeit lagerte, so wurden diese Arbeiten zu einem empfindlichen Verkehrshindernis, über welches lebhaft Klage geführt wird.
Am 4. Mai 1874 begannen die Durchbruchsarbeiten zu der neuen Torpassage in der Juristenstraße. Die Anwohner gaben ihrer Freude über dieses Ereignis durch Beflaggen der Häuser Ausdruck. Für die neue Passage war zunächst noch die Einführung von Waren, welche der Mahl- und Schlachtsteuer unterworfen waren, verboten.
Mit dem 28. August wurde die Kommandanturbehörde aufgelöst und der letzte Wittenberger Festungskommandant, Generalmajor v. Zedtwitz, in gleicher Eigenschaft nach Wesel versetzt.
Mit dem 1. September nahmen die Arbeiten zum Durchbruch der Passage an der Bürgermeisterstraße ihren Anfang – ein Ereignis, welches von deren Bewohnern nach Gebühr gewürdigt wurde.
Bei der im Oktober erfolgten Abtragung der höchsten Schanze, dem „hohen Kavalier“, dessen Erdmenge auf 20 000 cbm geschätzt wurde, stieß man in der Tiefe von etwa 1 Meter auf das Grabgewölbe, in welchem im Jahre 1817 der preußische Oberstleutnant im Ingenieurkorps des 4. Armeekorps und Brigadier der Festungen, Franz Wilhelm von Kleist, beigesetzt worden war.
Kleist war auf einer Inspektionsreise in Wittenberg erkrankt und nach vierzehntägigem Krankenlager gestorben. Sein Grab bereitete man ihm als besondere Ehrenbezeugung an ungewöhnlicher Stelle, in der Bastion „hoher Kavalier“, wo es, flankiert von mächtigen Kugelpyramiden, ein hübsch gelegenes, stilles Plätzchen bildete. Der zerfallene Sarg mit den Gebeinen des Kriegsmannes wurde herausgehoben und letztere in den bereitgehaltenen neuen Sarg gelegt, der sodann geschlossen und reich mit Kränzen geschmückt wurde.
Am 19. Oktober fand die Überführung nach dem neuen Gottesacker statt, wobei ein Infanterie-Kommando und die Offiziere der Garnison sowie der Militärgeistliche, Pfarrer Matthes, dem Leichenwagen folgten.

Wie sehr Kaiser Wilhelm I. sich für die Entfestigung Wittenbergs interessierte, bewies er dadurch, daß er auf seiner Rückreise aus dem Bade Gastein am 9. August 1874 auf dem hiesigen Bahnhofe Aufenthalt nahm.
Bei dem Diner, welches er mit seinem Gefolge in den festlich geschmückten Warteräumen einnahm, ließ er sich von dem Bürgermeister Steinbach einen genauen Bericht über den Stand der Entfestigungsarbeiten erstatten.

Mit der Niederlegung der Wälle und Schanzen war die Entfestigung unserer Stadt im wesentlichen vollendet und damit für deren Entwickelung freie Bahn geschaffen.
Einzelne Festungswerke hielten sich freilich noch längere Zeit; so wurde der alte Drachenkopf am Elbtore erst im Jahre 1879 abgebrochen, und der größte Teil des ehemaligen Brückenkopfes steht bekanntlich heute noch, als ein Denkmal zur Erinnerung an Wittenbergs wehrhafte Vergangenheit.

Mit dem im Februar 1876 vorgenommenen Abbruch des Elstertorturmes tauchten auch die sagenhaften Gerüchte von der angeblich dort vergrabenen französischen Kriegskasse wieder auf. Wenn man die verschiedenen darüber im Umlauf befindlichen Erzählungen zusammenstellt, so ergibt sich folgendes:
Es war anfangs Januar des Jahres 1814.
Die Franzosen unter Lapoype hatten Wittenberg besetzt und schalteten darin seit Monaten in der rücksichtslosesten Weise. Die Bewohner, die alle Drangsale einer Belagerung bis auf die Hefe durchkostet hatten, erwarteten mit Hoffen und mit Bangen ihre Erlösung von dem unerträglichen Elend durch die Einnahme der Festung seitens der Preußens.
Die Franzosen, das wussten sie, konnten sich nicht mehr halten, und nur die eiserne Pflicht, die militärische Ehre des Gouverneurs Lapoype hinderte sie an der Übergabe. Sei es aus Habsucht, sei es, um das Geld Napoleon zu erhalten, fasste Lapoype den Entschluss, die vorhandenen Summen, die er zum teil der Stadt selbst abgepresst hatte, der verschwiegenen Erde anzuvertrauen, um sie vielleicht zur geeigneten Zeit wieder zu heben.

In einer stillen Nacht hörten die Bewohner der Collegienstraße, des Marktes und der Schlossstraße ein eigentümliches Rollen und Klirren auf dem Pflaster und dazwischen den langsamen Schritt von Soldaten, Die wenigen Anwohner, die, von dem Geräusche aufgeschreckt, ängstlich durch die kleinen Scheiben spähten, bemerkten in der spärlichen Beleuchtung eine Abteilung Franzosen, in deren Mitte von Geniesoldaten eine Anzahl kleiner, aber augenscheinlich sehr schwerer Fässer langsam fortgewälzt wurde. Der Zug, der von einem Offizier geführt wurde, bewegte sich nach dem Schloßtore zu.
Hier waren bereits alle Vorbereitungen getroffen.
Irgendwo in dem bloßgelegten Fundamente der Schlosskirche oder des Schlosses war ein Gewölbe hergestellt oder aufgedeckt worden, welches die Fässchen mit ihrem wertvollen Inhalte aufnahm und so dann von einem Maurer, den man unter hohen Versprechungen gewonnen und dessen Namen und Heimat niemand zu nennen weiß, wieder geschlossen wurde. Über das geschlossene Gewölbe wurde Erde geschaufelt. Der unglückliche Maurer wurde beim grauenden Morgen unter der Beschuldigung, Spionen Dienste geleistet zu haben, erschossen.

Die ganze Erzählung trägt den Stempel des Unwahrscheinlichen und kennzeichnet sich als eine Ausgeburt der erhitzten Phantasie, wenngleich in ihr auch ein Körnchen Wahrheit stecken mag, ebenso wie in der weiteren Erzählung, daß gleich nach der Einnahme Wittenbergs verschiedene geheimnisvolle Nachgrabungen zur Nachtzeit stattgefunden haben.
Jedenfalls dürften diese nichts zutage gefördert haben, ebenso wenig, wie man bei dem Abbruch der Festungswerke etwas von dem angeblich vergrabenen Kriegsschatze entdeckt hat. Die Erinnerung an diesen lebte wieder auf, als man im Jahre 1884 bei dem Umbau der Schlosskaserne im Schlosshofe auf ein altes Gewölbe stieß. Aber auch in diesem fand sich nichts, was mit dem vielerörterten Kriegsschatze in Beziehung gestanden hätte. Das Gewölbe wurde nach kurzer Untersuchung wieder zugeschüttet.

Nachdem wir im Vorstehenden die einzelnen Phasen der Entfestigung unserer Stadt im Zusammenhange dargestellt haben, wollen wir noch einen kurzen Blick auf die übrigen bemerkenswerten Ereignisse während dieses Zeitraumes werfen.
Mit dem 13. Dezember 1878 war die vom Abgeordnetenhause und Herrenhause beschlossene neue Kreisordnung Gesetz geworden, welche einschneidende Neuerungen in der Verwaltung des Kreises schuf.
In Ausführung dieser Ordnung wurde der Kreis Wittenberg in 12 Amtsbezirke eingeteilt;
auf dem rechten Elbufer:
– Klein- Wittenberg,
– Straach,
– Kropstädt und
– Elster;
auf dem linken Elbufer:
– Bleesern,
– Pratau,
– Radis,
– Wartenburg,
– Trebitz,
– Reinharz,
– Pretzsch und
Dahlenberg.
Der damalige Landrat des Wittenberger Kreises, von Jagow, hatte in seiner Eigenschaft als Abgeordneter wie gegen das Schulaufsichtsgesetz so auch gegen die Kreis Ordnung gestimmt und wurde aus diesem Grunde von der Regierung zur Disposition gestellt.
Die Verwaltung des Kreises wurde Dr. v. Koseritz zuerst kommissarisch und vom Juli 1874 ab endgültig übertragen.
Mit, dem 1. Januar 1874 trat der neugewählte Kreisausschuß und Kreistag in Tätigkeit. Die Sitzungen fanden bis auf weiteres im hiesigen Rathause im Sitzungssaale der Stadtverordnetenversammlung statt. Eine der ersten Aufgaben, welche den Kreistag beschäftigte, bildete die Geradelegung der Halle – Berliner Chaussee durch den Brückenkopf.
Diese ging früher bereits von der Elbbrücke aus in gerader Linie bis nach Pratau. Als jedoch die Berlin-Anhalter Eisenbahngesellschaft in den Jahren 1857 bis 1859 die Eisenbahnlinie Wittenberg-Leipzig-Halle baute, wurde die Gesellschaft von der Militärbehörde genötigt, zum Schutz des Elbüberganges den neuen Brückenkopf zu bauen, die neue Eisenbahn durch diesen in krummer Linie hindurch und die Chaussee in weitem Bogen rechts um den Brückenkopf zu führen.
Diese ungünstige Verlegung der stark frequentierten Landstraße rief damals bei allen Interessenten lebhafte Unzufriedenheit hervor. Es ließ sich aber nichts dagegen machen, da diese Anlage aus fortifikatorischen Rücksichten geboten erschien, denen sich natürlich alle anderen Interessen unterzuordnen hatten.

Durch die Entfestigung Wittenbergs wurden nunmehr die für die damalige Anlage maßgebenden Gründe hinfällig, und die Berlin-Anhalter Eisenbahngesellschaft wollte daher mit Genehmigung der Militärbehörde die Bahnlinie von der Eisenbahn-Elbbrücke bis nach der Flutbrücke geradelegen.
Es lag auf der Hand, daß, wenn der Kreis die Verlegung der Chaussee gleichzeitig mit der Abänderung der Eisenbahnlinie ausführen konnte, die Baukosten um ein Beträchtliches geringer sein mussten, als wenn er die Verlegung zu einer anderen Zeit und allein ausführen würde, abgesehen davon, daß die Genehmigung der Militärbehörde zu einem späteren Bau vielleicht nur schwer zu erlangen gewesen wäre.
Trotz dieser klaren Sachlage machte sich doch in der zur Beratung dieser Angelegenheit einberufenen Sitzung des Kreistags eine bedeutende Opposition gegen die vorgeschlagene Verlegung der Chaussee geltend, deren Führer der frühere Landrat von Jagow war.
Man befürchtete von der Führung der Chaussee an der Eisenbahnlinie entlang eine Gefahr für den Verkehr auf dieser. Da aber auf der Eisenbahnstrecke damals täglich im ganzen nur 14 abgehende und ankommende Eisenbahnzüge passierten, so konnte dieser Grund nicht ausschlaggebend sein.
Der Kreistag beschloss denn auch am 16. März 1874 mit großer Mehrheit, wenn auch unter heftigem Proteste des Herrn von Jagow, die Geradelegung der Chaussee durch den Brückenkopf unter der Voraussetzung, daß die Regierung die Hälfte der auf 4000 Taler veranschlagten Kosten übernehmen würde.

Am 18. April 1873 fand auf dem hiesigen Bahnhofe die feierliche Einholung der Prinzessin Maria von Sachsen- Altenburg statt, die zur Vermählung mit dem Prinzen Albrecht von Preußen nach Berlin reiste.
Auf Befehl Kaiser Wilhelms I. war der Prinzessin der kaiserliche Eisenbahn-Salonwagen bis nach Wittenberg entgegengesandt worden.
Zum Empfang hatten sich auf dem Bahnhofe außer dem beiderseitigen Hofstaate die Spitzen der Zivil- und Militärbehörden der Provinz Sachsen, des Kreises und der Stadt Wittenberg eingefunden.
Die gegen 12 Uhr mittags erfolgte Ankunft der fürstlichen Braut wurde durch den Donner der rings um die Stadt aufgestellten Geschütze verkündet, während das eigens von Magdeburg beorderte Musikkorps des 27. Infanterie-Regiments die Prinzessin mit einer von dem Bräutigam komponierten Siegeshymne und dem Preußenmarsch begrüßte.

Einen in Sanitärer Hinsicht wichtigen Beschluß faßte am 1. Juli dieses Jahres Stadtverordnetenversammlung:
den Bau einer Strombadeanstalt in der Elbe.
Diese wurde an der Schützenwiese zwischen der 3. und 4. Buhne mit einem aus den Überschüssen des Sparkassen-Reservefonds entnommenen Kostenbetrag von 2 450 Talern errichtet.

Das Infanterie-Regiment Nr. 20 gehörte mit zu den Truppen, welche bis zur völligen Bezahlung der Kriegsschuld bestimmte Teile Frankreichs besetzt hielten.
Nach dreijähriger Abwesenheit kehrten die beiden ersten Bataillone desselben am 6. August 1873 in ihre alte Garnisonstadt Wittenberg wieder zurück.
Am 24. Juli trafen bereits 104 Kranke des Regiments hier ein, die im Garnisonlazarett Aufnahme fanden.
Am 1. August rückte das Füsilier-Bataillon des 52. Infanterie-Regiments und das Füsilier-Bataillon des 27. Infanterie-Regiments von hier nach ihren neuen Garnisonen Cottbus bzw. Halberstadt ab, um den ankommenden Garnisontruppen Platz zu machen.
Am 6. August trafen diese in zwei Sonderzügen auf dem hiesigen Bahnhofe ein. Zum Empfange war eine zum Teil aus weiter Ferne herbeigeeilte Menge versammelt, die bei dem Einlaufen der Züge in begeisterte Hochrufe ausbrach.
Die erste Begrüßung fand auf dem festlich geschmückten Bahnhofe durch den Stadtkommandanten, Oberst von Zedtwitz, statt.

Da beide Bataillone nicht zu gleicher Zeit eintreffen konnten – das erste kam am Vormittage, das zweite im Laufe des Nachmittags an – beide aber gemeinsam ihren Einzug in die Stadt halten sollten, so wurden die Mannschaften am 6. August vorläufig in den Vorstädten und nächst liegenden Dörfern einquartiert. So gewann die Stadt Zeit, sich in einen reichen Schmuck von Fahnen, Laubgewinden und Kränzen zu hüllen.
Auf dem Marktplatze wurde durch eine Doppelreihe von Flaggenstangen, die durch Laubgewinde miteinander verbunden waren, ein Halbkreis gebildet, innerhalb dessen die Begrüßung der Zurückkehrenden durch die städtischen Behörden erfolgen sollte.
Die an den Fahnenmasten befestigten Schilder nannten die Namen der Schlachten und Gefechte, an denen das tapfere Regiment teilgenommen hatte.
Am Morgen des 7. August hatten beide Bataillone links vom Elstertore Aufstellung genommen.
Dorthin begab sich eine aus den beiden städtischen Behörden gebildete Deputation, um die Truppen in die Stadt zu geleiten. Um 7 Uhr setzte sich der Zug unter dem Geläute der Glocken in Bewegung, durch die Collegienstraße nach dem Marktplatze, wo er in den gebildeten Halbkreis einschwenkte.
Hier hatten sich die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung, die Geistlichen, das Lehrerkollegium des Gymnasiums und der Bürgerschule, umgeben von ihren Schülern, aufgestellt.
Bürgermeister Steinbach hieß die Heimgekehrten namens der Stadt herzlich willkommen und brachte auf den Kaiser sowie auf das tapfere 20. Regiment ein Hoch aus.
Der Regimentskommandeur, Oberst von Fuchs, sprach den Dank des Regiments für den warmen Empfang aus, indem er gleichzeitig der Hoffnung auf ein gutes Einvernehmen zwischen Militär und Bürgerschaft Ausdruck gab.
Sodann wurden dem Offizierskorps Lorbeerkränze überreicht, und auch die Feldzeichen der Truppen wurden mit Lorbeer geschmückt. Mittags wurde den Truppen auf städtische Kosten ein Willkommenstrunk gereicht.
Für die Offiziere fand am Abend im Meynerschen Lokale eine Theatervorstellung statt, bei welcher seitens der Stadt ein kalter Imbiß mit Wein geboten wurde.
Die Avancierten, vom Feldwebel abwärts, wurden im Mittmannschen Lokale auf Rechnung der Stadt bewirtet.

Am 18. August gab der Magistrat bekannt, daß mit Genehmigung der Königlichen Regierung zu Merseburg die Mitglieder des Magistrats statt des bisherigen Titels „Senator“ von jetzt ab den Amtstitel „Stadtrat“ führen würden.

Im Meynerschen Saale hielt am 29. September bis 1. Oktober der „Christlich konservative Lehrerbund“ seine Hauptversammlung ab.
In der Hauptversammlung des Bundes, der in den letzten Jahren auf ca. 400 Mitglieder zusammengeschmolzen war, wurde u. a. über das Thema verhandelt
„Die Regulative vom 3. Oktober 1854 und die Allgemeinen Bestimmungen von Sr. Exzellenz dem Herrn Kultusminister Dr. Falk vom 15. Oktober 1872″.

Bezeichnend für den Bund war es, daß sich der Referent, Rektor Iskraut aus Wusterhausen a. d. Dosse, unter der Zustimmung der Mehrzahl der erschienenen Mitglieder ablehnend, zu den durch die „Allgemeinen Bestimmungen“ geschaffenen Fortschritten auf dem Gebiete der Schule und der Lehrerbildung verhielt.

Die durch dem Königlichen Erlass vom 10. September 1873 betreffend die Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten angeordneten kirchlichen Wahlen wurden in unserer Stadt am 4. bzw. 11. Januar 1874 zum ersten Male vollzogen.
Es wurden am 4. Januar in den Gemeindekirchenrat
– 11 Kirchenälteste
und in die kirchliche Gemeindevertretung am 11. Januar
– 36 Gemeindevertreter gewählt.
Die erste gemeinschaftliche Sitzung beider Körperschaften fand am 9. Februar 1874 statt.

Das seit dem Jahre 1863 im Verlage von Woldemar Fiedler wöchentlich dreimal erscheinende „Wittenberger Wochenblatt“ erhielt mit dem 1. Juli 1874 den Charakter des amtlichen „Wittenberger Kreisblattes“ und erschien unter diesem Titel seitdem täglich mit Ausnahme der Sonn- und Festtage.

Mit dem 1. Oktober dieses Jahres trat das neue Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes in Kraft.
In unserer Stadt wurde die erste Ziviltrauung am 19. Oktober durch den Standesbeamten, Bürgermeister Steinbach, vollzogen.

Am 6. Dezember erfolgte in der Schlosskirche die feierliche Einweihung der vier Ehrentafeln für die in den Kriegen 1866 und 1870/1871 gefallenen Angehörigen der Wittenberger Garnison.
Die dem Eingange gegenüber angebrachten mit dem eisernen Kreuz und mit geschnitzten Lorbeerzweigen verzierten Tafeln waren zur Feier mit Blumengewinden geschmückt.
Am Altare hatten die Fahnenträger mit den entfalteten Bataillonsfahnen und einer Offizier-Ehrenwache Aufstellung genommen.
Die ergreifende Weiherede hielt der Militärpfarrer, Diakonus Koch.

Mit dem 1. Januar 1875 wurde endlich die seit dem 1. Januar 1831 hier bestehende und schon lange bekämpfte Mahl- und Schlachtsteuer aufgehoben und durch eine Gemeindeeinkommensteuer ersetzt.
Trotzdem dadurch Mehl und Fleisch billiger wurde, so benutzten doch die Bäcker und Fleischer:
diese Gelegenheit, unter Berufung auf das mit dem gleichen Zeitpunkte zur Einführung gelangte neue Münzsystem (Rechnung in Reichsmark) die Preise für Backwaren bzw. Fleischwaren zu erhöhen.
Dieses Vorgehen rief in der Stadt allgemeine Entrüstung hervor, die sich besonders in heftigen Ausfällen in der Lokalpresse Luft machte.
Mit dem gleichen Termine kam noch eine andere Abgabe von ehrwürdigem Alter in Fortfall:
auf den staatlichen Chausseen wurde am 1. Januar das Chausseegeld aufgehoben.
Die Dienstgebäude der Einnehmer wurden den betreffenden Kreisen überwiesen.

Am 23. März wählte die Stadtverordneten-Versammlung an Stelle des in den Ruhestand tretenden bisherigen Bürgermeisters Steinbach den Gymnasial-Oberlehrer Dr. Schild in Waldenburg (der bis 1874 am Wittenberger Gymnasium wirkte) mit 16 von 20 Stimmen zum Bürgermeister von Wittenberg.
Am 29. September traf der Gewählte mit seiner Familie in der Lutherstadt ein, wo ihm ein warmer, herzlicher Empfang zuteil wurde.
Eine Deputation der städtischen Behörden war ihm bis Jüterbog entgegengefahren.
Eine zweite Deputation begrüßte ihn bei der Ankunft auf dem hiesigen Bahnhofe, wobei von drei weißgekleideten Schülerinnen der ersten Klasse der Mädchenschule ein Blumenstrauß mit entsprechenden Begrüßungsversen überreicht wurde.
Am 1. Oktober geschah in einer Festsitzung der beiden städtischen Behörden die Einführung Dr. Schilds in sein Amt durch den Königlichen Landrat von Koseritz.
Im Anschluß daran fand unter großer Beteiligung ein Festessen im Meynerschen Saale statt.
Dr. Schild hat fast 19 Jahre lang als Bürgermeister an der Spitze unserer Stadt gestanden und sich große Verdienste um deren Entwickelung erworben.
Namentlich in der schwierigsten Periode der Entfestigung hat er mit großem Eifer für das Wohl Wittenbergs gearbeitet. Mit außerordentlichem Geschick und großem Erfolg repräsentierte er die Stadt bei den während seiner Amtsperiode hier stattfindenden zahlreichen Festen, wobei er durch eine hervorragende Redegabe unterstützt wurde.
Ihm zu Ehren wurde die am südlichen Stadtgraben sich hinziehende Straße ,“Schildstraße“ genannt.
Im Jahre 1886 hatte ihm die Stadtverordnetenversammlung sein Gehalt um 900 Mark, also auf 6 000 Mark erhöht. Dazu bezog er für Verwaltung des Standesamts, der Amtsanwaltschaft und der Kuratoren Stelle der Universitätsverwaltung noch 1500 Mark, sodaß sein gesamtes Einkommen sich auf 7500 Mark belief.
Leider verstand es aber Dr. Schild nicht, seine Ausgaben mit seinen Einnahmen in Einklang zu bringen, sodaß er immer stärker in Schulden geriet und schließlich beträchtliche Unterschlagungen an den ihm anvertrauten städtischen Geldern beging.
Als schließlich seine Verfehlungen entdeckt wurden, reiste er nach Magdeburg, wo er auf dem dortigen Friedhofe am 1. Juni 1894 einen Selbstmordversuch unternahm und infolge der dabei erhaltenen schweren Verletzung am 5. Juni starb. Bei dem über sein Vermögen eröffneten Konkurs ergaben sich 69 374 M. angemeldete und gerichtlich anerkannte Forderungen, zu deren Befriedigung nur ein Massenbestand von 1 511 Mark vorhanden war, sodaß an die Gläubiger nur rund 2 Prozent verteilt werden konnten.
Die Affäre Schild erregte bis weit über die Grenze Wittenbergs hinaus peinliches Aussehen. Die Erregung darüber war natürlich in unserer Stadt sehr groß, zumal da auch andere Personen in diese üble Sache hineingezogen wurden; sie gelangte u. a. auch darin zum Ausdruck, daß man den Namen der nach Schild benannten Straße in „Wallstraße“ umwandelte.

Zum Bürgermeister unserer Lutherstadt wählte die Stadtverordnetenversammlung Herrn Dr. Schirmer aus Bunzlau.

Die gesteigerten Verkehrsverhältnisse machten einen Umbau und die Erweiterung unseres Bahnhofs notwendig.

Zur Anlage eines zweiten Gleises für die Strecke Wittenberg-Leipzig erwarb die Berlin-Anhalter Eisenbahngesellschaft von der Stadt 3 Morgen von der sogenannten Kuhlache zum Preise von 2 400 M. pro Morgen und von der Schützengesellschaft 2 Morgen von der neben der Kuhlache belegenen Wiese zum Preise von 2 850 M. pro Morgen.
Am 15. Oktober 1875 wurde die neuerbaute Eisenbahnlinie Wittenberg Falkenberg ohne besondere Feierlichkeit eröffnet, nachdem bereits am 11. Oktober die baupolizeiliche Abnahme der Strecke erfolgt war.
Das neuerbaute Bahnhofsgebäude wurde am 13. November 1877 dem Verkehr übergeben.

Am 16. November 1875 beging der älteste und bedeutendste der Wittenberger Gesangvereine – der Steinsche Gesangverein – sein 25jähriges Jubiläum durch ein in „Schreibers Garten“ veranstaltetes Konzert, bei welchem das Otto’sche Tongemälde „Das Stiftungsfest“ zur Aufführung gelangte.
Der gemischt Chörige Steinsche Gesangverein wurde am 1. November 1850 durch den Kantor und Organisten unserer Stadtkirche, Carl Stein, gegründet.
Carl Stein war am 28. Oktober 1824 zu Niemegk als Sohn des dortigen Oberpfarrers D. Stein geboren. Seine musikalische Ausbildung erhielt er auf der Hochschule für Musik in Berlin.
Hier schuf er die Komposition, „Ein Abend in Venedig“, die von der Königlichen Akademie der Künste mit der silbernen Medaille prämiiert wurde.
Im Jahre 1850 wurde Stein nach Wittenberg berufen, wo er 50 Jahre lang als Kantor und Organist unserer Stadtkirche sowie als Gesanglehrer am Gymnasium und an der Bürgerschule mit Eifer und Hingabe tätig gewesen ist.
Er hat dem musikalischen Leben Wittenbergs, das sein eigenstes Werk ist, sein Gepräge gegeben.
In Anerkennung seiner Verdienste wurde Stein im Jahre 1860 zum Königlichen Musikdirektor ernannt; bei der Einweihung der restaurierten Schlosskirche am 31. Oktober 1892 erhielt er den Kronenorden IV. Klasse, und bei seinem 50jährigen Dienstjubiläum am 28. September 1900 wurde ihm der Titel Professor verliehen.
Nach einem arbeitsreichen Leben starb er im Jahre 1902.
Carl Stein hat eine reiche Anzahl gehaltvoller Kompositionen geschaffen, von denen hier genannt seien die Sammlungen Sursum corda, Aula und Turnplatz, Lust, Liebe, Leid.

Die am 1. Dezember 1875 vorgenommene Volkszählung ergab für unsere Stadt folgendes Resultat:
es waren vorhanden an Haushaltungen:
– in der Stadt Wittenberg 1 948,
– in der Schlossvorstadt 243,
– in der Elstervorstadt 150 und
– in Friedrichstadt 190,
zusammen 2 537 Haushaltungen.
An Einwohnern wurden gezählt:
– in der Stadt Wittenberg 9 464,
– in der Schlossvorstadt 1233,
– in der Elstervorstadt 761,
– in Friedrichstadt 842,
zusammen 12 300 Einwohner,
darunter 10 668 Zivileinwohner und 1632 Militärpersonen.

Am 14. Januar 1876 beschlossen die städtischen Behörden, dem Kultusminister Dr. Falk wegen seiner Verdienste um den freiheitlichen Ausbau der evangelischen Kirche das Ehrenbürgerrecht der Stadt Wittenberg zu verleihen.
Der Ehrenbürgerbrief wurde am 1. Februar, dem Tage der Silberhochzeit Falks, diesem durch eine Deputation, die aus dem Bürgermeister Dr. Schild und dem Stadtverordnetenvorsteher Dorno bestand, übergeben.
Bei der im Dezember 1907 erfolgten Benennung der neueren Straßen ehrte Wittenberg seinen berühmten Ehrenbürger von neuem dadurch, daß es der bisherigen Potsdamerstraße den Namen Falkstraße gab.

Anfang Februar 1876 verursachte das durch schnelles Tauwetter herbeigeführte Hochwasser in der Stadt und ihrer Umgebung beträchtlichen Schaden.
Am 16. Februar bildete die Gegend am Elstertor, die große Friedrichstraße und das Lindenfeld einen vollständigen See.
Der Trajuhnsche Bach, der rische Bach und der Piesteritzer Bach waren hoch angeschwollen und setzten die niedrig gelegenen Häuser und Ställe unter Wasser.
Der neue Eisenbahndamm der Falkenberger Bahn war bei der Rothemühle durch die Ueberschwemmung für die Eisenbahnzüge unpassierbar gemacht, so daß die Fahrgäste an jener Stelle umsteigen mussten.
Im rischen Bache an der Bruchmühle ertrank der Tuchmacher Groch von Wittenberg und im Piesteritzer Bache der Zimmermann Fröbe aus Klein-Wittenberg.
In großer Gefahr schwebten die in der Elbaue liegenden Ortschaften, da die Elbe am 22. Februar einen Wasserstand von 16 Fuß (4,96 m) erreichte.
Nur mit der größten Anstrengung gelang es, den Elbdamm zu halten.
Im Regierungsbezirke Magdeburg geschahen mehrfache Dammbrüche. Besonders schwer wurde die Stadt Schönebeck heimgesucht. Von ihren 700 Wohnhäusern wurden 600 unter Wasser gesetzt, und mehr als 30 stürzten ein, während die übrigen meist arg verwüstet wurden. Die Bewohner konnten vor der andringenden Flut oft nur das nackte Leben retten.
Auch in Wittenberg wurden für die Überschwemmten Sammlungen eröffnet und seitens mehrerer Vereine Konzerte und Theatervorstellungen zu deren Besten veranstaltet.
Im ganzen wurde aus Wittenberg nach Schönebeck die Summe von 1 371 M. gesandt, abgesehen von Wäsche, Kleidungsstücken usw.
Kaum war die Gefahr der Überschwemmung für unsere Gegend vorüber, als am 13. März ein furchtbarer Sturm in der Stadt und ihrer Umgebung großen Schaden anrichtete. Die von dem Orkane hochgepeitschten Fluten unterwuschen das Eisenbahngleis zwischen Elb- und Schloßtore in einer Länge von 24 Fuß (7,44 m) und 6 Fuß (1,86) Breite, so daß die Schienen freigelegt wurden und die Morgenzüge nach Dessau ausfallen mussten.
Oberhalb Pretzsch brachte der Sturm in Verbindung mit den hochgehenden Wogen zwei größere Elbkähne zum Sinken.

Durch den Sturm waren auch die Telegraphenleitungen, die damals noch sämtlich oberirdische waren, zum größten Teile zerstört worden. Um derartigen Schädigungen für die Zukunft enthoben zu sein, unternahm es die Telegraphenverwaltung, die wichtige 165 km lange Linie Berlin-Halle als erste in Deutschland unterirdisch zu legen.

Am 27. April erfolgte die Legung des Telegraphenkabels, das sieben leitende Kupferdrähte in Guttapercha-umhüllung enthielt, durch unsere Stadt, und zwar in der Richtung
– Elbstraße,
– Schloss Straße,
– Schlossplatz,
– Pfaffenstraße,
– Ende der Juristenstraße,
– Berliner Straße und
– Berliner Chaussee.
Kurz darauf wurde das Kabel glücklich durch den Elbstrom gelegt. Die bekannten beiden Kugeln auf hohen Pfählen am rechten Elbufer unterhalb der Elbbrücke zeigen dort seine Lage an.
Am 1. Juli wurde das Kabel in Betrieb genommen.

Den 100 jährigen Geburtstag der Königin Luise am 10. März begingen die hiesigen Schulen durch entsprechende Festakte. Gleichzeitig wurde in unserer Stadt eine lokale Abteilung der zu Ehren der unvergesslichen Königin ins Leben gerufenen Luisen-Stiftung begründet.
Diese Stiftung hat nach § 1 ihrer Satzungen den Zweck, begabten Kindern beiderlei Geschlechts, ohne Unterschied des religiösen Bekenntnisses, aus den Volks- und Elementarschulen der Städte und des platten Landes nach Kräften bis zu ihrer Selbständigkeit Beistand zu gewähren.“

Am 26. Juli verließ die 7. Kompagnie der Garde- Fuß-Artillerie ihre bisherige Kaserne, den Brückenkopf, um nach beendeter Schießübung nach ihrer neuen Garnison, Küstrin, überzusiedeln.

Der seit der Entfestigung wesentlich gestiegene Verkehr in unserer Stadt brachte den Kaufmann Th. Seelmann auf den Gedanken, hier nach dem Muster größerer Städte ein Dienstmanns-Institut zu begründen.
Am 9. Dezember trat dieses mit 3 Dienstmännern ins Leben. Wegen Mangel an Beschäftigung ging das Institut aber später wieder ein.
An seine Stelle traten dann die selbständigen Dienstmänner.

Im Oktober desselben Jahres begannen die Arbeiten zum Bau des Elbhafens. Durch Anstellung einer großen Zahl von Arbeitern (bis 200), durch Anwendung von Dampfbaggern, usw. wurde das Werk so gefördert, daß der Hafen im Dezember 1879 in Betrieb genommen werden konnte. Im Jahre 1883 wurde der Hafen, der bis dahin nur Winterschutzhafen war, zum Handelshafen ausgebaut.
Durch die Entfestigung war auch für die Entwickelung der Industrie in unserer Stadt Raum geschaffen worden.

Durch die Entfestigung war auch für die Entwickelung der Industrie in unserer Stadt Raum geschaffen worden.
Als erstes größeres Fabriketablissement wurde im Juli 1877 die Bourzutschkysche Spritfabrik errichtet. Aber über dem Unternehmen schien ein Unstern zu walten, denn bereits in der Nacht zum 25. Juni des folgenden Jahres brach in der Fabrik ein Brand aus, bei dem die drei massiven Fabrikgebäude vollständig ausbrannten und 70 000 Liter Spiritus vernichtet wurden. Bei den Löschversuchen kam leider der Feuerwehrmann Schulze in den Flammen um, und mehrere Feuerwehrleute wurden verletzt, darunter der Feuerwehrmann Köhne so schwer, daß er bald darauf seinen Verletzungen erlag. Ihrem in Ausübung seiner Pflicht getöteten Kameraden Schulze errichtete die freiwillige Feuerwehr im Jahre 1879 ein Grabdenkmal. Ein neuer durch einen Blitzschlag verursachter Brand suchte die Fabrik im August 1900 heim und zerstörte die Fabrikgebäude sowie das Wohnhaus der Firma Bourzutschky.
Im Jahre 1877 wurde die Garnison unserer Stadt um das Füsilier Bataillon des Brandenburgischen Infanterieregiments Nr. 20 vermehrt, das am 30. September, von Treuenbrietzen kommend, hier einrückte, wo es von den städtischen Behörden und dem Offizierskorps der Garnison festlich empfangen und von den Einwohnern herzlich begrüßt wurde.
Der größte Teil des Bataillons bezog das zur Kaserne umgebaute Artillerie-Wagenhaus, der Rest fand in Bürgerquartieren Aufnahme. Die Unterbringung der Mannschaften in Bürgerquartieren hörte mit Errichtung der neuen Kaserne auf dem Gelände der Kavalierschanze auf.
Der Grundstein zur „Kavalierkaserne“ wurde am 4. September 1880 gelegt.
Bezogen wurde die neue Kaserne am 14. Juli 1883 durch das Füsilier Bataillon des 20. Infanterieregiments.

Das Jahre 1877 war für die Landwirtschaft unserer Gegend recht ungünstig. Infolge großer Trockenheit im Monat Juni und Anfang Juli trat eine vorzeitige Ernte ein; auch bereitete die in der Umgegend auftretende Wanderheuschrecke und der Kartoffelkäfer den Landwirten große Sorge.

Im Juli wurde die neu angelegte zweite Eisenbahn- Strombrücke fertiggestellt.

Mit dem Ende des Jahres konnte die Stadt ein frohes Doppelfest feiern:
Am 8. Dezember vollendete Stadtrat H. Holzhausen und Stadtverordneter F. Dorno eine 25 jährige Tätigkeit in ihren städtischen Ehrenämtern. Durch eine Deputation der beiden städtischen Behörden wurde jedem der Jubilare als Ehrengeschenk der Stadt ein silberner Becher überreicht, der die von einem Lorbeerkranze umgebene eingravierte Widmung trug:
„Dem Herrn Stadtrat Holzhausen (resp. Stadtverordneten Dorno) zu seinem 25 jährigen Jubiläum im Ehrendienste der Stadt Wittenberg, am 8. Dezember 1877.“
Am Abend des Tages fand zu Ehren der Jubilare eine Festfeier in Meynerschen Saale statt.

Große Erregung erfasste alle Kreise der Bürgerschaft, als der Telegraph die Kunde von dem durch den Klempnergesellen Hödel auf Kaiser Wilhelm I. am 11. Mai 1878 verübten frevelhaften Attentate übermittelte.
Glücklicherweise hatten die auf den greisen Monarchen abgegebenen Schüsse ihr Ziel verfehlt.
Aus diesem Anlaß richteten beide städtische Körperschaften an den geliebten Landesherrn folgende Adresse:

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser und König!
Allergnädigster Kaiser, König und Herr!

Ew. Kaiserlich Königliche Majestät sind durch Gottes Hilfe aus schwerer Gefahr errettet und unserm Vaterlande erhalten worden.
Im Namen der von uns vertretenen alten Lutherstadt bringen Ew. Majestät wir aus tiefstem Herzen allerunterthänigst unsere Glückwünsche dar und flehen zu Gott, daß noch lange, recht lange lebe unser geliebter allergnädigster Kaiser Wilhelm I.

In tiefster Ehrfurcht ersterben wir als
Ew. Raiserlich Königliche Majestät
treu gehorsamste

Der Magistrat                                                    Die Stadtverordneten

Zur Erinnerung an die Errettung des Kaisers aus Lebensgefahr wurde eine milde Stiftung, die „Kaiser Wilhelm-Spende“, begründet.
Auch in Wittenberg trat ein Zweigkomitee der Stiftung zusammen. Es wurden in der Stadt 12 Sammelstellen eingerichtet, die zusammen 538 M. 35 Pf. vereinnahmten.

Noch hatten sich die Wogen der Erregung über die Freveltat nicht gelegt, als schon ein zweites Attentat auf den greisen Monarchen die Welt in Schrecken versetzte.
Ein heruntergekommener Mensch, Dr. Nobiling, hatte am 2. Juni aus dem Fenster eines Hauses „Unter den Linden“ in Berlin mehrere Schüsse auf den Kaiser abgefeuert und den teureren Landesherrn durch zwei Schrotschüsse an der linken Kopfseite und am linken Arme verwundet – zum Glück nicht lebensgefährlich.
Die durch Extrablatt in unserer Stadt verbreitete Nachricht rief allgemein die tiefste Entrüstung hervor.
Aus Anlass der glücklichen Errettung des Kaisers fanden hier am 3. Juni zwei Dankgottesdienste statt, der eine als Feldgottesdienst nachmittags 6 Uhr auf dem kleinen Exerzierplatze hinter „Schreibers Garten“, der andere 6½ Uhr in der Stadtkirche.

Aus dem Jahre 1878 ist noch folgendes zu berichten:
Am 30. Juni wurde der zum Oberpfarrer an unserer Stadtkirche und zum Direktor des hiesigen Königlichen Predigerseminars gewählte Pastor prim. Lic. Rietschel aus Zittau durch den Generalsuperintendenten D. Schulze aus Magdeburg in sein Amt eingeführt.

Am 6. Juli wurde der Lehrerverein Wittenberg und Umgegend unter dem Vorsitz des Lehrers Möbius gegründet.

Am 11. August feierte der hiesige Turnverein den 100. Geburtstag des Turnvaters Jahn durch einen Umzug durch die Straßen der Stadt und eine Turnfahrt nach Wörlitz, um dort in Gemeinschaft mit den Turnvereinen Coswig, Wörlitz und Oranienbaum den Gedenktag durch ein Turnfest zu begehen.

Am gleichen Tage wurde der Grundstein zu unserm Kreishause in der Lindenstraße gelegt. Der Bau, dessen Kosten auf 150 000 Mark veranschlagt waren, wurde im Jahre 1880 vollendet.

Wie rege die Bautätigkeit in unserer Stadt nach deren Entfestigung eingesetzt hatte, geht aus der Bekanntmachung des Magistrats vom 16. August 1878 hervor, in der er auf Grund des ausgestellten Bebauungsplanes die Namen der neu angelegten Straßen vor den bisherigen Toren bekannt gibt. Es waren dies:
– Dessauerstraße,
– Rothemark straße,
– Tauenzienstaße,
– Berlinerstraße,
– Kranachstraße,
– Ackerstraße,
– Melanchthonstraße,
– Bugenhagenstraße,
– Lindenstraße,
– Gartenstraße,
– Lutherstraße,
– Bachstraße,
– Adlerstraße,
– Sternstraße,
– Friedrichstraße,
– Beierstraße,
– Bahnstraße und
– Falkenstraße
(nicht zu verwechseln mit der heutigen, zu Ehren des Wittenberger Ehrenbürgers, Kultusminister Dr. Falk, benannten Falkstraße, der früheren Potsdamerstraße).

Vom 14. bis 15. August fand in unsern Mauern die Jahresversammlung der Gustav Adolf-Vereine der Provinz Sachsen statt. Eingeleitet wurde die Tagung am 14. August abends 6 Uhr durch einen Festgottesdienst in der Stadtkirche, wobei Superintendent Lic. Rietschel die Festpredigt hielt,
Am Hauptfesttage früh 7 Uhr begrüßte die Festteilnehmer der vom Turme der Stadtkirche geblasene Choral „Ein feste Burg“. Um 8½ Uhr fand im Rathaussaale die Begrüßung der Gäste durch den Bürgermeister Dr. Schild statt, worauf sich um 9 Uhr vor dem Rathause der Festzug ordnete, an dem sich die oberen Klassen der Bürgerschule und des Gymnasiums, der Hauptvorstand des Gustav-Adolf- Vereins, die Geistlichkeit, die Lehrerschaft, die Deputationen auswärtiger Zweigvereine, der Magistrat, die Stadtverordneten, der Gemeindekirchenrat und die Bürgerschaft beteiligten.
Der Zug bewegte sich vom Rathause ab an den Denkmälern der Reformatoren vorüber nach der Stadtkirche, in welcher Pfarrer D. Müllensiefen aus Berlin die Festpredigt hielt.
Um 11 Uhr tagte in der Schlosskirche unter dem Vorsitz des Professors D. Beyschlag aus Halle a. d. Saale die öffentliche Hauptversammlung in der die Verteilung von 11 000 Mark Unterstützung an notleidende evangelische Gemeinden in der Diaspora beschlossen wurden.
Den Schluß der Tagung bildete ein Festmahl in der „Weintraube“.

Eine zweite große Versammlung sah unsere Stadt in den Herbsttagen des gleichen Jahres:
Vom 30. September bis zum 2. Oktober tagte hier die Generalversammlung des Pestalozzivereins, des Emeritenkassenvereins und des Lehrerverbandes der Provinz Sachsen.
Am 30. September abends 8 Uhr fand in „Schreibers Garten“ die Begrüßungsversammlung statt, die Rektor Hause namens des Lokalkomitees willkommen hieß.
Am 1. Oktober früh 8 Uhr tagte im gleichen Lokale die Generalversammlung des Emeriten-Kassenvereins und um 9 Uhr die des Pestalozzivereins unter der Leitung des Lehrers Riedewald aus Halle a. d. Saale.
Namens der Stadt Wittenberg begrüßte Bürgermeister Dr. Schild und namens des Pestalozzi-Zweigvereins Wittenberg und Umgegend dessen Vorsitzender, Lehrer Vörkel, die Versammlung. Um 2 Uhr fand das übliche Festmahl im Meynerschen Saale statt, dem sich um 6 Uhr ein ausgezeichnetes Konzert der vereinigten Wittenberger Gesangvereine unter Leitung des Musikdirektors Carl Stein in der Stadtkirche anreihte.
Abends vereinigten sich die Teilnehmer zu einem zwanglosen Beisammensein in „Schreibers Garten“.
Am 2. Oktober früh 8 Uhr wurde im Saale der „Goldenen Weintraube“ die Vertreterversammlung des Lehrerverbandes der Provinz Sachsen unter Leitung des Lehrers Roßmann aus Magdeburg eröffnet.
Der wichtigste Beschluß derselben war der Anschluß des Lehrerverbandes an den deutschen Lehrerverein, nachdem ein diesbezüglicher Antrag in den Vorjahren dreimal nacheinander abgelehnt worden war.
Die Hauptversammlung fand in „Sichlers Garten“ statt und wurde begrüßt namens der Stadt durch den Stadtverordneten Gymnasiallehrer Dr. Tuch und namens des Lehrervereins Wittenberg und Umgegend durch dessen Vorsitzenden, Lehrer Möbius.
Auf der Tagesordnung der Versammlung standen folgende Vorträge:
– 1. Gesetzeskunde im Anschluß an die Sittenlehre in der Volksschule. (Ref.: Fromm-Naumburg).
– 2. Die Sozialdemokratie, vom pädagogischen Standpunkte aus beurteilt. (Ref.: Wießner-Brachwiz.)
– 3. Das Strafrecht in der Volksschule. (Ref.: Roßmann-Magdeburg.)
– 4. Das Lesebuch in der Volksschule. (Ref.: Hering-Magdeburg.) Den Schluß der Versammlung bildete am Nachmittag ein geselliges Beisammensein in „Sichlers Garten“, wobei die Kapelle des 20. Infanterie-Regiments unter Hofrocks Leitung konzertierte.

Einen wichtigen Beschluß fasste die Stadtverordnetenversammlung in ihrer Sitzung vom 19. November.
Sie beschloss mit 21 gegen 1 Stimme, das zum Verkauf kommende ehemalige Festungsterrain von insgesamt 3 000 Morgen zum Preise von 108 000 M. zu erwerben.
Dieses Terrain umfasste den Hauptwall, Wallgraben und Glacis und reichte vom Schloßtore bis zum neuen Tore (an der Juristenstraße), dann von der südlichen Flanke der Dänenbastion bis zum Elstertore, und von da bis in die Gegend der Defensivkaserne am Schloßtore.
Das Terrain vom reuen Tore bis zur Dänenbastion behielt die Militärverwaltung für sich zur eigenen Verwendung.
Es wurden darauf nacheinander die Kavalierkaserne, die Reitbahn und die Gebäude für die Artillerie errichtet.
Die Übergabe des verkauften Terrains an die Stadt geschah am 24. April 1880.

Das Jahr 1879 brachte zunächst einige Verkehrserleichterungen.
Am 16. Februar wurde die Passage durch den Brückenkopf für Fuhrwerk freigegeben, nachdem sie schon einige Zeit vorher für Fußgänger gestattet war.

Im Monat März bepflanzte die Eisenbahnverwaltung den nach dem Bahnhofsgebäude führenden Weg mit jungen Lindenbäumen. Die Bäume haben sich vorzüglich entwickelt und bilden jetzt eine angenehme Promenade, namentlich zur Blütezeit.

Der 28. März brachte ein seltenes Jubiläum.
An diesem Tage beging der erste Direktor des Königlichen Predigerseminars, Professor D. Schmieder, das 60jährige Amtsjubiläum als Geistlicher. Er gehörte zu den ersten Kandidaten, die im Jahre 1817 in das neu gegründete Wittenberger Predigerseminar eintraten. Zu seinem Ehrentage wurden dem verdienten Manne von nah und fern überaus zahlreiche Glückwünsche dargebracht. Im Auftrage des Evangelischen Oberkirchenrats erschien Hof- und Domprediger D. Kögel aus Berlin; die Glückwünsche des Konsistoriums der Provinz Sachsen übermittelte Generalsuperintendent D. Schulze aus Elbei, diejenigen der Universität Halle-Wittenberg der Professor D. Schlottmann aus Halle.
Namens der Stadt Wittenberg beglückwünschten Bürgermeister Dr. Schild und Stadtverordneten-Vorsteher Bosse den Jubilar. Die Glückwünsche der kirchlichen Körperschaften überbrachte Superintendent Lic. Rietschel, die des Predigerseminars Professor Dr. Dorner und die der Lutherschule Oberlehrer Kalcher. Die Seminargemeinschaft überreichte dem Jubilare zum Zwecke einer von ihm zu bestimmenden Stiftung eine Ehrengabe von 2 140 M., nachdem sie bereits bei seinem 50jährigen Amtsjubiläum eine solche im Betrage von 1 800 M. übermittelt hatte.

Am 18. April, dem Gedenktage der Erstürmung der Düppeler Schanzen, wurde der Grundstein zu dem Kriegerdenkmale unter großer Feierlichkeit gelegt.
Bereits am 26. April 1876 wurde der Beschluß auf Errichtung des Denkmals von den Mitgliedern des hiesigen Kriegervereins einhellig gefaßt. Die Ausführung des Beschlusses wurde einer Kommission von 9 Mitgliedern übertragen. Diese wandte sich am 16. Juni 1876 an den Magistrat mit dem Ersuchen, das Unternehmen zu unterstützen resp. weiter auszuführen. Daraufhin veranlasste der Magistrat den Kriegerverein, den ersten Schritt durch Bereitstellung von Barmitteln zu tun. Durch Beschluß vom 19. Oktober des-selben Jahres überwies der Verein dem Bürgermeister Dr. Schild 100 M. als Grundstock mit der Bitte, an der Ausführung des Projektes kräftig mitwirken zu wollen.
Auf Anregung Dr. Schilds wurde ein Komitee aus Mitgliedern des Kriegervereins und der Bürgerschaft gebildet, welches die weitere Ausführung übernahm.
Durch private Sammlungen, durch Konzerte und Theaterausführungen von mehreren Vereinen sowie durch einen im Magistratssitzungszimmer im Rathause veranstalteten Bazar, der einen Reingewinn von 750 M. ergab, wurden die Mittel zum Denkmalsbau bald beschafft.
Die Grundsteinlegung verlief in folgender Weise:
Am 18. April nachmittags 2½ Uhr marschierten der Kriegerverein, die Schützen und der Turnverein unter Vorantritt einer Musikkapelle nach dem Festplatz und nahmen hier Aufstellung. Ihnen schlossen sich die oberste Klasse des Gymnasiums und die oberen Knabenklassen der Volksschulen unter Führung ihrer Lehrer an. In der Mitte des so gebildeten Kreises nahmen das Denkmalskomitee, der Landrat des Wittenberger Kreises von Koseritz, die städtischen Körperschaften, die Vertreter der Geistlichkeit und der hiesigen staatlichen Behörden Aufstellung. Die Feier leitete der Gymnasialchor unter Musikdirektor Steins Leitung ein mit dem Gesange der Festhymne „Laßt Jehovah hoch erheben“.
Die Festrede hielt Superintendent Lic. Rietschel, worauf der Vorsitzende des Denkmalskomitees, Bürgermeister Dr. Schild, die von sämtlichen Komitee Mitgliedern unterzeichnete Urkunde der Grundsteinlegung verlas, die dann in den Denkmalsgrund gelegt wurde. Ihr wurde beigefügt die vom Vorsitzenden des Kriegervereins, Oskar Schreyer, und sämtlichen Vorstandsmitgliedern unterzeichnete Denkschrift über die Geschichte des Denkmalsbaues, ferner ein Verzeichnis der Magistratsmitglieder und der derzeitigen Stadtverordneten, sowie sämtlicher hiesigen Behörden, ein Verwaltungsbericht der Stadt Wittenberg vom Jahre 1877, die Feuerlöschordnung, die Marktordnung, das Ortsstatut über die Anlegung von Straßen, ein Verzeichnis der Konfirmanden Ostern 1879 der „Reichs- und Staatsanzeiger“ vom 18. April, eine Nummer der „Magdeburger Zeitung“ vom 18. April und eine Nummer des „Wittenberger Kreisblattes“ vom gleichen Tage.
Nach Einfügung des Grundsteins wurden die drei üblichen Hammerschläge seitens der offiziellen Persönlichkeiten getan. Mit dem Gesange des Chorals „Nun danket alle Gott“ schloss die Feier. Den Schluß des Tages bildete eine Nachfeier in „Schreibers Garten“.
Der Denkmalsbau wurde so rasch gefördert, daß bereits am 29. Juni desselben Jahres die Enthüllung erfolgen konnte.
Hierzu hatten sich 24 auswärtige Kriegervereine mit zusammen 669 Mitgliedern eingefunden, die ihr Standquartier im Meynerschen Lokale bezogen. Um 3 Uhr nachmittags traten diese auf dem Arsenalplatze an zum Umzuge durch die Hauptstraßen der Stadt und nahmen sodann auf dem Marktplatze Aufstellung.

Hier hatten sich bereits die Schüler des Gymnasiums und der Bürgerschule mit ihren Lehrern, ferner die Schützen, Turner und die Feuerwehr zum Festzuge formiert. Nachdem der Ehrenpräsident des deutschen Kriegerbundes, Generalleutnant Stockmarr, den Rapport entgegengenommen hatte, bewegte sich der Zug unter dem Glockengeläute der Stadtkirche nach dem geschmückten Denkmalsplatze, wo er von dem Offizierskorps der Garnison empfangen wurde.
Machtvoll erklang der unter Musikbegleitung gesungene Choral „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren,“ worauf Bürgermeister Dr. Schild die Weiherede hielt.
Unter dem Rufe: „Es lebe unser geliebter Kaiser Wilhelm I.“ und unter Glockengeläute und Kanonendonner fiel die Hülle. Stadtrat Eunicke übergab das Denkmal der Stadt Wittenberg, in deren Namen es Bürgermeister Dr. Schild übernahm.
Mit der von der Musik gespielten Preußenhymne fand die offizielle Feier ihren Abschluß.
Die einzelnen Vereine vereinigten sich am Abend in verschiedenen Lokalen zu einer Nachfeier.
Das Denkmal wurde von Schober-Halle aus Sandstein gefertigt und hat eine Höhe von 13 m.
Das kunstvolle eiserne Gitter, das vom Schlossermeister Fröhlich Wittenberg angefertigt wurde, erhielt es im März 1880.

Vom 4. bis 5. Juni 1879 fand auf dem kleinen Exerzierplatz eine vom landwirtschaftlichen Vereine veranstaltete Distrikts-Tierschau verbunden mit einer Ausstellung landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte statt, die sehr zahlreich beschickt und besucht war.

Das goldene Hochzeitsjubiläum Kaiser Wilhelms I. und der Kaiserin Augusta, am 11. Juni, wurde auch in unserer Stadt festlich begangen durch das übliche Choralblasen vom Turme der Stadtkirche, Festakte in den Schulen und einem Feldgottesdienste auf dem kleinen Exerzierplatze, bei dem Diakonus Zitzlaff die Festpredigt hielt, sowie durch ein Festessen im Offizierskasino.
Die Stadt war überaus festlich geschmückt, namentlich war im Festschmuck die Kornblume zahlreich vertreten.
Auf ergangene Bestellung hatte die Gärtnerei von Negendank 150 Pfund (ca. 150 000 Stück) dieser Lieblingsblumen des Kaisers nach Berlin geliefert. Am Abend waren die meisten Häuser unserer Stadt festlich illuminiert.
Seitens der städtischen Behörden wurde dem hohen Jubelpaare eine Glückwunschadresse übersandt und 10 000 M. zum Bau eines Hospitals, des  Wilhelm-Augusta-Hospitals, gestiftet, welches dazu bestimmt wurde, alten alleinstehenden Personen einen sorgenfreien, ruhigen Lebensabend zu bereiten.
Die Grundsteinlegung zu dem Gebäude erfolgte am 23. August Eröffnung der Anstalt am 1. Oktober 1887.

Am 22. Juni ereignete sich auf der Elbe ein Unfall, der leicht die traurigsten Folgen haben konnte.
Durch einen Gewittersturm waren die Wellen des Elbstromes aufgewühlt worden und hatten das städtische Badehaus von den Tauen, mit denen dieses am Ufer befestigt war, losgerissen. Das Haus, auf dem sich 5 Personen (3 Damen nebst dem Pächter und seiner Frau) befanden, trieb nach dem jenseitigen Ufer, dann der Elb-Eisenbahnbrücke zu und geriet in die Gefahr, an dieser zu zerschellen.
Zum Glück passierte gerade der Raddampfer „Tetschen“ die Elbbrücke. Der Kapitän ließ den in Todesangst Schwebenden ein Tau zuwerfen, an denen das Badehaus festgehalten wurde.
Mit einem abgesandten Kahne wurden dann die Damen aus dem Badehause an das Ufer gerettet und dieses dann selbst dort befestigt.

Infolge der neuen Justizorganisation wurde am 1. Oktober das bisherige Kreisgericht aufgehoben, und an dessen Stelle im Kreise Wittenberg 3 Amtsgerichte
– Wittenberg,
– Kemberg und
– Schmiedeberg
und eine mit dem Wittenberger Amtsgerichte verbundene Strafkammer errichtet.
Trotz der energischsten Bemühungen gelang es den städtischen Behörden nicht, das neue Landgericht für Wittenberg zu erhalten; dieses bekam vielmehr seinen Sitz in Torgau.

Das Jahr 1879 brachte der Stadt eine bedeutsame Ehrung: Durch Königliche Kabinettsorder wurde dem jeweiligen Bürgermeister die Befugnis zum Tragen der goldenen Amtskette erteilt. Die betreffende Kabinettsorder hat folgenden Wortlaut:

Auf den Bericht vom 6. Oktober d.J. will Ich der Stadt Wittenberg für ihren Bürgermeister die Befugnis zum Tragen der goldenen Amtskette als ein mit dem Bürgermeister-Amte dauernd verbundenes Recht in Gnaden hierdurch verleihen.

Baden-Baden, den 10. Oktober 1879.
gez. Wilhelm. ggz. Graf Eulenburg.

In einer gemeinschaftlichen Sitzung der beiden städtischen Körperschaften am 26. November wurde die Kette durch den Stadtrat Naumann dem Bürgermeister Dr. Schild überreicht.

Am 6. November bildete sich der Liberale Verein, der nach seinen Satzungen den Zweck erhielt, „durch Versammlungen, Vorträge und Besprechungen den politischen Indifferentismus zu beseitigen und Anregung zu geben, der Entwickelung unseres Staatslebens liberale Richtung in warmes und tatkräftiges Interesse zu widmen.“

Am 22. November bildete sich der „Verein zur Besprechung städtischer Angelegenheiten“ mit 115 Mitgliedern.
Der Verein, dessen erster Vorsitzender Kaufmann Gerischer war, fand bei den wichtigen Aufgaben, welche der Stadt nach der Entfestigung erwuchsen, ein reiches Feld der Tätigkeit.

Das Jahr 1880 begann mit einer neuen Vereinsgründung:
Am 12. Januar wurde der „Verein gegen die Hausbettelei“ ins Leben gerufen, der sich die Aufgabe stellte, das gewerbsmäßige Betteln in der Stadt Wittenberg zu beseitigen, unter geregelter Unterstützung derjenigen Durchreisenden, welche sich als unterstützungsbedürftig und nicht unwürdig ausweisen. Da der Verein später nicht mehr die nötige Unterstützung in der Bürgerschaft fand, so löste er sich allmählich auf.

Die beiden Bäche, welche die Stadt durchfließen, wurden bisher in hölzernen Kästen, sogenannten Archen, über den Festungsgraben hinweg nach der Stadt geführt und gaben dem Stadtbilde ein eigenartiges Gepräge. Im April 1880 wurde die Arche des rischen Baches beseitigt und diesem in der verlängerten Neustraße mit einem Kostenaufwande von 1 268 Mark ein gemauertes Bett geschaffen.
Der Bach floss nunmehr von der Lutherstraße ab durch die verlängerte Neustraße bis zur Ecke der Jüdenstraße, wo er wieder in das alte Bett einmündet. Mit Niederlegung des östlichen Walles im März 1885 wurde auch die hölzerne Arche beseitigt, die den faulen Bach über den Wallgraben, leitete, und dem genannten Bache ein steinernes Bett gegeben.

Am 29. April weilte Kronprinz Friedrich Wilhelm zur Besichtigung der Truppen in unserer Stadt. Er besuchte bei dieser Gelegenheit auch die Schlosskirche, an deren Wiederherstellung er großes Interesse bekundete.
Seinem Eingreifen namentlich ist es zu danken, daß die diesbezüglichen Vorarbeiten nun ein lebhaftes Tempo einschlugen.

In ihrer Sitzung vom 25. Mai bot die Stadtverordnetenversammlung zu einem Fortschritt die Hand:
Sie erteilte dem Verleger des „Wittenberger Kreisblattes“, Buchdruckereibesitzer Fiedler, die Genehmigung, an 12 geeigneten Orten der Stadt Litfaßsäulen gegen Zahlung einer jährlichen Platzmiete von 100 Mark aufzustellen.
Damit fiel das Bekleben der Häuser mit Zetteln und das veraltete Ausklingeln fort.

Am 13. Juni wurde die vom hiesigen Gewerbeverein veranlasste Gewerbe und Industrie Ausstellung in „Schreibers Garten“ eröffnet. Nach einer Begrüßung durch den Vorsitzenden Garz hielt der Protektor der Ausstellung, Bürgermeister Dr. Schild, die Eröffnungsrede.
Die Ausstellung dauerte drei Wochen lang bis zum 1. Juli. Sie war von den Gewerbetreibenden Wittenbergs reich beschickt und wurde von über 2 000 Personen besucht.

Im November wurde vom Gewerbeverein eine öffentliche Lesehalle eingerichtet, die in den ersten Jahren stark benutzt wurde, später aber wieder einging.

Die am 1. Dezember vorgenommene Volkszählung ergab folgendes Resultat:
Es wurden im Stadtbezirke gezählt 878 Wohnhäuser und 2 734 Haushaltungen mit 13 448 Personen (inkl. 1 304 Militärpersonen). Diese Einwohnerzahl verteilte sich wie folgt:
– innere Stadt 8351,
– Schlossvorstadt 1 754,
– Elstervorstadt 1 153 und
– Friedrichstadt 1 304 Personen.

Zu der am 27. Februar 1881 stattfindenden Hochzeit des Prinzen Wilhelm mit der Prinzessin Augusta Viktoria von Schleswig-Holstein – unserm jetzigen Kaiserpaare – überreichten die Städte der Provinz Sachsen als Geschenk einen kostbaren silbernen Tafelaufsatz, zu dem die Stadt Wittenberg 1 000 M. beisteuerte.

Infolge von Regengüssen und schneller Schneeschmelze war die Elbe im Monat März gefahrdrohend angeschwollen.

Am 14. März geschah beim Dorfe Mauken oberhalb Pretzsch ein Dammbruch von ca. 100 m Länge, wodurch die Elsteraue unter Wasser gesetzt wurde.
Namentlich die Ortschaften
– Gehmen,
– Axien,
– Schützberg,
– Rade,
– Hemsendorf,
– Gorsdorf,
– Düßnitz u.a. wurden überflutet.

Von Torgau eilten 100 Pioniere mit 3 Offizieren und 21 Pontons den gefährdeten Bewohnern zu Hilfe.
In unserer Stadt regte sich eifrig die private wie die öffentliche Wohltätigkeit für die Überschwemmten; u.a. wurden von verschiedenen Vereinen Konzerte und Theateraufführungen veranstaltet, deren Ertrag jenen zugute kam.

Die Arbeiten zur Einebnung des ehemaligen Festungsterrains dauerten auch im Jahre 1881 noch an; das letzte Stück des Festungswalles verschwand erst im Jahre 1885.
Durch die Entfestigung war das Stadtbild ein wesentlich anderes geworden. Wo sonst finstere Tore den Eintretenden umfingen, leiteten jetzt freundliche Straßen ins Innere.
Nach Norden hin waren, wie schon bemerkt, mehrere neue Ausgänge geschaffen worden.
An der Stelle, wo sonst der Wall die Stadt einengte, erhoben sich neue stattliche Gebäude, oder neugeschaffene Anlagen, bei deren Schöpfung Natur und Kunst sich die Hände reichten.
Den hervorragendsten Anteil an der Einrichtung unserer mit Recht gerühmten Anlagen hat der Major a. D. Fritz Eunicke.
Die Stadt ehrte seine Verdienste dadurch, daß sie ihn zu ihrem Ehrenbürger ernannte und ihm inmitten seiner Schöpfung, in den Anlagen vor dem Schloßtore, ein Denkmal in Form einer Ruhebank errichtete.
Bei den Einebnungsarbeiten an der Ostseite des Lutherhauses stieß man auf einen in den Wall eingebauten aus gewölbtem Mauerwerk bestehenden unterirdischen Gang, der aber in 6 m Entfernung unter dem Druck der auf ihm lastenden Erdmassen eingestürzt war. Der Gang lief nach Süden zu, und da er sich schon in kurzer Entfernung bedeutend nach unten neigte, so muß man wohl annehmen, daß er unter dem Wallgraben hindurchgeführt hat. Damit hätte die viel- verbreitete Behauptung, daß vom ehemaligen Augustinerkloster aus ein unterirdischer Pfad nach der Elbe geführt habe, eine wesentliche Stütze erhalten.
Im August 1881 wurden die letzten Festungsgefangenen (68 Mann) sowie das Festungsbureau von hier nach Spandau gebracht.
Im gleichen Monat erfolgte die Erweiterung des dritten Gottesackers auf der sogenannten Friedhofsschanze.
Die Weihe wurde durch Superintendent Lic. Rietschel in Gegenwart der Geistlichen und der Mitglieder des Gemeinde – Kirchenrats vollzogen.

Anfang Januar 1882 bildete sich unter dem Vorsitz des Rentiers Winkelmann der Konservative Verein, der in in seiner ersten Generalversammlung eine Adresse an den Reichskanzler Fürst Bismarck beschloss, in der die Zustimmung zu der von diesem vertretenen Wirtschaftspolitik ausgesprochen wurde.
Fürst Bismarck dankte umgehend dafür durch ein Telegramm.

Am 1. Juli des gleichen Jahres ging die Berlin-Anhaltische Eisenbahn aus den Händen der Berlin-Anhalter Eisenbahngesellschaft in den Besitz des preußischen Staates über, der das gesamte Beamten und Dienstpersonal mit übernahm, mit Ausnahme des Syndikus und der Direktion, die für das Aufgeben ihrer vertragsmäßigen Rechte eine Abfindungssumme in Höhe von 902 250 M. erhielten.

Die im Monat Juli stattfindende Berufszählung ergab in der Stadt und den Vorstädten 2 740 Haushaltungen mit 1 601 Personen; darunter 314 Haushaltungen mit Landwirtschaft und 401 Gewerbetreibende mit Gehilfen Lehrlingen und gewerblichen Arbeitern.
Am 17. August wurde unter zahlreicher Beteiligung der Grundstein zu dem Paul-Gerhardt-Stifte in der Poststraße gelegt.
Zu der Feier erschienen der Vorstand der Anstalt, die Vertreter der Geistlichkeit, der städtischen Behörden und der hiesigen Wohltätigkeitsvereine.
Nach Beendigung der von Diakonus Schleußner gehaltenen Festrede wurden seitens der offiziellen Personen die üblichen Hammerschläge getan.

Die Einweihung des Hauses, geschah am 4. Oktober 1883.
Die Weiherede hielt Generalsuperintendent Dr. Schulze – Magdeburg auf Grund des 84. Psalms.
Der Vorsteher des Berliner Paul-Gerhardt-Stifts, des Mutterhauses, Pastor Fliedner, führte die Diakonissen in ihr neues Amt ein, während Diakonus Schleußner den Dank an alle Freunde und Förderer der Anstalt aussprach und Superintendent Lic. Rietschel die offizielle Feier, die durch Vorträge des Steinschen Gesangvereins verschönt wurde, schloss.

Da das im großen Segen wirkende Paul-Gerhardt-Stift den gestellten Anforderungen, nicht mehr genügt, so wurde im Jahre 1909 mit dem umfangreicheren Neubau der Anstalt an der Paul-Gerhardt-Straße begonnen.
Das mit den modernen Errungenschaften der Krankenpflege ausgestattete Haus, das zunächst für 90 Betten Raum bietet und 300 000 M. kostet, wird im Herbste d.J. (1910) eröffnet werden.

Mit dem 1. Adventssonntage, des Jahres 1882 kam eine uralte Sitte in Wegfall:
Der störende Umgang des Klingelbeutels im Gottesdienste hörte auf, ebenso unterblieb von diesem Tage ab das Austragen der Büchsen in den Häusern an hohen Festtagen zur Sammlung für die Chorschüler. Statt dessen wurden an den inneren Ausgangstüren der Stadtkirche Büchsen angebracht, welche die bisher in den Klingelbeutel gespendeten Gaben für die kirchliche Armenpflege aufnehmen sollen.

Das wichtigste Ereignis des Jahres 1883 ist die Lutherfeier, zur Erinnerung an den 400 jährigen Geburtstag des Reformators.
Es fand in unserer Stadt eine doppelte Lutherfeier statt:
Die erste vom 12. bis 14. September, die zweite am 31. Oktober. Bereits am 21. August hatte die Stadtverordnetenversammlung hierzu die Summe von 15 000 M. bewilligt, und zwar 5 700 M. zur Ausschmückung der Stadt, 2 000 M. zur Beleuchtung der Denkmäler der Reformatoren auf dem Marktplatze, des Rathauses und der anderen städtischen Gebäude, 1 300 M. zu sonstigen Ausgaben, insbesondere zur etwaigen Bewirtung fürstlicher Gäste.
Die übrigen 6 000 M. blieben für die zweite Lutherfeier am 31. Oktober reserviert, bei der meist die zur ersten Feier getroffenen Einrichtungen mit Verwendung fanden. Von der ausgeworfenen Summe von 15 000 M. wurden indessen nur 8 735 M. verbraucht.
Bereits am 12. September nahm der Zuzug der Festteilnehmer, die dichtgedrängt die prächtig geschmückten Straßen durchwogten, einen gewaltigen Umfang an. Um 5 Uhr nachmittags verkündete das Geläut sämtlicher Glocken den Beginn des Festes, und um 6 Uhr nahm als erste Festhandlung der Liturgische Gottesdienst in der Schlosskirche seinen Anfang.
Das dichtgefüllte Gotteshaus war auf den Emporen und im Schiff durch hunderte von Kerzen erleuchtet, und an dem mit Blumen geschmückten Grabe Luthers brannten große Altarkerzen.
Der greise neunzigjährige Oberkonsistorialrat D. Schmieder leitete die Feier mit einer herzbewegenden Ansprache ein, in welcher er die Festgenossen ermahnte, einig zu sein im Glauben.
Die von Superintendent Lic. Rietschel gehaltene liturgische Andacht im Verein mit den vom Steinschen Gesangverein unter Begleitung der Dessauer Hofkapelle ausgeführten Gesänge machte einen tiefen Eindruck.
Nach Schluß des Gottesdienstes sammelten sich die Festteilnehmer in „Schreibers Garten“, der die Menge der Erschienenen kaum zu fassen vermochte.
Generalsuperintendent D. Möller hieß namens des Festkomitees und Bürgermeister Dr. Schild namens der Stadt die Festgäste willkommen.
Aus deren Reihen überbrachten mehrere Redner herzliche Festgrüße, so u. a. Professor Mr. Salmond aus Aberdeen, die der freien Kirche in Schottland, Pastor Jost aus Bradford die der deutsch-evangelischen Gemeinden Englands.
Während der Begrüßungsreden im Saale hatte draußen im Garten Hofprediger Emil Frommel-Berlin die große Zahl derer, die nicht mehr Platz fanden, um sich versammelt und richtete an sie eine wirkungsvolle Ansprache.

Der Hauptfesttag wurde früh 6½ Uhr durch das Geläut sämtlicher Glocken eingeleitet, worauf von den Türmen Choräle geblasen wurden. Die Straßen waren vom frühen Morgen an dicht belebt;
von allen Seiten strömte die Landbevölkerung herzu, und die Eisenbahnen brachten fortgesetzt aus allen Richtungen große Scharen von Festgästen zum Teil aus weiter Ferne herbei.
Das prächtige Herbstwetter half die Feststimmung vermehren. Gegen 9 Uhr marschierten die zur Spalierbildung beim Einzuge des Kronprinzen Friedrich Wilhelm bestimmten Korporationen auf – die Schützen, die Wittenberger und Kleinwittenberger Feuerwehr, die Turner, die Kriegervereine und die verschiedenen Schulen mit ihren Lehrern.
Unterdessen hatte sich an der Schlosskirche der imposante Festzug geordnet. An seiner Spitze schritten die von den Stadträten Haldensleben und Eunicke geführten Nachkommen Luthers.
In dem Zuge, der sich nach der Stadtkirche bewegte, fielen besonders die schottischen und englischen Geistlichen durch ihre Tracht auf, ebenso der Rector Magnifikus der Universität Halle- Wittenberg im roten Mantel, der Dekan der theologischen Fakultät im schwarzen mit Gold gestickten Mäntelchen.

Mittlerweile waren Kronprinz Friedrich Wilhelm und Prinz Albrecht von Preußen nebst Gefolge auf unserm Bahnhofe eingetroffen, wo sie vom Oberpräsidenten von Wolff, dem Regierungspräsidenten von Diest, dem Landrat Dr. von Koseritz und dem Bürgermeister Dr. Schild empfangen wurden.
Letzterer begrüßte den Kronprinzen im Namen der Stadt Wittenberg durch eine Ansprache.
Unter dem Geläute aller Glocken und dem Jubel der Menge fahren die hohen Gäste zunächst nach der Stadtkirche, an deren Portal sie von dem Generalsuperintendent D. Möller, dem Konsistorial-Präsidenten von Rödenbeck, dem Superintendenten Lic. Rietschel und dem Regierungspräsidenten von Wedel empfangen wurden.
Als der Kronprinz das Magistratschor betrat, stimmte der Sängerchor das „Halleluja“ von Händel an.
Der hohe Gast, der die Uniform seines schlesischen Dragonerregiments trug, wohnte dem Gottesdienste aufrecht an der Brüstung stehend bis zum Schlusse bei.
Hierauf begab er sich nach der Schlosskirche, in welcher kurz vorher der Gottesdienst beendet worden war.
Nur mit einem kleinen Gefolge betrat der Kaisersohn die ehrwürdige Stätte.
Nach einem stillen Gebete am Grabe Luthers legte er auf dieses den bereitgehaltenen großen Lorbeerkranz nieder.
(Der Kranz wird noch in der Lutherhalle aufbewahrt.)
Sodann besichtigte der Kronprinz sehr eingehend unter Führung des Bürgermeisters Dr. Schild die Sehenswürdigkeiten des historischen Gotteshauses über dessen Umbau er sich lebhaft äußerte. Nach einem kurzen Besuche im Rathause begab er sich dann durch die Collegienstraße nach dem Lutherhause zur Eröffnung der Lutherhalle.

Der Gedanke, eine Reformationshalle zu errichten, in der die an Luther und die Reformation erinnernden Gegenstände zu einer übersichtlichen Sammlung vereint würden, nahm zuerst im Jahre 1877 greifbare Formen an.
Am 23. Juni wurde zu diesem Zwecke ein Kuratorium gebildet, bestehend aus den Herren Geh. Regierungsrat Dr. Jordan-Berlin, als Kommissar des Ministeriums, Oberkonsistorialrat Freiherr Dr. von der Golz-Berlin, als Vertreter des Evangelischen Oberkirchenrats, Regierungspräsident von Diest-Merseburg, Bürgermeister Dr. Schild- Wittenberg, Oberkonsistorialrat D. Schmieder-Wittenberg, Superintendent Lic. Rietschel-Wittenberg, Professor Dr. Dorner-Wittenberg, Baurat de Regé-Wittenberg, Konsistorialrat Professor Dr. Köstlin Halle.
Der Lutherhalle wurden u. a. als wesentliche Bestandteile überwiesen die in der Bibliothek des Königlichen Predigerseminars befindliche Augustinsche Luthersammlung des ehemaligen Ober-Dompredigers Augustin in Halberstadt, die von König Friedrich Wilhelm III. angekauft und dem Predigerseminare geschenkt worden war, ferner die im städtischen Besitz befindlichen Luthererinnerungen unter Vorbehalt des Eigentumsrechts, ebenso die der Kirche gehörenden Luthererinnerungen unter dem gleichen Vorbehalt. Auch zahlreiche Privatpersonen machten der Lutherhalle recht wertvolle Geschenke;
so stiftete der Regierungsrat Luthardt-Augsburg den großen Karton von König:
Luther und seine Mitarbeiter bei der Bibelübersetzung.“

Nach der Ankunft des Kronprinzen im Lutherhause wurde er in die mit Möbel aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts ausgestattete und mit Fahnen und der kronprinzlichen Standarte geschmückten Aula geleitet, in der Regierungspräsident von Diest den hohen Gast, durch eine Ansprache begrüßte, auf welche dieser folgendes antwortete:

Nachdem ich soeben in ernster Sammlung am Grabe unseres großen Reformators geweilt, betrete ich nunmehr die Stätte, in welcher der glaubensstarke Mann in rastloser Arbeit die Wege suchte, auf denen er freudigen Mutes vorwärts schritt zu seiner großen weltgeschichtlichen Tat. Beauftragt, Seine Majestät bei dem heutigen Festgottesdienste zu vertreten, soll es in Luthers Wohnhaus mein erstes sein, die Worte zu verlesen, welche der Kaiser und König aus Anlaß dieser Feier an mich erlassen hat. Sie lauten:

In den Tagen vom 12. bis 14. September des Jahres soll in Wittenberg eine Lutherfeier abgehalten werden, welche durch das Herannahen des 400 jährigen Gedächtnistages von Luthers Geburt veranlasst ist. Die an Mich gerichtete Bitte, persönlich dabei zu erscheinen, habe Ich nicht erfüllen können. Ich empfinde aber als evangelischer Christ und als oberster Inhaber des Kirchenregiments lebhafte Teilnahme für jede derartige Feier, bei welcher das evangelische Bekenntnis ungeschwächten Ausdruck findet. Auch würdige Ich vollauf den reichen Segen, welcher für unsere teure evangelische Kirche davon ausgehen kann, daß ihre Glieder aller Orten an das große Erbe und die edlen Güter erinnert werden, welche Gott der Herr durch die Reformation uns beschert hat. Zumal in Wittenberg, dem nächsten Schauplatz von Luthers gewaltigem und gottgesegneten Wirken, möchte Ich bei solchem Feste nicht unvertreten sein, um so weniger, als dasselbe über den Rahmen einer bloß lokalen Feier hinausragt. Demzufolge will Ich Eurer Kaiserlichen und Königlichen Hoheit und Liebden Meine Vertretung bei dem bezüglichen Festgottesdienste übertragen. Zu Gott dem Herrn aber flehe Ich, daß die bevorstehenden Lutherfeste gereichen mögen zur Wirkung und Vertiefung evangelischer Frömmigkeit, zur Wahrung guter Sitte und zur Befestigung des Friedens in unserer Kirche!
Schloß Babelsberg, den 25. August 1883.

Wilhelm.

Der Kronprinz fuhr hierauf fort:

„In sinniger Weise sind in diesen Räumen aus den Tagen der Reformation Andenken aller Art vereinigt, deren Vermehrung und Vervollständigung ich glücklichen Fortgang wünsche. Denn unser Volk kann nicht oft und nicht lebhaft genug an die Segnungen erinnert werden, welche es dem Manne verdankt, dessen Namen diese Halle trägt. Wer gedächte nicht hier und heute dessen, was Martin Luthers Geist und Wirken auf mehr als einem Gebiete deutsch-nationalen Lebens für uns erworben hat!
Möge diese seinem Gedächtnis gewidmete Feier uns eine heilige Mahnung sein, die hohen Güter, welche die Reformation uns gewonnen, mit demselben Mute und in demselben Geiste zu behaupten, in dem sie einst errungen worden sind! Möge sie insbesondere uns in dem Entschlusse befestigen, alle Zeiten einzutreten für unser evangelisches Bekenntnis und mit für ihm für Gewissensfreiheit und Duldung! Und mögen wir stets dessen eingedenk bleiben, daß die Kraft und das und das Wesen des Protestantismus nicht im Buchstaben beruht und in starrer Form, sondern in dem zugleich lebendigen und demütigen Streben nach der Erkenntnis christlicher Wahrheit!
In diesem Sinne begrüße ich den heutigen und die noch folgenden Luthertage mit dem innigsten Wunsche, daß sie beitragen mögen, unser protestantisches Bewusstsein zu stärken, unsere deutsche evangelische Kirche vor Zwietracht zu bewahren und ihren Frieden fest und dauernd zu begründen. Und hiermit erkläre ich die Lutherhalle für eröffnet.“

Nachdem so die Eröffnung der Lutherhalle vollzogen war, ließ sich der Kronprinz die anwesenden höheren Würdenträger und Geistlichen, die Mitglieder des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung usw. vorstellen und besichtigte sodann die vorhandenen Sammlungen.
In der Lutherstube trug er seinen Namen in das vorgelegte Fremdenbuch ein und begab sich hierauf nach dem Bahnhofe, wo vom Bahnhofswirt, Hoflieferant Schmidt, die Frühstückstafel für 22 geladene Personen gedeckt war.
Bald nach 2 Uhr traf der Sonderzug mit Kaiser Wilhelm I. auf der Fahrt nach Merseburg ein. Der Kronprinz bestieg mit Gefolge den Zug, der dann unter den begeisterten Hochrufen der Menge seine Fahrt nach Merseburg zu den Manövern fortsetzte.

Am Nachmittage begannen in unserer Stadtkirche die kirchlichen Festverhandlungen. Am Abend aber erstrahlte die Stadt in einem Lichtmeer. Den Glanzpunkt der Illumination bildete der Marktplatz. Das bis zum Giebel erleuchtete Rathaus, die Lichterpyramiden der den Markt umgebenden hohen Giebelhäuser, die Beleuchtung der Standbilder Luthers und Melanchthons gewährten einen feenhaften Anblick.

Der letzte Festtag wurde wie der erste wieder durch Glockengeläut und Choralblasen vom Turme der Stadtkirche eingeleitet.
Um 9 Uhr begannen wieder die kirchlichen Festverhandlungen in der Stadtkirche, bei deren Beendigung beschlossen wurde; dem Kaiser auf telegraphischem Wege eine Dankadresse zu übermitteln.

Am Nachmittage fand unter Beteiligung von Tausenden auf dem Marktplatze eine große Volksfeier statt. Sie wurde eingeleitet mit dem unter Musikbegleitung gesungenen Lutherliede „Ein‘ feste Burg ist unser Gott“.
Als erster Redner gab Bürgermeister Dr. Schild einen Abriss der Geschichte und des Wirkens Luthers in Wittenberg.
Der zweite Redner, Superintendent Faber-Bitterfeld, hatte als Thema seiner Ansprache das eine Wörtchen „dennoch“ gewählt, das einst der fromme und streitbare Graf Johann Georg II. von Mansfeld auf seine Fahne schrieb.
Als dritter Redner sprach, oft von brausendem Beifall unterbrochen, Hofprediger Stöcker-Berlin, der an den Ausspruch Luthers anknüpfte:
„Deutschland ist ein schöner, weidlicher Hengst, der Nahrung in Fülle hat, aber ihm fehlt der Reiter.“
Als letzter entrollte Hofprediger Emil Frommel-Berlin eine Reihe leuchtender evangelischer Bilder und erntete damit den jubelnden Beifall der imposanten Versammlung. Zwischen den einzelnen Ansprachen trugen die drei Gesangvereine „Männergesangverein“, „Polyhymnia“ und „Liederhain“ stimmungsvolle Lieder vor.
Mit dem brausenden Chorale „Nun danket alle Gott“ und unter dem Geläute der Glocken erreichte das erste Lutherfest sein Ende.

Das zweite Lutherfest wurde am 31. Oktober gefeiert.
Wiederum strömten hierzu ungezählte Scharen von Festgästen von nah und fern herbei. Glockengeläut und Choralblasen leitete das Fest in der üblichen Weise ein.
Das Hauptinteresse nahm der nach dem Entwurfe des Professors Döpler-Berlin von Apotheker Matthesius und dem Kostümkomitee arrangierte historische Festzug in Anspruch. Da dieser mit dem am 31. Oktober 1892 gelegentlich der Einweihung der erneuerten Schlosskirche gestellten historischen Festzuge große Ähnlichkeit zeigt, und wir auf letzteren an entsprechender Stelle näher eingehen werden, so sei über den Festzug von 1883 nur folgendes bemerkt:

An ihm beteiligten sich
– die Schützen,
– der Verein Harmonie,
– die Kaufmannschaft,
– die Korbmacher,
– Maurer,
– Zimmerleute,
– die Brauer zu Wagen,
– die Fleischer zu Pferde,
– die Schuhmacher,
– Maler,
– Tischler,
– Tuchmacher,
– Bäcker,
– Schmiede,
– Schlosser,
– Buchdrucker zu Wagen,
– Buchbinder,
– Mitglieder der Gesangvereine,
sowie eine große Anzahl
– Bürger als Landsknechte,
– Patrizier,
– Herolde,
– Hofchargen und
– zahlreiche andere Charakterfiguren.
Auch eine Abteilung der Torgauer Geharnischten marschierte mit im Zuge. Dieser sammelte sich vor dem Elstertore und marschierte von hier aus nachmittags 1½ Uhr durch die Collegienstraße und Schloss Straße nach dem Schlossplatze, wo er von dem Bürgermeister Dr. Schild vor einer vor der Tür der Schlosskirche errichteten Tribüne mit einer längeren Ansprache begrüßt wurde.
Hierauf bewegte sich der farbenprächtige Zug weiter durch die Coswiger, Juristen-, Berliner-, Luther-, Bürgermeister-, Jüden-, Neu- und Mittelstraße zum Marktplatze, wo er sich auflöste, während die im Zuge marschierenden kostümierten Musikchöre hier noch einige Zeit konzertierten.
Abends 6 Uhr begann eine allgemeine festliche Illumination. Währenddem sammelte sich auf dem Schlossplatze der Fackelzug, der unter Musikbegleitung wie eine riesige, feurige Schlange durch die im Lichterglanz strahlenden Straßen sich bewegte und dann am Elstertore um die Luthereiche Ausstellung nahm.
Hier richtete Archidiakones Zitzlaff an die tausendköpfige Menge eine Ansprache, in der er auf die Bedeutung der Reformation hinwies.
Nach der Rede intonierten sämtliche Musikchöre das Lutherlied, in welches die Menge brausend einstimmte. Die zusammengeworfenen Fackeln beleuchteten mit ihrer Lohe den Rückmarsch in die Stadt, wo sich die Festteilnehmer noch einmal auf dem Marktplatze vereinigten.
Hier, zwischen den hellerleuchteten Standbildern der Reformatoren, und umgeben von den im vollen Lichterglanze strahlenden hohen Giebelhäusern erklang wiederum Luthers Kampf- und Siegeslied aus tausend Kehlen und Herzen.
Ihm reihte sich die preußische Volkshymne und das Lied „Deutschland, Deutschland über alles!“ an, bis das Danklied
„Nun danket alle Gott“ diesen Teil der Feier beendete.
Eine Nachfeier in „Schreibers Garten“ und im „Gesellschaftshause“, bei der Ansprachen mit Gesangs- und Musikvorträgen wechselten, beschloss das in allen Teilen schön und würdig verlaufene Fest.

Das Denkmal wurde 1939 abgebrochen.
aus: Archiv des HV WB

Durch ein schweres Unglück wurden am 9. Dezember vier Familien in tiefe Trauer versetzt. Trotz wiederholter Warnungen vergnügten sich an diesem Tage mehrere Kinder auf der noch dünnen Eisdecke des Schwanenteiches. Hierbei brach das Eis, und 4 Kinder der 14 jährige Sohn der Witwe Schmohl, der 16 jährige Sohn des Postsekretärs Thiele, der 12 jährige Sohn und die 10 jährige Tochter des Schuhmachermeisters Richter versanken in dem tiefen Wasser. Bei dem Versuche, die Kinder zu retten, ertrank der Musketier Steinert aus Herzberg.
Die Leichen der fünf Verunglückten konnten erst nach längerer Zeit geborgen werden.

Zum ehrenden Andenken an den mutigen Mann und zugleich als warnendes Erinnerungszeichen wurde im Jahre 1884 am südlichen Ufer des Schwanenteiches ein steinerner Obelisk mit entsprechender Inschrift errichtet.

Das bedeutsamste Ereignis für unsere Stadt im Jahre 1884 war die Eröffnung des städtischen Wasserwerks, das am 25. Mai feierlich eingeweiht und am folgenden Tage der öffentlichen Benutzung übergeben wurde. Die Versorgung unserer Stadt mit Wasser geschah bis dahin durch die vier Röhrwasser:
– altes Jungfernwasser (bereits im Jahre 1556 mit einem Kostenaufwand von 507 Gulden 3 Groschen 11 Pfennigen angelegt),
– neues Jungfernwasser,
– Schlosswasser und
– Rhodisches Wasser (benannt nach dem Professor Rhode, der den Plan zu dieser Röhrfahrt entworfen hatte).
Außerdem waren eine Anzahl öffentlicher und privater Pumpbrunnen vorhanden, die allerdings ihren Zweck nicht immer erfüllten.

Das erfreuliche Wachstum der Stadt machte den Bau einer Hochdruck-Wasserleitung dringend nötig, da die bisherige Wasserversorgung den gesteigerten Anforderungen nicht mehr genügen konnte. So beschlossen denn die städtischen Behörden nach eingehenden Beratungen und Prüfungen den Bau eines städtischen Wasserwerks.
Die Ausführung wurde dem Ingenieur Pfeffer aus Halle übertragen, die Arbeiten übernahm der Bauunternehmer Conroy und sein Geschäftsführer Klöber aus Essen.
Die Baukosten beliefen sich auf 400 000 Mark.
Die geeigneten Quellen der Wasserleitung hatte man auf dem bruchigen Gelände des Flämingsausläufers bei Straach gefunden. Dort wurden etwa 50 Schritte links von der Chaussee drei Quellbrunnen und ein Sammelschacht angelegt, die mit Granitplatten eingefasst und gedeckt wurden.
Die Anlage trägt die Inschrift „Wasserwerk Wittenberg“.
Die Einrichtung der bezeichneten Quellbrunnen ist ein besonderer Erfolg des Ingenieurs Pfeffer.
Das mit in Frage stehende Henochsche Projekt wollte das Wasser durch Drainsystem fassen.
Diesem gegenüber erzielte die Pfeffersche Anlage einen vierfachen Effekt:
– sie verhinderte eine Versandung der Leitung,
– steigerte die Wassergewinnung auf 1800 Kubikmeter pro Tag, während diese nach dem Henochschen Projekte nur 1500 Kubikmeter betrug,
– sie steigerte die Druckhöhe um 8 Meter, so daß diese beispielsweise bei Hydranten auf dem Marktplatze sich auf 23 Meter belief und
– war in der Ausführung billiger.
Das Hochreservoir der Leitung wurde auf der Anhöhe vor Dobien errichtet. Es erhielt eine Bodenfläche von 344 Quadratmetern und fasste bei gänzlicher Füllung 1 200 Kubikmeter.
Das Wasser hat von den Quellbrunnen bis zum Hochreservoir 8 624 Meter zu durchlaufen. Auf diesem Wege waren mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden.
So stellten sich namentlich die bedeutenden Anhöhen bei Nudersdorf als Hindernis entgegen. Die Leitung musste diese daher in weitem Bogen umgehen und durch ein quelliges, koupiertes Terrain geführt werden, in welchem Wasser und Triebsand die Arbeiten erschwerte. Trotz dieser Hindernisse führte aber die Bauleitung das Werk in verhältnismäßig kurzer Zeit und ohne einen nennenswerten Unfall zu Ende.
In der Zeit von fünf Monaten wurden 21 000 Meter Rohre von 80 bis 300 mm Durchmesser und im Gewicht von 11 100 00 Kilo gelegt; ferner wurden in dieser Zeit 100 Hydranten und 60 Schieber angebracht und 3 Quellbrunnen und 1 Sammel-Schacht hergestellt. Mitte Mai 1884 war das bedeutende Werk fertig.
Am Morgen des 25. Juni begaben sich Vertreter des Magistrats, der Stadtverordnetenversammlung und interessierte Herren aus der Bürgerschaft unter Führung des Bürgermeisters Dr. Schild zunächst nach dem Quellgebiete bei Straach zur Besichtigung der Quellbrunnen und von da nach dem Hochreservoir bei Dobien, wo der eigentliche Eröffnungsakt und die Übergabe des Werkes an die Stadt geschah.
Das Werk funktionierte tadellos, und der Ingenieur Pfeffer und die übrigen an der Bauleitung beteiligten Personen konnten die freudigen und herzlichen Glückwünsche der städtischen Behörden entgegennehmen.
Eine Messung der Temperatur des Wassers ergab, daß dieses auf dem weiten Wege vom Quellbrunnen bis zum Hochreservoir nichts an Frische eingebüßt hatte – die Temperatur betrug hier wie dort 8°. Zur Feier des für unsere Stadt bedeutungsvollen Ereignisses vereinigten sich die städtischen Behörden mit den Bauleitern am Abend zu einem Festmahle.
Das fortgesetzte Wachstum unserer Stadt stellte immer höhere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des Wasserwerks und machte eine Erweiterung desselben notwendig.
Die bedeutendste Erweiterung wurde im Jahre 1906 mit der Aufstellung eines Motors, Kompressors und einer Mammutpumpe, besonders aber durch Anlage des 51,71 m tiefen Rohrbrunnes vollzogen.
Die Kosten für diese Erweiterungsanlagen betrugen 30 000 M.
Im Laufe der Zeit machte sich eine Trübung des Wassers unangenehm bemerkbar. Der Grund hierfür lag in folgendem:
Das Wasser kommt zwar aus den Quellen kristallklar zu Tage. Es enthält aber erhebliche Mengen von vollständig gelöstem unschädlichen, schwefelsauren Eisenoxydul, das sich unter der Einwirkung des Sauerstoffes in der atmosphärischen Luft in Eisenoxyd umwandelt und dann das Wasser trübt und mit seinem Niederschlag die Rohrleitungen verunreinigt und verstopft.
Diesem Übelstande wurde mit der Erbauung einer Enteisenungs-Anlage abgeholfen, die im Jahre 1904 in Betrieb genommen wurde. Der höchst interessante Vorgang der Enteisenung spielt sich wie folgt ab:
Das Wasser läuft vom Quellbrunnen in das am Hochreservoir befindliche Enteisenungswerk, wo es sich automatisch über 8 eiserne, mit je 170 Löchern durchbohrte Rieselbecken verteilt. Diese lassen es in 1 360 bleistiftstarken Strahlen auf 36 000 feilförmige und systematisch aufgeschichtete Mauersteine fallen, über deren breite Flächen es hinabsickert. Durch die dadurch herbeigeführte umfassende Einwirkung des Sauerstoffes in der atmosphärischen Luft verwandelt sich das schwefelsaure Eisenoxydul in Eisenoxyd. Aus dem Rieseler gelangt nun das Wasser wieder selbsttätig in die Filter, durch diese in die Reservoirs, und von da gereinigt in die Stadt. Auf die Kiesfüllung der Filter, von denen zwei fortgesetzt in Tätigkeit sind, während ein dritter in Reserve steht, lagert sich das niedergeschlagene Eisenoxyd als braunroter Schlamm ab. Die Filterfüllung muss daher alle drei Tage gewaschen werden.
Zu dieser Kieswäsche ist eine eigene Anstalt vorhanden, welche der Hauptsache nach aus drei viereckigen eisernen Trichtern besteht. In den ersten Trichter wird der Kies geschüttet, durch welchen nun das vom Quellbrunnen kommende Wasser von unten heraufdringt und nach Aufnahme des Schlammes über- und abfließt.
Ein zweiter Wasserstrom wirft den Kies zur wiederholten Wäsche in den zweiten und von hier in den dritten Filter, der diesen endlich auf eine Tenne zum Ablaufen des Wassers führt.
Die ganze sinnreiche Enteisenungsanlage ist nach dem Entwurfe des Ingenieurs Pfeffer aus Halle von Wittenberger Handwerkern ausgeführt.
Die Rohrleitung vom Quellbrunnen bis zur Stadt ist 13 124 Meter lang und zwar: vom Quellbrunnen bis zum Hochreservoir 8 624 Meter mit einem Fall von 18 Metern (d. i. 1:479).

Diese Strecke durchläuft das Wasser in neun Stunden, also in vier Sekunden nur einen Meter. Dieser langsame Lauf wird bedingt einmal durch den geringen Fall und dann durch die vielen durch das Gelände verursachten Biegungen der Rohrleitung, die das Wasser zu einer vermehrten Reibung zwingen.
Vom Hochreservoir hat das Wasser bis zum Marktplatze noch 2 500 Meter zurückzulegen bei einem Fall von 25 Metern (d. i. 1:100). Die Geschwindigkeit ist hier nicht sicher festzustellen, da der Abgang durchaus unregelmäßig und vom Konsum abhängig ist.
Nach dem letzten Berichtsjahre betrug das gesamte Rohrnetz vom Höchstbehälter ab in der Stadt 20 048 Meter.
Durch die Verlängerung desselben bis in die Dessauer Straße u.a. hat dieses wiederum eine bedeutende Vergrößerung erfahren.

Von der Leistungsfähigkeit des Wasserwerks geben folgende Zahlen ein anschauliches Bild:
Im letzten Berichtsjahre wurden an 294 Tagen oder in 2 053 Stunden 112 415 Kubikmeter Wasser durch die Mammutpumpe gefördert, so daß im Durchschnitt auf die Arbeitsstunde 56 Kubikmeter entfallen. Eine bleibende Senkung des 7,50 Meter unter Terrain festgestellten Grundwasserspiegels trat trotz zeitweise forcierten Pumpens nicht in Erscheinung. Es wurde dies weder durch Trockenheit noch durch Regenfälle geändert, was die dauernde Ergiebigkeit des Werkes beweist.
Im letzten Berichtsjahre wurden insgesamt 2 070 211 Kubikmeter Wasser abgegeben. Die Einnahmen der Wasserwerkskasse beliefen sich auf 55 213 M. 59 Pf., die Ausgaben auf 42 989 M. 05 Pf., so daß ein Bestand von 12 224 M. 54 Pf. verblieb.
Die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bewohner einer Stadt hängt zum großen Teil von der Versorgung mit gutem Wasser ab. Wittenberg kann sich daher zu seinem Wasserwerk beglückwünschen, denn dieses arbeitet ganz vorzüglich und liefert ein durchaus einwandfreies, reines und gesundes Wasser.

Der folgende Monat brachte eine vom Gewerbeverein veranlasste Gewerbe- und Industrie- Ausstellung für den Kreis Wittenberg.
Sie wurde am 15. Juni in „Schreibers Garten“ durch den Vorsitzenden des Gewerbevereins, Stadtrat Garz, eröffnet und dauerte bis zum 13. Juli. Während dieser Zeit wurde sie von mehr als 2 000 Personen besucht.

Am 29. Juni wurde in unserer Stadt wieder ein größeres Sängerfest gefeiert. An diesem beteiligten sich u.a. der Dessauer Sängerbund mit 5 Vereinen, zwei Gesangvereine aus Luckenwalde, ferner die Gesangvereine aus Jüterbog und Treuenbrietzen. Nach dem Einmarsch der Sänger in die festlich geschmückte Stadt wurden sie mittags 12 Uhr im „Gesellschaftshause“ durch Lehrer Möbius namens der Wittenberger Sänger begrüßt.
An die Begrüßung schloss sich eine Chorprobe.
Um 2½ Uhr nachmittags traten die Sänger auf dem Arsenalplatz an und marschierten unter Musikbegleitung nach dem Marktplatze, wo sie Bürgermeister Dr. Schild namens der Stadt willkommen hieß. Dann erfolgte der Festzug durch die Stadt nach dem Festlokale „Sichlers Garten“, das die Menge der Festteilnehmer kaum zu fassen vermochte. Hier fand dann ein wohlgelungenes Konzert statt. Die Massenchöre wurden von dem Hofkapellmeister Klughardt aus Dessau dirigiert. Den Schluß bildete ein glanzvolles Feuerwerk.

Ein frohes Fest beging am 1. September desselben Jahres die mit dem Königlichen Predigerseminare verbundene Lutherschule:
die Feier ihres 50jährigen Bestehens.
Früh 7 Uhr versammelten sich auf dem Hofe des Lutherhauses die Schüler und Schülerinnen der beiden Klassen.
Nach dem Gesange eines Chorals richtete der erste Direktor des Predigerseminars, Superintendent D. Rietschel, an die Kinder eine Ansprache, in welcher er sie auf die Bedeutung des Tages hinwies. Hierauf zogen diese unter Führung des Superintendenten D. Rietschel, des Oberlehrers Wille und mehrerer Kandidaten des Predigerseminars nach dem Friedhofe, um die Gräber der verstorbenen früheren Lehrer der Lutherschule (Liere, Kalcher und Hinneberg) zu schmücken.
An jedem Grabe wurde ein Lied gesungen und von Superintendent D. Rietschel ein Bibelvers gesprochen.
Um 10 Uhr fand in der Aula des Lutherhauses der eigentliche Festakt statt. Zu dieser Feier erschienen außer den 66 Schülern und Schülerinnen der Lutherschule das Direktorium und die Mitglieder des Predigerseminars, ferner der frühere erste Direktor, Oberkonsistorialrat D. Schmieder, die Vertreter der städtischen Behörden, des Gymnasiums, der Bürgerschule, der Geistlichkeit, sowie viele Freunde der Lutherschule und zahlreiche ehemalige Lutherschüler.
Nach Gesang und Gebet hielt Superintendent D. Rietschel die Festrede. Dann folgten Deklamationen und Gesang und eine Ansprache des Oberlehrers Wille „Luther als Reformator der Schule, und die Geschichte der Lutherschule“. Aus letzterer heben wir folgendes hervor:
Die Lutherschule trat am 1. September 1834 als Übungsschule für die Kandidaten des 1817 gegründeten Königlichen Predigerseminars mit 60 Schülern, die sich auf zwei Klassen verteilten, ins Leben.
Ihre ersten Lehrer waren Oberlehrer Rüdiger, Lehrer Hinneberg und 6 Kandidaten des Predigerseminars.
Nach Rüdigers Weggange wurde F. Wetzel am 1. April 1845 als Oberlehrer eingeführt.
An seine Stelle trat am 15. Mai 1847  Chr. Liere und nach dessen Tode am 16. August 1858 Karl Kalcher.
Am 1. September 1859 wurde das 25jährige Jubiläum der Lutherschule durch einen Schulaktus (Schulfeierlichkeit) begangen.
Nach Kalchers Tode wurde Gustav Wille am 16. August 1880 als 1. Lehrer der Lutherschule eingeführt.
Am 23. Juni starb der 2. Lehrer Hinneberg nach langjähriger treuer Dienstzeit.
Die Zahl der Schüler, welche die Lutherschule während der ersten 50 Jahre ihres Bestehens besuchten, beträgt ca. 600.
Die Zahl der Kandidaten, welche bis dahin unterrichteten, 656. Nach diesem Festberichte folgten wieder Deklamationen und Gesänge, und hierauf die Übergabe der Jubiläumsgeschenke der derzeitigen und früheren Mitglieder des Predigerseminars sowie des Evangelischen Oberkirchenrats.
Nachdem Superintendent D. Rietschel den Dank der Schule zum Ausdruck gebracht hatte, wurde die Feier mit Gesang und Gebet geschlossen. Am Nachmittage fand als Nachfeier ein Kinderfest in „Schreibers Garten“ statt.
Soweit der Jubiläumsbericht, dem wir zur Vervollständigung der Geschichte der Lutherschule noch folgendes beifügen:
An die Stelle des 1884 verstorbenen 2. Lehrers Hinneberg trat Lehrer Bachmann, nach dessen Tod 1889 Lehrer Fachmann und 1891 Lehrer Otto Fritzsche.
Als 1899 der mittlerweile zum Oberlehrer ernannte 1. Lehrer Wille in den Ruhestand trat, wurde der bisherige 2. Lehrer Fritzsche zum 1. Lehrer ernannt, während vom Evangelischen Oberkirchenrate der Lehrer Richard Erfurth am 1. Dezember 1899 für die zweite Lehrerstelle berufen wurde.
Die spezielle Aufsicht über die Lutherschule führten von 1834 bis 1839 der 2. Direktor des Königlichen Predigerseminars und Ephorus desselben, Richard Rothe, von 1839 bis Ende 1883 der 2. und später 1. Direktor des Predigerseminars und Ephorus, Oberkonsistorialrat D. Schmieder, vom Oktober 1884 bis 1907 der 2. Direktor des Predigerseminars und Ephorus, Professor D. Reinicke, und von da ab Direktor und Ephorus des Predigerseminars, Lic. Dunkmann.

Im Jahre 1885 erfolgte nach längeren Verhandlungen die Ablösung eines alten im Besitze der Stadt Wittenberg befindlichen Privilegiums seitens zahlreicher Gemeinden: des sogenannten „Bannrechts“ oder der Abdeckereigerechtigkeit. Die in der „Bannmeile“ liegenden Ortschaften waren bis dahin verpflichtet, die Kadaver des gefallenen Viehes ohne jede Entschädigung an die der Stadt Wittenberg gehörige Abdeckerei auszuliefern. Das Unterlassen wurde als Unterschlagung bestraft. Für die Ablösung dieser für die Viehbesitzer drückenden Verpflichtung stellte die Stadt Wittenberg als Besitzerin des Privilegs folgende Ablösungssätze auf:
Es waren zu zahlen
– a) für jedes vorhandene Rind über ½ Jahr alt 1 M.,
– b) für jedes Pferd 1 M.,
– c) für jedes über ¼ Jahr alte Schwein 50 Pf. und
– d) für jede Ziege 20 Pf.
Nach geschehener Ablösung konnte der Viehbesitzer über die Tierkadaver frei verfügen. Um die Höhe der zu zahlenden Entschädigung festzustellen, fand am 1. Juli 1885 in den Gemeinden, welche die Ablösung beantragt hatten, eine Viehzählung statt.

Am 24. Juni desselben Jahres wurde der 400 jährige Geburtstag von Johannes Bugenhagen kirchlich gefeiert und mit den Sammlungen zur Errichtung eines Bugenhagendenkmals begonnen. Da diese nicht die gewünschte Höhe erreichten, so mußte man sich damit begnügen, an Stelle des gewünschten Standbildes eine auf einem Unterbau von poliertem Granit stehende von Janensch-Berlin modellierte Büste aufzustellen. Diese erhielt ihren Platz in der Nähe des Bugenhagenhauses (Superintendentur) gegenüber dem nördlichen Portale der Stadtkirche und wurde am 24. Juni 1894 eingeweiht. Dem Weiheakte ging ein Festgottesdienst in der Stadtkirche vorauf, bei dem Superintendent D. Quandt die Festpredigt hielt.
Nach dem Gottesdienste erfolgte der Festzug zum Denkmalsplatze unter Beteiligung der Kreisbehörde, der städtischen Körperschaften und des Offizierskorps.
Nach der Weiherede des Superintendenten D. Quandt fiel die Hülle des Denkmals, und dieses wurde von der Kirchengemeinde übernommen.

Bei den Arbeiten zur Fundamentierung des Denkmals stieß man auch auf zahlreiche Spuren, die von der früheren Benutzung des Kirchplatzes Zeugnis geben.
Vom Jahre 1538 ab bis 1772 diente der Platz um die Stadtkirche, „der Kirchhof“, als Begräbnisplatz.
Nach den aufgefundenen Resten, sowie nach den Inschriften der bei seiner Aufhebung an der Außenseite der Stadtkirche angebrachten Grabdenkmäler war er freilich in erster Linie vornehmen Personen als letzte Ruhestätte vorbehalten, während die übrigen auf dem Friedhofe vor dem Elstertore beerdigt wurden. Allerdings finden sich unter letzteren auch angesehene Personen, so
– Luthers Tochter Elisabeth, gest. 1528,
– Melanchthons Enkelin,
– Magdalene Beuccer, gest. 1566,
– der Land-Steuereinnehmer Schmidt, gest. 1712,
– der Post- und Accise-Kommissar Zimmermann, gest. 1734, u.a.
Der erste Tote, welcher auf dem Platze an der Stadtkirche im Jahre 1539 beigesetzt wurde, war Margarete Metzsch, die Tochter des kurfürstlichen Landvogts Metzsch, deren Grabschrift kein Geringerer als Philipp Melanchthon verfasst hat.
Geschlossen wurde dieser Begräbnisplatz 1772 mit der Beisetzung des Magisters Hofmann, der Propst und Superintendent in Schlieben war.
So zeigte unser Kirchhof noch am Anfange des 19. Jahrhunderts das Bild einer Begräbnisstätte mit hohen Steingräbern und großen Reliefplatten, welche die ausgemauerten Gräber deckten.
Auf der Nordseite, nach der Jüdenstraße zu, war der Platz durch eine hohe Mauer abgeschlossen, die direkt aus dem damals noch offenen faulen Bache aufstieg und an jedem Ende ein Tor hatte, zu dem gewölbte Steinbrücken über den Bach führten. Diese Tore hießen im Volksmunde das „goldene“ und das „schwarze“ Tor. Das „goldene“ Tor war der Eingang für alle, deren Ruf makellos war, während durch das „schwarze“ Tor alle diejenigen eintreten mussten, deren Ruf nach irgend einer Richtung befleckt war, namentlich auch alle jene Brautpaare, die sich nicht aller Ehren zu erfreuen hatten. Die Innen-Seite der Mauer war mit Grabplatten und Inschriften bedeckt, die jetzt zum größten Teile in den Wänden der Stadtkirche eingelassen sind.
Unter dem preußischen Regimente brach sich eine mildere Auffassung Bahn.
Als im Jahre 1827 die Bürgerschule erbaut wurde, musste die Mauer und mit ihr der Schandpfahl, das „schwarze“ Tor fallen.
Nach und nach wurden die Grabstätten ausgeglichen und die Anlagen eingerichtet, in denen nunmehr das Bugenhagen-Denkmal sich erhebt.

Die am 1. Dezember 1885 stattfindende Volkszählung ergab für unsere Stadt folgendes Resultat. Es wurden gezählt:

Wohnhäuser   Haushaltungen  Einwohner

in der inneren Stadt:               605                           2 018                8 122
in der Schlossvorstadt:          229                               358                1 782
in der Elstervorstadt:             180                                285                1 292
in der Friedrichstadt:              111                                195                    875
im Militär- Zählbezirk:               12                                  85                 1 765
______________________________________________________________________
Summa:                                         1 137                            2 914             13 836

Die auffallende Erscheinung, daß trotz der Niederlegung der einengenden Festungswerke der Zuwachs noch recht gering ist
(seit 1880 nur ca. 1¼%). erklärt sich aus der geringen Zunahme von gewerblichen und industriellen Etablissements, die eine größere Zahl von Arbeitern beschäftigen.

Am 2. Januar 1886 wurde das 25 jährige Regierungsjubiläum Wilhelms I. als König von Preußen durch Festgottesdienst, Parole-Ausgabe auf dem Marktplatze und Festessen im Offizier-Kasino gefeiert.
Am Abend fand festliche Illumination und ein Fackelzug statt, der auf dem Marktplatz sein Ende erreichte. Hier hielt Bürgermeister Dr. Schild an die Versammelten eine begeisterte Ansprache. Den Abschluss des Festtages bildete die Abendfeier in ,“Schreibers Garten“, bei welcher Gesangsvorträge, Deklamationen und lebende Bilder mit einander abwechselten.

Am 4. Juli fand in unserer Stadt der XV. Verbandstag des Feuerwehrverbandes für den Regierungsbezirk Merseburg statt. Vormittags 11 Uhr tagte in „Schreibers Garten“ die Delegiertenversammlung, welche von Bürgermeister Dr. Schild begrüßt wurde. Am Nachmittage erfolgten Übungen der Wittenberger und der Kleinwittenberger Feuerwehr und hierauf ein Konzert im Garten des „Kaiserhofes“, dem sich abends ein Ball in „Schreibers Garten“ anschloss.

Zur Stärkung des evangelischen Bewusstseins gelangte am 26., 27., 30. und 31. Oktober das Herrig’sche Lutherfestspiel durch hiesige Bürger unter Mitwirkung des Steinschen Gesangvereins zur Aufführung. Da dem Wunsche des Festspielkomitees, die Aufführung in der Stadtkirche zu veranstalten, nicht entsprochen werden konnte, so fand diese im Exerzierhause der Kavalierkaserne statt, das zu diesem Zwecke mit umfangreicher Gasbeleuchtung versehen wurde.

Die Person Luthers wurde durch den Theaterdirektor Heßler dargestellt, der auch zugleich die ganze Ausführung leitete. Die Aufführungen wurden von Tausenden – namentlich auch von auswärts – besucht, ua. auch vom Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, Exzellenz von Wolff-Magdeburg und dem Regierungspräsidenten von Diest- Merseburg.
Am 31. Oktober wohnte auch der Verfasser des Festspiels, Dr. Hans Herrig, der Aufführung bei, an deren Schluß ihm von dem Herold mit einer poetischen Widmung ein Lorbeerkranz überreicht wurde.
Die Einnahmen sämtlicher Aufführungen betrugen 8 968 M. 96 Pf., die Ausgaben 5 107 M. 48 Pf., so daß ein Reingewinn von 3 861 M. 48 Pf. verblieb, der dem Bugenhagen-Denkmalfond überwiesen wurde. Eine zweite Wiederholung des Herrig’schen Lutherfestspieles, bei der über 200 Personen mitwirkten, erfolgte gelegentlich der Einweihung der erneuerten Schlosskirche im Jahre 1892 unter Leitung des Oberregisseurs Kafka-Berlin und zwar am 31. Oktober für den Kaiser und die geladenen Gäste, am 1., 3., 4. und 6. November für die Öffentlichkeit.
Besucht wurden diese Aufführungen, die wiederum im Exerzierhause der Kavalier-Kaserne stattfanden, von 4 600 zahlenden Personen.
Die Brutto-Einnahme betrug 7 000 M.
Ein dritte Wiederholung dieses Lutherfestspiels veranstaltete der hiesige Zweigverein des Evangelischen Bundes unter Leitung des Oberregisseurs Frey-Berlin am 10. bis 12. November 1908 im Saale des „Kaisergartens“.

Im April 1887 bewilligte der Landtag die Kosten zum Bau der Eisenbahnlinie Wittenberg-Torgau. Die Länge der Bahnlinie beträgt 42 km. Die Kosten verteilen sich folgendermaßen:
– Grunderwerbskosten für 1 km 7 160 M., zusammen 300 000 M.,
– Baukosten für 1 km = 66 800 M., zusammen 2 800 000 M.,
– mithin die veranschlagten Gesamtkosten 3 100 000 M., jedoch ohne Rücksicht auf die von den Interessenten und beteiligten Gemeinden zu leistenden Barvorschüsse und dergleichen.
Die Vorarbeiten begannen im Juni 1887, die Erdarbeiten im November 1888.
Am 15. Juli 1890 wurde der Betrieb auf der Bahn eröffnet, nachdem am 13. Juli eine Probe- und Einweihungsfahrt stattgefunden hatte.

Die schmerzlichen Ereignisse des Jahres 1888 – der Tod Kaiser Wilhelms I. am 9. März und der Tod Kaiser Friedrichs am 15. Juni – erweckten auch in unserer Stadt allgemeine Trauer, die ihren Ausdruck in würdigen Gedächtnisfeiern fand.
Ebenso wurde die Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. entsprechend gefeiert.

Am 7. Juli wurde nach einem in der „Weintraube“ von Professor Willibald Beyschlag-Halle gehaltenen Vortrage in Wittenberg ein Zweigverein des Evangelischen Bundes gegründet.

Im gleichen Monat wurde unsere Stadt um ein wichtiges Verkehrsmittel bereichert:
Die Rettig’sche Pferde Eisenbahn, welche den Markt in einer Länge von 1 700 m mit dem Bahnhofe verbindet.
Die Eröffnung der Bahn, die zunächst von der „Weintraube“ ausging, geschah am 26. Juli.

Im folgenden Monat am 24. August wurde mit dem Bau der Hafenbahn begonnen, welche den Bahnhof mit dem Elbhafen verbindet.

Eine der segensreichsten Anstalten unserer Stadt ist die Kleinkinderschule. Die erste wurde durch den Archidiakones M. Seelfisch und seiner Gemahlin im Jahre 1837 gegründet und fand die längste Zeit in den Räumen des Knaben-Rettungshauses mietsweise Unterkunft.
Die zweite trat im Jahre 1879 ins Leben und war im Hinterhause des Tischlermeisters Krüger in der Collegienstraße untergebracht. Immer mehr machte sich die Notwendigkeit geltend, der Anstalt ein eigenes Heim zu schaffen. Dieses wurde ihr im Jahre 1889 auf einem von der Stadt erworbenen Grundstücke neben dem Gymnasium in der Lutherstraße gegeben. Die Grundsteinlegung erfolgte am 13. September 1889, die Eröffnung der Anstalt im neuen Heim am 15. April 1890.

Am 22. Oktober 1889 wurde der bisherige Landrat des Wittenberger Kreises, von Koseritz, zum Polizeidirektor von Potsdam ernannt.
(Im April 1892 berief ihn der Herzog von Anhalt zu seinem Staatsminister.)
An seine Stelle wurde im Dezember 1890 Freiherr von Bodenhausen als Landrat des Kreises Wittenberg berufen.

Im Jahre 1890 vollzog sich wieder ein Garnisonwechsel.
Am 22. August verließ die reitende Abteilung des 3. Artillerie-Regiments unsere Stadt, um nach der neuen Garnison Perleberg überzusiedeln, An ihre Stelle trat die 1. Abteilung des Magdeburger Feldartillerie-Regiments Nr. 4, die von Naumburg kommend am 1. Oktober hier eintraf und von den Einwohnern und den städtischen Behörden festlich empfangen und bewirtet wurde.

Nachdem bereits im Juni das Hochwasser der Elbe der Heuernte großen Schaden zugefügt hatte, vernichtete im September ein zweites Hochwasser fast das gesamte Grummet.
Der Pegel an der Elbbrücke zeigte den hohen Wasserstand von 16 Fuß 6 Zoll (5.03 m).
Friedrichs Hundepark vor dem Elstertore war vollständig überschwemmt, ebenso Teile der Dresdener Straße usw.
Schlimmer freilich erging es den ungünstiger gelegenen Orten der Elbaue und Elsteraue. Besonders hart mitgenommen wurde der Kreis Torgau, da der Elbdamm zwischen Graditz und Werdau brach, und die Elbe weithin Dörfer und Felder überflutete.
Die Kosten für die Wiederherstellung der Dämme von der sächsischen bis zur anhaltischen Grenze bezifferten sich auf rund 5 Millionen Mark.
Ganz bedeutend war der am Eigentum der Bewohner der betroffenen Kreise angerichtete Schaden.
Nach der vorgenommenen Abschätzung betrug er
– im Kreise Torgau 1 710 000 M.,
– im Kreise Schweinitz 488 000 M.,
– im Kreise Liebenwerda 142 000 M. und
– im Kreise Wittenberg 84 000 M.
Auch in der Stadt Wittenberg wurden Sammlungen für die Überschwemmten veranstaltet und musikalische, sowie theatralische Aufführungen für diesen Zweck unternommen.
Kaiser Wilhelm II. spendete aus seiner Privatschatulle 5 000 M.
Im ganzen erreichten die Sammlungen die Höhe von 150 000 M,, die an die Geschädigten nach Verhältnis der Klassensteuerstufen zur Verteilung kamen, dergestalt, daß die untersten Stufen in erster Linie berücksichtigt wurden.

Die am 1. Dezember vorgenommene Volkszählung ergab für unsere Stadt eine Einwohnerzahl von zusammen 14 443 Personen, und zwar 6 040 männliche und 6 685 weibliche Zivil-Einwohner und 1 718 Militärpersonen.

Am 25. November 1891 stattete Seine Majestät Kaiser Wilhelm II. unserer Stadt einen Besuch ab, um sich von dem Fortgang der Arbeiten bei dem Erneuerungsbau der der Schlosskirche zu überzeugen. Vormittags 10½ Uhr traf der kaiserliche Sonderzug auf dem hiesigen Bahnhofe ein, wo Seine Majestät von dem Königlichen Landrat Freiherrn von Bodenhausen und dem Bürgermeister Dr. Schild empfangen wurde. In einem Hofwagen, dem zwei Spitzenreiter voran ritten, begab sich der Kaiser unter dem Jubel der Bevölkerung nach der Schlosskirche, die er unter Führung des Kultusministers von Zedtlitz-Trützschler und des Geheimen Baurats Adler eingehend besichtigte.
Hierauf begab sich Seine Majestät nach dem Tauentzienplatze, um dort die Parade über das 20. Infanterieregiment abzunehmen.
Auf dem Rückwege stattete der Kaiser der Lutherstube und der Lutherhalle einen kurzen Besuch ab und setzte dann um 12 Uhr seine Reise nach Torgau zur Jubiläumsfeier des dortigen Pionier Bataillons fort.
Zum zweiten Male besichtigte Seine Majestät die Bauarbeiten an der Schlosskirche auf der Rückreise von Wien am 14. Oktober 1892 und zum dritten Male auf der Reise nach Weimar am 24. Oktober 1892. Bei diesem letzten Besuche ließ der Kaiser auch den Königlichen Domchor und den Kotzleck’schen Bläserchor aus Berlin, die beide zur Mitwirkung bei der Einweihungsfeier der Schlosskirche befohlen waren, eine Probe in dieser abhalten.

Das Jahr 1892 brachte unserer Stadt außerdem das Sängerfest des Märkischen Zentral-Sängerbundes, welches am 19. und 20. Juni hier abgehalten wurde. An dem Feste beteiligten sich 43 Vereine mit 572 Sängern. Auch die hiesigen 4 Gesangvereine nahmen daran teil. Die märkischen Sänger trafen am 19. Juni vormittags 10 Uhr in einem Sonderzuge von Berlin aus hier ein und hielten ihren Einzug in die festlich geschmückte Stadt. Auf dem Marktplatze rief ihnen Bürgermeister Dr. Schild den Willkommensgruß der Stadt zu, der vom Bundesdirigenten Müller-Jessen aus Berlin beantwortet wurde.
Nach dem Abbringen der Vereinsbanner in das Rathaus fand um 12 Uhr im „Gesellschaftshause“ eine Generalprobe statt.
Nachmittags 3 Uhr bewegte sich vom Arsenalplatze aus der Festzug der Sänger durch die Straßen der Stadt nach dem vor dem Schloßtore hergerichteten Festplatze, auf dem dann ein wohlgelungenes Konzert stattfand. Am zweiten Festtage veranstalteten die Sänger ein vorzügliches geistliches Konzert in der Stadtkirche.
Im September drohte der Stadt ein unheimlicher Gast: die Cholera. In Hamburg war eine Choleraepidemie ausgebrochen, die viele Opfer forderte. Bei dem regen Elbverkehr zwischen Hamburg und unserer Stadt war eine Einschleppung der Krankheit zu befürchten, und es wurden daher verschiedene Schutzmaßregeln getroffen. Auf der Elbe wurde eine Untersuchungskommission mit dem Sitze in Roßlau eingerichtet.
In unserer Stadt schlug man auf Beschluß der Sanitätskommission im Lindenfelde bei Lünette III an der Adlerstraße ein Lazarettzelt auf, um darin etwaige Cholerakranke sofort aufzunehmen. Glücklicherweise brauchte dieses nicht im Ernstfalle in Anspruch genommen zu werden.

Das bedeutendste Ereignis des Jahres 1892 war die Einweihung der erneuerten Schlosskirche, die sich in Gegenwart Seiner Majestät Kaiser Wilhelms II. und der evangelischen Fürsten Deutschlands am 31. Oktober vollzog.
Wir wollen an dieser Stelle einen Rückblick auf die Geschichte dieses schönsten und bedeutendsten Bauwerks tun.

An der Stelle der heutigen Schlosskirche stand ehemals eine reichdotierte Burgkapelle, die mit der alten Burg Wittenberg verbunden war, welche Bernhard, der Sohn Albrechts des Bären, erbaute, und die seitdem, dem, mindestens aber seit 1227, den askanischen Fürsten als Residenz diente.
Kurfürst Friedrich der Weise ließ nach seiner Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins heilige Land Burg und Kapelle abbrechen und errichtete an Stelle der ersteren in den Jahren 1490 bis 1489 einen für jene Zeiten prächtigen Schlossbau und in Verbindung mit diesem die Schlosskirche mit einem für damalige Zeiten bedeutenden Kostenaufwande von 200 000 Gulden.
Die neue Kirche dotierte er reichlich und stattete sie außerdem reich mit Reliquien aller Art aus. In dem von Lukas Cranach dem Älteren illustrierten „Wittenberger Heiltumsbuch“ vom Jahre 1509 werden 5005 Partikel aufgezählt.
Nach Gründung der Wittenberger Universität im Jahre 1502 wurde die Kirche dieser mit ihren gesamten reichen Einkünften überwiesen und führte seitdem den Namen „akademische Stiftskirche“.
An ihre Tür pflegten die Universitätslehrer ihre Bekanntmachungen zu schlagen (,“schwarzes Brett“).
Daher schlug auch Luther am 31. Oktober 1517 hier seine 95 Thesen an. Im siebenjährigen Kriege, bei dem furchtbaren Bombardement am 13. Oktober 1760, hat die Kirche schwer gelitten; es blieben von ihr fast nur die nackten Mauern übrig, und auch die historische Thesentür ging in Flammen auf.
Sehr einfach und fast ihres ganzen Schmuckes und ihrer vielfachen Erinnerungszeichen beraubt, erhob sich das Gotteshaus bis zum Jahre 1770 wieder aus den Trümmern.
Der anstoßende Schlossturm wurde hierbei der Kirche einverleibt. Neues Unheil brachten dieser die Jahre 1813 bis 1814.
Die französische Besatzung der Festung Wittenbergs benutzte das ehrwürdige Gotteshaus als Magazin, und über den Stätten, an denen die Gebeine Luthers und Melanchthons ruhen, ließ der französische Kommandant zwei Rossmühlen errichten.

Bei der Beschießung der Festung durch Bülow von Dennewitz in der Nacht vom 27. zum 28. September 1813 wurde der Turm bis auf die Grundmauern samt den darin aufgehängten Glocken zerstört, und auch bei der Erstürmung Wittenbergs in der Nacht vom 12. zum 13. Januar 1814 hat die Kirche wieder gelitten.
König Friedrich Wilhelm III. ließ sie bis zum 31. Oktober 1817 wieder herstellen.
Gleichzeitig wurde sie dem neu gegründeten Predigerseminare überwiesen.
Seit 1826 wurde auch der Militärgemeinde die Abhaltung des Garnisongottesdienstes in der Schlosskirche gestattet.
Freilich sah das ehrwürdige Gotteshaus auch nach der umfassenden Reparatur innerlich wie äußerlich noch recht dürftig aus. Aus dem Angeführten ist klar, daß von dem ursprünglichen Bau Friedrichs des Weisen nur noch ein Teil des äußeren Mauerwerks übrig geblieben ist; die Grundverhältnisse, Pfeilerstellung usw. sind dieselben geblieben.
Als Ersatz für die Thesentür schenkte König Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1858 die prächtige aus Erz gegossene Tür mit den 95 Thesen Luthers.
Schon seit langem war eine durchgreifende Restauration des ehrwürdigen Gotteshauses geplant, aber immer wieder verschoben worden. Die Jubelfeier von Luthers 400jährigem Geburtstage im Jahre 1883 brachte die Angelegenheit wieder in Fluß, besonders da sich Kronprinz Friedrich Wilhelm, der nachmalige Kaiser Friedrich, der Sache sehr warm annahm.
Die vom Geheimen Ober-Baurat Adler-Berlin angefertigten Restaurations-Entwürfe sind zum zum Teil nach seinen Direktiven entstanden.
Für die Renovierung war folgende Richtschnur gegeben worden:
– Die Restauration soll bei möglichster Schonung der Substanz und in gewissenhaftem Anschlusse an die ursprüngliche Stilbehandlung keine auf antiquarische Gelehrsamkeit gegründete oder gar sklavische Wiederherstellung der durch Brand oder Abbruch zerstörten älteren Anlagen erstreben, sondern eine zielbewusste künstlerisch schöne Herstellung im Rahmen der Pietät.
Auch im Äußeren der Kirche blieb alles, was dem alten Bau zugehörte, erhalten, oder das Fehlende oder neu Hinzugefügte, wie zB. die Sakristei, wurde in stilistisch richtigen aber einfachen Formen erneuert bzw. gestaltet.
Hierzu gehörten auch die beiden Türme: der alte Dachreiter mit der Schloss Uhr und der runde Nordwestturm, der das Gotteshaus an seiner Westfront flankiert und als Glockenturm unentbehrlich ist. Er wurde zu dem Zwecke um 22 Meter erhöht, erhielt eine offene Arkadengalerie, unter der auf breitem Fries die in Mosaik ausgeführte Inschrift herableuchtet:

„Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“.

Der im ganzen 88 Meter hohe Turm wurde mit einer kupferbedeckten Kuppel, die ein vergoldetes Kreuz trägt, abgeschlossen.
Auf eine eingehende Beschreibung der Kirche, namentlich ihres Inneren, können wir verzichten.
Das Wichtigste hierüber enthält die „Heimatkunde des Kreises Wittenberg“ von Richard Erfurth. R. Herrosé’s Verlag, Preis: 60 Pf.

Im Februar bewilligte das Plenum des Abgeordnetenhauses nach den Vorschlägen der Budgetkommission die erste Rate zum Umbau der Wittenberger Schlosskirche im Betrage von 300 000 Mark.
Im Jahre 1885 begann der Umbau nach den Plänen und unter der Oberleitung des Geheimen Ober-Baurats Professor Adler in Berlin; vollendet wurde er nach siebenjähriger Dauer im Jahre 1892 unter der Leitung des Regierungsbaumeisters Groth.

Die feierliche Einweihung des in wunderbarer Schönheit und Pracht erstandenen Gotteshauses erfolgte schon bemerkt wie am 31. Oktober 1892 in Gegenwart Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II., Ihrer Majestät der Kaiserin und der evangelischen Fürsten Deutschlands.
Wir lassen hier den auf eigener Anschauung beruhenden Bericht über die Einweihungsfeier folgen:

Hell und klar war der Festtag angebrochen, goldener Sonnenschein lugte in die geschmückte Stadt hinein. Wittenberg war fertig, seinen Kaiser zu empfangen. Eingeleitet wurde der Festtag, durch den früh um 7 Uhr vom Turme der Stadtkirche geblasenen Choral
„Ein feste Burg ist unser Gott“, und dann füllte sich die Stadt mit festlichem Leben.
Zug auf Zug brachte zahllose Fremden, welche die Feststraße und den Markt bald so füllten, daß ein eigentliches Gehen auf denselben nicht mehr möglich war, und immer neue Menschenmassen kamen dazu. Kriegervereine rückten ein und bildeten in der Collegienstraße eine Chaine (Kette), das 3. Pionierbataillon kam zu gleichem Zweck aus Torgau, die Halleschen Studenten, etwa 500 Mann mit 19 Fahnen, marschieren auf und in der Lutherstraße beginnt sich der Festzug zu bilden.
Feststraße und Markt sind dicht mit Menschen besetzt, die Torgauer Geharnischten in ihren blitzenden Rüstungen haben dem Rathause gegenüber Aufstellung genommen.

Von ¾10 Uhr trafen die fürstlichen Gäste auf dem Marktplatz ein und nahmen in der einen vor dem Rathause aufgestellten Kaiserhalle Platz.
Eine hohe, glänzende Versammlung, wie sie Wittenberg noch nicht gesehen.
Es erschienen nacheinander:
– Prinz Heinrich von Preußen,
– Prinz Albrecht von Preußen,
– die Prinzen Friedrich Heinrich und Joachim von Preußen,
– der Erbprinz von Sachsen-Meiningen,
– der König von Württemberg,
– der Erbgroßherzog von Baden,
– der Großherzog von Oldenburg,
– der Herzog von Mecklenburg-Schwerin,
– der Regent des Herzogtums Braunschweig,
– Prinz Albrecht von Preußen,
– der Herzog von Sachsen-Altenburg,
– der Herzog von Anhalt Dessau,
– der Herzog Günther von Schleswig-Holstein,
– der Fürst zu Waldeck,
– der Fürst von Schwarzburg-Rudolstadt,
– der Fürst von Schwarzburg-Sondershausen,
– der Fürst von Reuß ä. L.,
– der Erbprinz von Reuß j. L.,
– der Prinz zu Schaumburg-Lippe,
– Bürgermeister Dr. Behn von Lübeck,
– Bürgermeister Dr. Pauli von Bremen,
– Bürgermeister Dr. Mönckeberg von Hamburg,
. der Herzog von York als Vertreter der Königin von England,
– Baron von Gardenbrock als Vertreter der Königin der Niederlande, – Prinz Johann zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg als Vertreter des Königs von Dänemark und
– der Kronprinz von Schweden.
Um 11 Uhr fuhren der Kaiser mit der Kaiserlichen Familie in den Bahnhof ein und begaben sich in die Stadt, und zwar fuhr die Kaiserin mit der Prinzessin Heinrich und den drei ältesten Prinzen unter brausenden Hochrufen durch die Straßen nach der Schlosskirche, die sie vom Schlosshof aus durch die Sakristei betrat, während sich der Kaiser nach dem Marktplatz begab und hier die Huldigung der versammelten Fürsten und der städtischen Behörden entgegennahm, um dann mit seinem glänzenden Gefolge den Kirchgang anzutreten.

Der Zug, der sich langsam durch ein Militärspalier bewegte, wurde durch die Direktoren des Wittenberger Prediger-Seminars, Sup. Quandt, Prof. Reinide und Prof. Schmidt eröffnet;
hinter diesen schritten zunächst die Hof- und Domprediger Vieregge und Faber sowie der Konsistorialrat Dr. Köstlin von Halle. Sodann folgten unter Führung des Ersten General-Superintendenten der Provinz Sachsen D. Schulze, sowie der General-Superintendenten Ober-Konsistorialrat Braun II aus Berlin und Wirkl. Ober-Konsistorialrat D. Erdmann aus Breslau, die übrigen preußischen General Superintendenten, der Feldpropst und der Abt von Loccum;
es schlossen sich an die Vertreter der evangelischen Kirchenregierungen, der Rektor, der Universitätsrichter und
die vier Dekane der Universität Halle Wittenberg, der Kreisausschuss des Kreises Wittenberg, die Vertreter der Stadt Wittenberg und die evangelischen Geistlichen von Wittenberg, das Festkomitee, die Generalität, die Staatssekretäre des Deutschen Reiches, der Präsident des Reichsgerichts und die Bundesratsbevollmächtigten; der Präsident der Ober-Rechnungskammer und Vertreter der Präsidien beider Häuser des Landtags; die Chefs des Zivil-, des Militär- und des Marinekabinetts; das Staatsministerium, der Minister des Königlichen Hauses, die inaktiven Staatsminister und der Präsident des Evangelischen Ober-Kirchenrats.
Alsdann nahten die hohen Fürstlichen Gäste nebst ihrem Gefolge und zum Schluß Se. Majestät der Kaiser und König, von Allerhöchst seinem Gefolge begleitet.

Eröffnet wurde die Kirche, nach Erledigung der symbolischen Formalitäten, durch Herrn Superintendent D. Quandt.
Die Weiherede hielt der erste General-Superintendent der Provinz Sachsen, D. Schulze, nach welchem der Hof- und Domprediger Vieregge sprach. Während der Einweihung der Schlosskirche hielt auch in der Stadtkirche der Hofprediger D. Frommel eine Festpredigt.

Hierauf begab sich der Kaiser zu Wagen und mit seinem Gefolge nach dem Lutherhause, wo er in der Lutherstube die Urkunde über die stattgehabte Einweihungsfeierlichkeit vollzog und nahm dann mit den kaiserlichen Prinzen auf der vor den Augusteum erbauten Tribüne stehend, die Huldigung des historischen Festzuges entgegen.

Tuba Fanfaren verkünden das Herannahen des Zuges, der an sich eine neue glänzende Überraschung bot.
So glänzend, so prächtig hatte ihn niemand erwartet, und Leute, welche die Kostüm-Festzüge der letzten Zeit gesehen haben, sind in ihrem Urteil darin einig, daß alle jene Festzüge, so wohl wie der durchgehenden und durchgeführten Gedanken, sowie die Ausstattung und das Arrangement betrifft, weit hinter diesem neuesten Festzuge, mit dem Wittenberg seinen Kaiser ehren wollte, zurückstehen. Es war der Zweck des Zuges, die engere Geschichte Wittenbergs und die weitere des Kurkreises Sachsen darzustellen. Und das ist denn auch so vorzüglich gelungen, daß man kaum des Festprogrammes bedurfte, um die Bedeutung der einzelnen Gruppen erkennen zu können.
Prächtige lebende Bilder waren diese Gruppen, die, wenn auch idealisiert, die Hauptmomente aus der Geschichte Wittenbergs zeichneten. – Da kommt, hoch zu Ross, der gewaltige Krieger Albrecht der Bär (+1170) mit seinen Edlen und Reisigen geritten, und hinter ihm her ziehen die heimatlosen Fläminger, denen er eine neue Heimat in seinen Landen bietet, und die es ihm mit ihren Nachkommen danken bis auf den heutigen Tag. Auf blockrädrigen Ochsenwagen führen die Fremden ihren Hausrat, ihre Kinder und ihre Geräte mit und in einfachen, malerischen Gewändern schreiten ihre Frauen daher. Besonders interessant an dieser Gruppe ist, daß sie Nachkommen jener Kolonisten von den Kropstädter dargestellt wurde, die der Kammerherr von Leipzig auf seine Kosten vereinigt und kostümiert hatte.
Dann kommt Albrecht II., welcher Wittenberg im Jahre 1293 zur Stadt erhob; der erste sächsische Kurfürst Rudolf I., der Gründer der Schlosskirche, ein überaus glänzender Zug mit zahlreichen berittenen Edlen und Rittern, aus denen die Vertreter der vornehmsten Adelsgeschlechter Sachsens die
– v. Alvensleben.
– v. d. Asseburg,
– v. Bodenhausen,
– v. Eller, Elberstein,
– v. Graeveniz,
– v. Hagen,
– v. Helldorf,
– v. Hennis,
– v. Krosigh,
– v. Leipziger (jetzt v. Leipzig),
– v. Schlieben
– v. Trotha,
– v. Veltheim und
– v. Wuthenau
hervorragen.

Die alten Zünfte mit ihren Gewerkzeichen folgen, und 31 einem wildromantischen, malerischen Bilde sind die aus dem Kampf mit den Hussiten heimkehrenden Bürger mit den gefangenen Hussiten, Trosswagen und Stadtknechten zu Fuß und zu Pferde vereinigt. Ein prächtiges Bild bot auch ein Auszug der Schützenbrüderschaft im 15. Jahrhundert, und es hat gerade diese Gruppe das helle Entzücken der Kaiserlichen Prinzen erweckt.
In der Gruppe wurden nämlich als „Schießvorteile“ von zwei Kindern eine Ziege und ein Schäfchen geführt, und als diese an der Tribüne des Kaisers vorüber kamen, da brachen die Prinzen in lautem Jubel aus und verfolgten die hübschen Tiere so lange sie dieselben sehen konnten.

Von wunderbarer Treue war dann die Gruppe des 16. Jahrhunderts. Da war beispielsweise ein Fähnlein Landsknechte in der Pludertracht des großen Krieges mit den weiten bauschigen Hosen, von denen ein Satiriker der Zeit meinte, daß, wenn ein paar solcher Kerle einher schreiten, es rauschte, als ob ein Fluss über eine Wehr liefe.

Der ganze Trupp, ihr Anführer voran, war von verblüffender Echtheit, und zwar nicht nur im Kostüm, sondern auch in der ganzen Haltung und im Gebaren. Sie trugen ihr gepufftes und geschlitztes Wams mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als ob sie den Rock des 19. Jahrhunderts oder gar den Frack des modernen Kulturmenschen nicht einmal vom Hörensagen kennten und als ob sie jeden Tag, den der liebe Gott werden läßt, mit Spießen und Hellebarden zu hantieren pflegten.
Bei den zum Teil bildschönen Rittern und Höflingen, die das Gefolge der Askanier Albrecht und Rudolf und des Kurfürsten Friedrichs des Weisen bildeten, war es nicht anders: diesen sächsischen Edlen saßen ihre glänzenden Prachtgewänder wie angegossen und ihre reich geschirrten Pferde mussten das Entzücken aller Kenner hervorrufen.

Wundervoll war nicht zuletzt die Gestalt Friedrichs des Weisen selbst, in der das bekannte Bildnis Lukas Cranachs lebendig geworden war. Genau so mag der alte, etwas bequeme Herr ausgesehen, genau so in lange vergangenen Tagen durch sein Wittenberg geritten sein. Und als dann der Wagen der Reformation auf dem Markte hielt und hier Luther und Melanchthon leibhaft unter uns traten, hier, wo noch jeder Stein von ihnen zu reden weiß und die Türme ihrer Pfarrkirche zu uns herübergrüßen – da versank die Zeit, und die Schatten der Vergangenheit haben Blut und Leben gewonnen.
Wie von einem Traum umfangen wandelten wir plötzlich durch das Wittenberg des 16. Jahrhunderts und erst ganz allmählich wich der Zauber, so daß wir uns erst nach und nach in die Gegenwart zurückfanden.

Mit freudigem Hoch wurde, namentlich seitens der auf dem Markt aufgestellten Halleschen Studenten, der Wagen der Wittenberga, der der Reformation und der die verschiedenen Lehrfächer symbolisierenden Universität begrüßt.
Die Buchdrucker, auf eigenem Wagen, verteilten einen faksimilierten Nachdruck von den im Jahre 1517 zuerst gedruckten 95 Thesen Luthers.
Wilhelm von Oranien, Christian IV. von Dänemark mit ihren charakteristischen Mannen folgen.
Eine prächtige Gruppe ist die Gustav Adolfs, mit dem lebendigen Porträt des großen Schwedenkönigs, und es war interessant zu sehen, wie auch hier in seinen Truppen die derzeit vielgerühmte Disziplin seines Heeres im Vergleich zu den zuchtlosen Söldnerscharen zur Anschauung kam.
Ernst und stramm marschierte das schwedische Fähnlein daher, während jene in kecker Ungebundenheit sich den Teufel um Drill und Korporalstock scherten. Und eben in dieser außerordentlichen Echtheit und Natur, die sich bis aufs Kleinste erstreckte, lag nicht der geringste Reiz dieses historischen Festzuges.
Man verlor bisweilen völlig den Eindruck einer Schaustellung und eines Kostümzuges, da jeder einzelne mit Leib und Seele bei der Sache war.
Dadurch wurde wirklich das Vergangene lebendig, wozu denn freilich auch der Rahmen, in dem diese Bilder erschienen, das Seinige beitrug. –
Eine überaus fesselnde Wirkung hatte die letzte der historischen Gruppen, die Einnahme von Wittenberg im Jahre 1813, mit den aus der Belagerung Wittenbergs bekannten Gestalten der Generale von Tauentzien und von Dobschütz, den verschiedenen Waffengattungen aus jener Zeit und den stramm marschierenden Mannschaften, denen sich als malerische Staffage die Geharnischten Torgauer anschlossen.

Wittenberg im Jahre 1892 mit dem Wagen der Baukunst, dem Modell der wiederhergestellten Schlosskirche und eine lange Reihe von Deputationen aus Stadt und Kreis Wittenberg schlossen endlich den imposanten Zug.

Sehr hübsch und charakteristisch wirkte es, daß die den Gruppen voran reitenden oder marschierenden Musikchöre mit den in der dargestellten Zeit gebräuchlichen Instrumenten ausgerüstet waren, oder doch Kompositionen aus jener Zeit spielten.
Der Zug, der überall von einer tausendköpfigen Menge mit lautem Jubel begrüßt wurde, bewegte sich in leider etwas raschem Tempo durch die Collegienstraße und Schlossstraße bis zur Schlosskirche und von da durch die Coswiger-und Bürgermeisterstraße nach dem Arsenalplatze.
Hier richtete Hofprediger Faber an die Teilnehmer eine Ansprache, in welcher er hervorhob, daß dieser Tag dazu angetan sei, die Schmach auszugleichen, die einst der Reichstag zu Worms durch die Ächtung des besten deutschen Mannes auf sich geladen habe, und in welcher der Redner an die Versammlung die Mahnung richtete, diese Feier zur Stärkung des evangelischen Bewusstseins und zum erneuten Schaffen im evangelischen Geiste wirken zu lassen.
Der Festzug löste sich hierauf in Gruppen und einzelne Figuren auf, die noch lange die Straßen und die Lokale belebten.

Nachdem der Festzug an den Majestäten vorüber defiliert war, begab sich der Kaiser in das Lutherhaus, wo er mit seinen Gästen – 300 an der Zahl – an den im Refektorium und in der Aula gedeckten und prächtig dekoriertem Tafeln das Mahl einnahm.
Für dessen Zubereitung war, in vier Wagen verpackt, eine kaiserliche Küche mit allem Zubehör bereits einige Tage vorher hier eingetroffen und in einem am Lutherhause errichteten Raume untergebracht worden. Zum Dienste in der Küche, der Silberkammer, der Kellerei und der Aufwartung bei der Tafel war ein Personal von 120 Personen vorhanden, wozu noch eine größere Anzahl zur Hilfeleistung angeworbener Frauen aus Wittenberg kam.

Bei der Tafel trank Seine Majestät auf das Wohl der fürstlichen Gäste aus dem Pokale Luthers, den die Stadt Wittenberg dem Reformator zu seiner Hochzeit im Jahre 1525 geschenkt hatte.
Aus dem kaiserlichen Trinkspruche ist nachstehende Stelle besonders bemerkenswert:

„Wir haben unsern Glauben heute vor Gottes Angesicht aufs neue bekannt, und wir vergessen es nicht, daß dieses Bekenntnis uns auch heute noch mit der gesamten Christenheit verbindet.
In ihm liegt ein Band des Friedens, welches auch über die Trennung hinüber reicht. Es gibt in Glaubenssachen keinen Zwang; hier entscheidet allein die freie Überzeugung des Herzens, und die Erkenntnis, daß sie allein entscheidet, das ist die gesegnete Frucht der Reformation. Wir Evangelischen befehden niemand um seines Glaubens willen, aber wir halten fest an dem Bekenntnis des Evangeliums bis in den Tod. Das ist meine Zuversicht, mein Gebet und meine Hoffnung.“

Nach Beendigung des Mahles fuhr der Kaiser mit seinen Gästen um 4 Uhr nach dem zum Festspielhause umgewandelten Exerzierhause der Kavalier-Kaserne. Mit großem Interesse folgte er hier der Aufführung des Herrigschen Lutherfestspiels und beauftragte nach Beendigung desselben den Bürgermeister Dr. Schild, allen Mitwirkenden seinen Dank auszusprechen.
Vom Festspielhause aus begab sich Seine Majestät nebst Gefolge durch die in festlicher Illumination erstrahlende Stadt direkt zum Bahnhofe, von wo er gegen 6½ Uhr die Rückreise nach Potsdam antrat. Ihre Majestät die Kaiserin war mit den kaiserlichen Prinzen bereits um 4 Uhr dahin vorausgefahren.

Aus Anlass der Einweihungsfeier verlieh Seine Majestät mehreren hiesigen Personen Ordens-Dekorationen.
Außerdem ließ der Kaiser als Erinnerungszeichen eine Denkmünze in Bronze prägen, die auf der Vorderseite das Bild Seiner Majestät und auf der Rückseite eine Abbildung der erneuerten Schlosskirche trug mit der Umschrift
„Ein feste Burg ist unser Gott“
und dem Datum, „Wittenberg, den 31. Oktober 1892“.

Die Denkmünze wurde in zwei Größen hergestellt. Die größere erhielten alle fürstlichen Personen, welche der Feier beiwohnten oder sich dabei vertreten ließen, sowie die Jenigen, welche sich um den Erneuerungsbau der Schlosskirche oder die Veranstaltung des Festes besonders verdient gemacht hatten, während die kleinere Denkmünze allen übrigen Festteilnehmern verliehen wurde.

Am 28. Juni 1893 waren 600 Jahre vergangen, seit Albrecht II. im Jahre 1293 Wittenberg zur Stadt erhob.
Dieses Jubiläum wurde durch eine größere Festfeier begangen. An Seine Majestät den Kaiser sandte man ein Ergebenheitstelegramm, das von diesem in ehrender Weise beantwortet wurde.

Schlosskirche mit Denkmal
– um 1900
aus: Archiv des HV WB

Seine besondere Weihe erhielt der Tag durch die Grundsteinlegung zum Denkmale Kaiser Friedrichs vor der Schlosskirche.
Enthüllt wurde das Denkmal unter entsprechender Feierlichkeit am 31. Oktober 1894.
Es stellt Kaiser Friedrich, den eifrigen Förderer der Schlosskirchen-Restaurierung, in der Haltung dar, in welcher er beim Lutherjubiläum im Jahre 1883 dieses Gotteshaus betrat. Entworfen und modelliert ist das Denkmal von einem Kinde unserer Stadt, dem Bildhauer Arnold-Berlin.
Um seine Errichtung hat sich in erster Linie der eigens zu diesem Zwecke gegründete Verein „Kornblume und Veilchen“ verdient gemacht, der von den 16 363 M. Kosten allein 8 494 M. aufbrachte, während das Hauptkomitee 7 669 M. und die Stadt Wittenberg 200 M. beisteuerte.

Der 80. Geburtstag des ersten Kanzlers vom neuen deutschen Reich, des Fürsten von Bismarck, wurde am 1. April 1895 durch eine vom Kriegerverein arrangierte  Feier unter Mitwirkung der  hiesigen Gesangvereine und der Regimentsmusik festlich begangen. Die Festrede hielt Gymnasialdirektor Guhrauer.
Außerdem gelangte das Festspiel „Das erste Blatt zum Heldenkranz“ von M. Greif zur Aufführung.

Im Jahre 1895 erfuhr das Steuerwesen unserer Stadt eine Veränderung.
Am 1. Juni trat das Regulativ über Erhebung einer Gemeinde Biersteuer in Kraft. Von dem in der Stadt Wittenberg gebrauten Biere wird danach eine Gemeindeabgabe in Form von Zuschlägen zur Brau-Steuer erhoben. Diese beträgt nach dem Regulativ
– a) für einfaches Bier 10 Prozent (für jede volle Mark 10 Pf.),
– b) für alles andere Bier 50 Prozent (für jede volle Mark 50. Pf.).
Von dem von auswärts eingeführtem Biere wird erhoben:
– a) für einfaches Bier 6 Pf. pro Hektoliter,
– b) für alles andere Bier 65 Pf. pro Hektoliter.
Im letzten Berichtsjahre (1908) ergab die Biersteuer einen Ertrag von 13 582 M. 54 Pf.

Am 2. September 1895 wurde das 25 jährige Jubiläum der Schlacht bei Sedan festlich begangen. Am Vorabend fand in der Turnhalle des Gymnasiums die Aufführung des Festspiels „Sedan“ von Thourat durch Schüler der Oberklassen statt. Am Festtage wurde in der Stadtkirche vormittags 9 Uhr ein Festgottesdienst abgehalten, in dem Diakonus Matthies die Festpredigt hielt.
Nach dem Gottesdienste marschierten die Militärvereine nach dem geschmückten Kriegerdenkmale, an dessen Fuß nach einer Ansprache des Diakonus Wagner Kränze niedergelegt wurden. Gegen 2 Uhr nachmittags setzte sich vom Schulplatze des Gymnasiums aus ein großer Festzug in Bewegung.
Voran schritt eine Musikkapelle, dann folgten die Schülerinnen und Schüler sämtlicher Schulen, die königlichen und städtischen Behörden, die Bürgerschaft, fünf Militärvereine, die vier hiesigen Gesangvereine, die Schützen, Turner, der Gewerkverein (Hirsch Dunker) und zum Schluß die Feuerwehr.
Auf dem Marktplatze begrüßte Herr Bürgermeister Dr. Schirmer den Zug durch eine Ansprache und brachte ein Hoch auf Seine Majestät den Kaiser aus

Hierauf bewegte sich der Festzug nach dem Elstertore.
Dort gegenüber der Luthereiche wurde nach Choralgesang und Weihegebet des Archidiakones Schleusner zur Erinnerung eine Sedaneiche gepflanzt. Der Akt wurde durch Weihesprüche seitens der Vertreter der Behörden, der Geistlichkeit und der Lehrerschaft beendet. Dann marschierte der Zug nach dem Festplatze, der Schützenwiese. Die Feier nahm hier den Charakter eines großen Volksfestes an.
Die vereinigten Gesangvereine unter Leitung des Musikdirektors Stein trugen patriotische Lieder vor.
Nach einer Ansprache des Generalleutnants z. D. Exzellenz von Behr wurden die 300 Kombattanten des Kriegervereins (seit 1848) mit goldenen Erinnerungsmedaillen dekoriert.
Eine ähnliche Erinnerungsmedaille wurde jedem Schüler und jeder Schülerin geschenkt. Diese zeigt auf der Vorderseite das Bild der drei Kaiser des neuen Deutschen Reichs mit der Überschrift:
„Gott mit uns!“
Die Rückseite trägt das Wittenberger Stadtwappen mit der Umschrift: „Erinnerungsfeier der Stadt Wittenberg 1870 – 2. September – 1895.“
Um 8 Uhr erfolgte die Rückkehr in die festlich geschmückte und prächtig illuminierte Stadt, wo sich der imposante Festzug nach einer Schluss Ansprache der Herrn Bürgermeisters Dr. Schirmer auf dem Marktplatze auflöste.
Die Militärvereine beschlossen den Tag durch einen Festkommers im Saale der „Reichspost“ (Muth).
Das Infanterieregiment Nr. 20, das im Manöverfeld weilte, beging die Erinnerungsfeier erst am 27. Oktober.
Das Regiment hat an den Kämpfen 1870-71 hervorragenden Anteil; verlor es doch in der Schlacht von Vionville am 16. August 1870 allein 35 Offiziere und 583 Mann.

Bei der am 1. Dezember 1895 stattfindenden Volkszählung wurde in 4 458 Haushaltungen eine Einwohnerzahl von 16 446 Personen (8 831 männliche und 7 615 weibliche) festgestellt; darunter 14 307 Zivilpersonen und 2 139 Militärpersonen.

Das Jahr 1896 verlief für unsere Stadt ohne besonders bemerkenswerte Ereignisse.
Das Jahr 1897 brachte zwei hervorragende Jubiläen:
Am 16. Februar wurde der 400 jährige Geburtstag Philipp Melanchthons festlich begangen. Bereits am Vorabend fand ein Festakt im Gymnasium statt, dem aus Anlaß dieser Erinnerungsfeier auf gestellten Antrag hin von Seiner Majestät dem Kaiser der Name Melanchthongymnasium verliehen wurde.
Den eigentlichen Festtag leitete in üblicher Weise Glockengeläut und Choralblasen vom Turme der Stadtkirche ein. Die Dent mäler der Reformatoren auf dem Marktplatze, viele Häuser, besonders das Melanchthonhaus, trugen reichen Festschmuck. In dem Festgottesdienste der Stadtkirche predigte Archidiakonus Schleusner, während in dem gleichzeitig in der Schlosskirche stattfindenden Festgottesdienste Generalsuperintendent Vieregge aus Magdeburg die Festpredigt und Superintendent Dr. Quandt am Grabe Melanchthons eine Ansprache hielt.
Nach dem Gottesdienste erfolgte ein Festzug sämtlicher Schüler von der Stadtkirche zum Melanchthondenkmale, an dem Gymnasialdirektor Guhrauer eine Ansprache an die Versammelten richtete.
Im Stadtverordnetensitzungssaale des Rathauses traten die städtischen Behörden, die Spitzen der Zivil- und Militärbehörden, der Gemeindekirchenrat, die Geistlichen und Lehrer zu einer Festsitzung zusammen.
Nach einer in das Kaiserhoch ausklingenden Ansprache des Bürgermeisters Dr. Schirmer hielt Professor Haupt die Festrede.
Am Abend fand im Saale der „Reichspost“ eine Nachfeier statt, bei der Gesänge des Steinschen Gesangvereins mit Ansprachen wechselten.
Auch ein Festspiel „Philipp Melanchton“ von Blachny gelangte zur Aufführung. Aus Anlass dieser Gedächtnisfeier wurde das Sterbezimmer Melanchthons im Melanchthonhause dem Charakter der Reformationszeit gemäß renoviert und neu ausgestattet.

Der 100. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. wurde am 22. und 23. März in ausgedehnter Weise gefeiert.
Die Stadt war hierzu reich mit Fahnen und Blumen geschmückt.
Am ersten Festtage fand in der Stadtkirche wie in der Schlosskirche Festgottesdienst statt. Nach dessen Beendigung marschierten die Militärvereine zum Kriegerdenkmal, an dessen Fuß nach einer Ansprache des Generalleutnants z. D. von Behr Kränze niedergelegt wurden. Nach dem Parademarsch begaben sich die Militärvereine durch die Juristenstraße und Coswigerstraße nach dem Schlossplatz zum Denkmale Kaiser Friedrichs, das gleichfalls mit Kränzen geschmückt wurde und hierauf zur Wohnung des Vorsitzenden des Kriegervereins, Stadtrat Sichler, wo nach dessen Ansprache die von den Frauen und Jungfrauen des Vereins gestifteten Fahnenbänder an die Fahne geheftet wurden.
Mit der Aufführung eines patriotischen Festspiels im Saale der „Reichspost“ und einer umfassenden Illumination der Stadt schloss der erste Festtag. Am zweiten Festtage wurden in sämtlichen Schulen Festakte abgehalten.
Am Schlusse der Feier im Melanchthon Gymnasium wurden dem Direktor desselben 1 150 M. als Ertrag einer Sammlung vom 241 früheren Schülern der Anstalt zur Anbringung von Gedenktafeln für die in den Kriegen 1866 und 1870 -71 gefallenen ehemaligen Schüler des Gymnasiums überreicht. Um 12 Uhr mittags fand auf dem kleinen Exerzierplatz große Parade statt.
Ein Festkommers in der „Reichspost“ mit Ansprachen und Aufführung des Festspiels bildete den Schluß des Festes.

Vom 23. und 24. Juni tagte in unserer Stadt die Hauptversammlung des Gustav Adolf-Vereins der Provinz Sachsen.
Am 22. Juni abends 6 Uhr wurde in der Stadtkirche das Oratorium „Paulus“ von Mendelssohn durch den Steinschen Gesangverein und unter Mitwirkung auswärtiger Solisten aufgeführt.
Abends 8½ Uhr fand in „Sichlers Garten“ eine öffentliche Versammlung mit Ansprachen und Gesangsvorträgen statt.
Der zweite Festtag wurde durch Glockengeläut und Choralblasen eingeleitet. Vormittags 8½ Uhr begrüßte Bürgermeister Dr. Schirmer die Festteilnehmer im Rathause, die sich dann in geschlossenem Zuge nach der Stadtkirche begaben, in der Konsistorialrat Nehmiz aus Magdeburg die Festpredigt hielt.
Um 11½ Uhr wurden in der „Reichspost“ die gesammelten Festgaben überreicht, und am Abend fand dort eine gesellige Vereinigung statt, bei der Gesangsvorträge und Ansprachen miteinander abwechselten.

Am 21. September 1848 war im Anschluß an den Kirchentag in Wittenberg der Verein für innere Mission gegründet worden.
Es entsprach daher einem allgemeinen Wunsche, das 50 jährige Jubiläum des Vereins in unseren Mauern zu begehen.
Diese großangelegte Feier fand am 21. und 22. September 1898 hier statt. Die Stadt war hierzu überaus reich geschmückt.
Als Vertreter S. M. des Kaisers wohnte Kultusminister Dr. Bosse der Feier bei.
Eröffnet wurde diese am 21. September durch eine Abendversammlung im Saale der „Reichspost“, bei der Gesangsvorträge der hiesigen vereinigten vier Gesangvereine mit Ansprachen abwechselten.
Am 22. September fanden in der Schloss- und Stadtkirche Festgottesdienste statt. Seinen Abschluss fand das Fest in einer von etwa 600 Personen besuchten Nachfeier im „Kaisergarten“, in der neben Gesangsvorträgen des Steinschen Gesangvereins verschiedene Ansprachen geboten wurden.

Am 29. September verließ das 1. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 151, welches seit seiner Errichtung auf dem Brückenkopf in Garnison gelegen hatte, unsere Stadt, um nach seinem neuen Garnisonort Allenstein überzusiedeln.

Die Jahrhundertwende wurde am Silvesterabend 1899 durch eine allgemeine zahlreich besuchte Festversammlung im Saale der „Reichspost“ und eine sich anschließende Feier auf dem Marktplatze begangen.

Deutschlands Stellung als Weltmacht und sein ausgebreiteter Handel, der alle Teile des Weltballs umspannt, forderten schon längst den Schutz durch eine starke Kriegsflotte.
Um hierfür in den breiten Schichten des deutschen Volkes das Verständnis zu erwecken, wurde am 30. April 1898 in Berlin der deutsche Flottenverein gegründet.

Auch in unserer Stadt trat am 19. März 1900 eine Kreisgruppe des deutschen Flottenvereins unter dem Vorsitz des Generalleutnants z. D. von Behr mit vorläufig 70 Mitgliedern ins Leben.
Unter der zielbewussten Leitung und durch die energische Tätigkeit des derzeitigen Vorstandes hat sich diese Vereinigung kräftig entwickelt und zählt gegenwärtig rund 300 Mitglieder in der Stadt und etwa 600 Mitglieder im Kreise Wittenberg.

In den ersten Monaten des Jahres 1900 entstanden in China Unruhen (Boxeraufstand), in deren Verlauf zahlreiche Europäer, darunter auch viele Deutsche ermordet wurden.
Am 1. Juli fiel sogar der deutsche Gesandte in Peking, Freiherr von Ketteler, den Aufständigen zum Opfer.
Zur Niederwerfung des Aufstandes und zum Schutz von Leben und Eigentum seiner Untertanen rüstete das deutsche Reich eine gemischte Brigade aus, die unter dem Oberbefehl des Grafen von Waldersee nach China gesandt wurde.
Zu dieser ostasiatischen Brigade meldeten sich auch 150 Freiwillige des hiesigen Infanterie-Regiments Nr. 20.
Von diesen wurden ausgewählt:
– 1 Stabsarzt,
– 1 Sanitätsunteroffizier,
– 4 Krankenträger,
– 4 Frontunteroffiziere,
– 2 Trainfahrer,
– 1 Musiker und
– 30 Mann,
die am 16. Juli von ihrem Regiment verabschiedet wurden und sich nach dem Sammelplatze Jüterbog begaben.
Ein großer Teil der nach China gehenden deutschen Truppen passierte unseren Bahnhof, wo ein Hilfskomitee sie mit den gesammelten Liebesgaben, Bier, Mineralwasser, Brötchen mit Würsten und Zigarren bewirtete.
Am 26. Juli traf der erste Truppentransport – 24 Offiziere und 663 Unteroffiziere und Mannschaften des ostasiatischen Feldartillerie -Regiments auf der Fahrt von Jüterbog zur Einschiffung in Bremerhaven hier ein, denen am 29. Juli weitere 500 Mann desselben Regiments und am 30. Juli das 1. Bataillon des 2. ostasiatischen Infanterie-Regiments – 40 Offiziere und 882 Mann – folgten.
Letztere erhielten auf dem Bahnhofe warmes Mittagsessen – grüne Bohnen mit Rindfleisch – wozu 5 Zentner Bohnen, 9 Zentner Kartoffeln und 620 Pfund Ochsenfleich verbraucht wurden.
Die Brauerei „Waldschlößchen“ in Dessau spendete dazu 9½ Tonnen Bier.
Ein weiterer Truppentransport- eine Infanterie und zwei Munitionskolonnen in Stärke von 16 Offizieren und 588 Mann traf am 1. August ein. Am 30. August folgte – vom Schießplatz Zeithain kommend – das ostasiatische Infanterie Regiment Nr. 6 mit dem Stabe, und zwar 29 Offiziere und 1 032 Mann, denen abends zwei Gebirgsbatterien und eine Haubitzbatterie mit Munitionskolonnen – zusammen 27 Offiziere und 748 Mann – folgten.
Am 3. September passierte ein Truppentransport von 5 Offizieren und 377 Mann und am 6. September endlich ein solcher von 500 Mann.
Im ganzen wurden in der Zeit vom 26. Juli bis 6. September 5 900 Mann der durchpassierenden Truppen auf unserem Bahnhofe bewirtet.
Bei den Kämpfen in China fand auch ein Kind unserer Stadt, der Leutnant Alfred Friedrich, der einzige Sohn des Lehrers Friedrich, bei dem Vormarsche auf die Hauptstadt Peking seinen Tod.

Im Herbste desselben Jahres – vom 22. bis 24. September – veranstaltete der hiesige Gartenbauverein in „Sichlers Garten“ eine Gartenbau-Ausstellung, die von 63 Ausstellern beschickt war und ein rühmliches Zeugnis ablegte von der Höhe, auf welcher der Wittenberger Gartenbau steht. Die Ausstellung wurde von 2 600 zahlenden erwachsenen Personen besucht.

Die am 1. Dezember stattfindende Volkszählung stellte eine ortsanwesende Bevölkerung von 18 333 Personen fest, darunter 1 926 aktive Militärpersonen.

Die 200 jährige Gedenkfeier der Errichtung des Königreichs Preußen wurde am 18. Januar 1901 auch in unserer Stadt festlich begangen.
Am Vorabend erfolgte großer Zapfenstreich.
Der Festtag selbst wurde eingeleitet durch Wecken;
in den Schulen fanden Festakte statt, und am Mittag rückten die Truppen der Garnison auf dem Marktplatze zur Parade auf.
Abends erstrahlte die Stadt in prächtiger Illumination. Den Abschluss bildete ein Festkommers in der „Reichspost“, an dem sich etwa 600 Personen beteiligten.
Nach einer Begrüßungsansprache des Bürgermeisters Dr. Schirmer trugen die vereinigten vier Gesangvereine mehrere Lieder vor.
Die Festrede hielt Professor Haupt, während nach Aufführung eines kleinen Festspiels der Königliche Landrat Freiherr von Bodenhausen das Schlusswort sprach.

Am 1. November 1901 wurde die durch Ortsstatut vom 26. November 1900 geschaffene obligatorische Fortbildungsschule mit vorläufig 400 Schülern in 10 Klassen eröffnet. Zurzeit zählt die Schule 560 Schüler.
Zum Besuche derselben sind alle im Stadtbezirke sich regelmäßig aufhaltenden Arbeiter, Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter verpflichtet, sofern sie nicht nachweisen können, daß sie diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen, deren Aneignung das Lehrziel der Anstalt bildet.
Die Schulpflicht erstreckt sich bis zum Ablauf des Schulhalbjahrs, in welchem der Schüler das 17. Lebensjahr vollendet.

Am 7. und 8. Juni 1902 beging der Männerturnverein sein 40 jähriges Stiftungsfest, an dem sich rund 800 Turner aus der näheren und weiteren Umgebung Wittenbergs beteiligten.
Es wurde eröffnet am 7. Juni durch einen Fackelzug mit Fackelreigen auf dem Marktplatze und einem anschließenden Kommers in der „Reichspost“.
Am 8. Juni vormittags fand ein Wettturnen in „Sichlers Garten“ statt und am Nachmittag ein Festzug durch die geschmückten Straßen der Stadt nach „Sichlers Garten“, an den sich turnerische Vorführungen anreihten.

Der Sommer dieses Jahres war sehr kalt und regnerisch, so daß alle Früchte drei bis vier Wochen später zur Reife gelangten.
In den letzten Septembertagen traten bereits die ersten Nachtfröste auf, die an den Garten- und Feldfrüchten großen Schaden anrichteten.
Am 2. Oktober fiel der erste Schnee.
Dagegen hatte der März des Jahres 1903 eine fast sommerliche Temperatur. Das Thermometer zeigte an mehreren Tagen 25° C. Sträucher und frühe Obstsorten blühten.
Im Gegensatz dazu trug der ganze Monat April winterlichen Charakter. In einigen Gegenden fiel meterhoher Schnee, der Eisenbahnstockungen verursachte und die Blüten vernichtete.

Das Jahr 1904 zeichnete sich durch eine außergewöhnliche Trockenheit aus.
Von Pfingsten an bis in den Herbst hinein fiel in unserer Gegend kein nennenswerter Regen. Der Ertrag der Heu- und Grummeternte auf den Elbwiesen war daher äußerst gering.
Der Wasserstand der Flüsse sank beständig. Auf der Elbe musste wochenlang die Schifffahrt eingestellt werden, und der Elbpegel wurde außer Tätigkeit gesetzt.
Die Kohlenpreise gingen bedeutend in die Höhe.
(Ein Zentner Mittelkohle1  kostete 75 Pf.)
Unterhalb der Elbbrücke konnte man die Elbe bequem durchwaten. Seit dem Jahre 1846 herrschte keine derartige Dürre.

Am 22. September musste die letzte Wittenberger Tuchfabrik wegen Unrentabilität den Konkurs anmelden. Damit war das Ende der einst so blühenden Wittenberger Tuchfabrikation gekommen. Noch im Jahre 1850 gehörten der Wittenberger Tuchmacherinnung 20 Meister an, die mit 120 bis 130 Gesellen und 25 bis 30 Lehrlingen arbeiteten. Die Wittenberger mit Indigo und Ward echt in der Wolle gewebten Tuche hatten einen Weltruf, und die Wittenberger Tuchmacher waren auf allen Messen und Märkten willkommen.
Sie exportierten ihre Tuche selbst nach Amerika, und man sagte ihnen nach, daß sie sich nach den Messen „auf ihren goldenen Ernten wälzen könnten“.
Das wurde aber Ende der 50 er Jahre anders. Die Buckskins wurden modern, auf deren Herstellung unsere Tuchmacher nicht eingerichtet waren, die mechanischen Webstühle kamen auf, und die Erbauung neuer, leistungsfähiger Fabriken stieß in der Festung Wittenberg auf unüberwindliche Schwierigkeiten.
Im nahen Luckenwalde erhob sich eine gefährliche Konkurrenz, Amerika sperrte durch hohen Schutzzoll die deutschen Tuche aus, Australien warf seine billige Wolle auf die Märkte, und die Wittenberger Tuchindustrie wurde kleiner und kleiner, bis auch die letzten Handwebstühle aufhörten zu klappern.
Es blieb zuletzt nur noch die kleine Tammsche Fabrik übrig, die sich aber trotz allen Fleißes nicht halten konnte und nun endlich auch zusammenbrach.

Unsere Stadt ist im Verhältnis zu ihrer Größe reich an wohltätigen Stiftungen der inneren Mission.
Am 4. Oktober 1883 wurde wie wir bereits berichteten das Paul-Gerhardt-Stift in der Poststrasse eingeweiht.
Ihm folgte die Gründung des in so reichem Segen wirkenden Kaiser-Friedrich-Siechenhauses in der Bachstraße, das am 18. Oktober 1894 eröffnet wurde.
Als erste Anstalt ihrer Art in der Provinz Sachsen wurde am 18. Oktober 1904 das im Lindenfelde, an der Ecke der Sternstraße und Zimmermannstraße erbaute Lehrlingsheim eingeweiht und mit vorläufig 9 Zöglingen eröffnet. Das Haus nimmt Jünglinge im Alter bis zu 18 Jahren auf, welche in Fürsorgeerziehung stehen. Diese werden der Anstalt vom Landeshauptmann überwiesen und bei hiesigen Handwerksmeistern in die Lehre gegeben.
Sie behalten ihr Heim aber im Lehrlingshause, wo sie Wohnung und Kost bekommen, wofür die Lehrherrn eine geringe Entschädigung zahlen.
Das auf Rechnung der Provinzialverwaltung erbaute Haus kostete mit der inneren Einrichtung 80 000 M. Es bietet Raum für 30 Zöglinge. Für die Unterhaltung der Anstalt wurden 18 000 M. jährlich ausgeworfen.

Als weiteres Glied in der Reihe der humanen Schöpfungen unserer Stadt kam im Jahre 1907 das als Diakonissen-Mutterhaus errichtete und nach Luthers Gattin benannte Katharinenstift in der Sternstraße hinzu, welches am 3. Dezember des genannten Jahres durch Generalsuperintendent D. Vieregge eingeweiht wurde.
Dem Katharinenstift benachbart ist der umfangreiche schöne und zweckmäßig angelegte Neubau des Paul-Gerhardt Stiftes, der am 20. Oktober d. J. (1910) feierlich eingeweiht wurde.

Große Entrüstung in unserer Stadt und in der evangelischen Christenheit rief die in der Christnacht des Jahres 1904 erfolgte schwere Beschädigung der Luthereiche vor dem Elstertore hervor. Die Eiche, welche ungefähr die Stelle bezeichnet, an welcher Luther am 10. Dezember 1520 die päpstliche Bannbulle verbrannte, wurde von Frevler Hand einen Meter über dem Erdboden in einer Breite von 1,72 m angesägt und der Schnitt mit einem Geißfuß ähnlichen Instrumente erweitert, in der Absicht, den Baum zum Eingehen zu bringen. Letzteres ist nun erfreulicherweise nicht geschehen.
Durch einen kunstgerechten Verband und sorgfältige Pflege ist die Eiche, die gegenwärtig im Mittel einen Umfang von 3 m hat, erhalten geblieben, und heute sind die Spuren jener Beschädigung nur noch dem kundigen Auge sichtbar.
Trotz der von der Stadtverwaltung und dem hiesigen Zweigvereine des Evangelischen Bundes ausgesetzten Belohnung ist es nicht gelungen, den Täter zu ermitteln.
Zum Schutze des Baumes wurde sein Stamm mit einem hohen Eisengitter umgeben.
Die Luthereiche steht nicht genau auf dem Platze, an welchem die Verbrennung der Bannbulle stattfand.
Dieser liegt viel mehr etwas weiter nach der Sedaneiche zu.

Der jetzige Standort der Eiche ist unter Berücksichtigung der Festungswerke und nach mündlichen Überlieferungen gewählt worden. Wer die erste Luthereiche pflanzte, ist nicht bekannt, Luther aber jedenfalls nicht.
(Eine sinnige Sage über die Pflanzung der ersten Luthereiche bringt die Heimatkunde des Kreises Wittenberg“ von Richard Erfurth. II. Auflage.)
Die erste stark herangewachsene Luthereiche wurde im Jahre 1813 von der französischen Besatzung der Festung Wittenberg rücksichtslos gefällt.
Von 1817 ab fanden wiederholt Versuche statt, eine neue Erinnerungseiche zu pflanzen – so auch im Jahre 1820 – aber die Bäume gingen immer wieder ein. Erst die am 25. Juni 1830 – am Gedächtnistage der Augsburgischen Konfession gepflanzte Eiche hat Wurzel gefaßt und grünt noch heute als Erinnerungszeichen die große befreiende Glaubenstat Martin an Luthers.

Der hundertjährige Todestag unseres großen Dichters Schiller wurde durch eine vom Lehrerverein Wittenberg und Umgegend am 10. Mai 1905 im Saale der „Reichspost“ veranstaltete öffentliche Schillerfeier in würdiger Weise begangen.
Etwa 700 Personen wohnten der Feier bei, und viele, die keinen Platz mehr finden konnten, mussten umkehren. Die Feier bestand aus Gesängen des Lehrergesangvereins, Festprolog, Festrede, Deklamationen und Lichtbildern aus Schillers Leben und Werken.

Vom 22. bis 23. Mai hielt der Hauptverein des Evangelischen Bundes in der Provinz Sachsen in unserer Stadt seine Jahresversammlung ab.
Im gleichen Jahre, vom 8. bis 10. Juli, feierte der Turnkreis IIIc (Provinz Sachsen und Herzogtum Anhalt) hier sein Turnfest.
Den Glanzpunkt desselben bildete der Festzug am 9. Juli, in dem 115 Vereine mit etwa 2 000 Turnern und 90 Fahnen marschierten. Der Tauentzienplatz war zum Turn- und Festplatz hergerichtet, auf dem turnerische Übungen und Spiele mit anschließender Preisverteilung stattfanden.

Ein schrecklicher Unglücksfall ereignete sich am 28. Dezember in der benachbarten Sprengstoff-Fabrik Reinsdorf.
Durch Explosion rauchlosen Pulvers wurden 8 Personen getötet, bzw. erlagen den erhaltenen Brandwunden, während eine noch größere Zahl von Arbeitern schwerere und leichtere Verletzungen erhielten.
Bei einer zweiten Explosion am 22. November 1906 erlitten wiederum einige Arbeiter Verletzungen.
Schlimmer war die bei Schießversuchen am 5. Mai 1909 entstandene Explosion, durch welche drei Familienväter getötet wurden.

Durch die Gründung mehrerer Fabriken im Westen unserer Stadt war die Einwohnerzahl der westlichen Vororte Kleinwittenberg und Piesteritz stetig gewachsen. Dies ließ für beide Gemeinden, die bisher von Wittenberg aus kirchlich versorgt wurden, die Anstellung eines besonderen Hilfspredigers als notwendig erscheinen, die am 1. Januar 1903 erfolgte.
Seitdem wurden in Kleinwittenberg regelmäßige Gottesdienste und Amtshandlungen in einem hierzu eingerichteten Zimmer des Schulhauses abgehalten.
Da aber dieser Raum bei der großen Einwohnerzahl des Bezirks (Kleinwittenberg hatte nach der letzten im Jahre 1905 erfolgten Volkszählung 2 074 und Piesteritz 1 903 Einwohner)
nicht ausreichte, so beschlossen die kirchlichen Körperschaften den Bau einer Kirche für die westlichen Vororte, und der Magistrat unserer Stadt trat als Kirchenpatron diesem Beschlusse bei.
Für den auf 1 200 Plätze berechneten Bau wurden 155 000 M. bewilligt. Davon waren bereits 25 000 M. aus früheren Sammlungen und Stiftungen vorhanden, das übrige wurde aus dem Kirchenvermögen genommen und diesem verzinst und amortisiert. Zur Deckung der hierdurch entstandenen Kosten musste die Kirchensteuer beträchtlich erhöht werden.
(Sie beträgt zurzeit 20% der Staats-Einkommensteuer.)

Am 19. September 1907 fand die Grundsteinlegung zu der Kirche statt, an der sich ua. beteiligten:
– Regierungspräsident Freiherr v. d. Recke aus Merseburg,
– Königlicher Landrat Freiherr v. Bodenhausen,
– der Magistrat und die kirchlichen Körperschaften von Wittenberg,
– die Lehrer von Kleinwittenberg und Piesteritz mit etwa 900 Schülern,
– sowie die Geistlichen von Wittenberg und Umgegend.
Nach dem Gesange eines Schülerchors hielt der Superintendentur Verweser, Pfarrer Müller aus Eutzsch, die Weiherede, der er das Psalm Wort
„Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat“ zugrunde legte.
Hierauf wurde die Urkunde, die sich ausführlich mit der Geschichte des Kirchbaues beschäftigt, verlesen und mit einigen Beigaben
(der letzte Geschäftsbericht der Stadt Wittenberg, der letzte Etat der Kirchenkasse, eine Ansicht der künftigen Kirche, die Nummern der hiesigen Zeitungen vom 19. September und ein Wörlscher Führer durch Wittenberg) in den Grundstein gelegt und dieser in die östliche Stirnwand der Kirche eingemauert.
Nach den üblichen Hammerschlägen der offiziellen Persönlichkeiten wurde die Feier mit Gebet und Gesang unter Musikbegleitung geschlossen. Die Einweihung des neuen Gotteshauses, das nach dem Entwurfe des Geheimen Baurats Beisner in Merseburg durch Maurermeister Bethke in Wittenberg erbaut wurde und den Namen Christuskirche erhielt, geschah am 8. November 1908 unter großer Beteiligung.
Als Ehrengäste wohnten der Feier bei:
– der Oberpräsident der Provinz Sachsen,
Exzellenz von Hegel aus Magdeburg,
– Konsistorialpräsident von Doemming aus Magdeburg,
– Regierungspräsident Freiherr v. d. Rede aus Merseburg,
– Geheimer Baurat Beisner aus Merseburg,
– Generalsuperintendent D. Bieregge aus Magdeburg ua.
Die Festteilnehmer versammelten sich auf dem Schulhofe in Kleinwittenberg. Von hier aus bewegte sich um 11 Uhr vormittags unter (Glockengeläut und Musikbegleitung der Festzug durch den mit Fahnen und Wimpeln geschmückten Ort nach dem reichgeschmückten Kirchplatz und nahm vor dem Hauptportale Aufstellung. An der Spitze des Zuges schritt die Musik des 20. Infanterie-Regiments, dann folgten die Ehrengäste, die Geistlichkeit, der Magistrat der Stadt Wittenberg, die Gemeinde und Amtsbehörden von Kleinwittenberg und Piesteritz, der Gemeindekirchenrat und die Mitglieder der kirchlichen Gemeindevertretung und die Gemeindeglieder.
Nach dem Zeremoniell der Türöffnung begann die gottesdienstliche Feier, die durch Choralgesang eingeleitet wurde.
Die Weiherede hielt Generalsuperintendent D. Vieregge auf Grund von Psalm 28 R. 6 bis 9.
Nach dem Gesange des vom Hauptlehrer und Organisten Weinhold geleiteten Kirchenchors folgte ein Vortrag auf der neuen von der Firma Furtwängler & Hammer in Hannover erbauten Orgel, an den sich die von Superintendent Orthmann abgehaltene Liturgie schloß. Die Festpredigt hielt der Hilfsprediger Herweg aus Kleinwittenberg in Anlehnung an Amos 8 V. 11.
Nach der Schluss-Liturgie und dem Gesange des Lutherliedes
„Ein feste Burg ist unser Gott“ vollzog Generalsuperintendent D. Vieregge als erste Amtshandlung in der neuen Christuskirche die Taufe von sechs Kindern.
Für den schönen von Bildhauer Professor Juchhoff gestifteten Altar hatte Ihre Majestät die Kaiserin eine prächtige Bibel mit eigenhändiger Widmung geschenkt.
An die Feier Schloss sich ein Festessen im Schützenhause zu Kleinwittenberg.
Aus Anlass der Kirchweihe wurden an mehrere Personen Ordensauszeichnungen verliehen.

Im Januar 1907 gelangte der langjährige sogenannte Wasserprozess der Stadt Wittenberg zur endgültigen Entscheidung. Mit diesem hatte es folgende Bewandtnis:
Die Stadt hatte Ende des Jahres 1893 das Wasser des Bullerbaches bei Straach, das bis dahin vom rischen Bache aufgenommen wurde, dem städtischen Wasserwerke zu dessen Verstärkung zugeführt.

Die an dem rischen Bache wohnenden Wassermüller behaupteten nun, daß ihnen dadurch die Hälfte des Wassers vom rischen Bache und damit die entsprechende Triebkraft entzogen worden wäre und beauftragten einen der ihrigen, das Recht aller am rischen Bache wohnenden Müller wahrzunehmen.
Dieser reichte im Februar 1894 eine Klage mit dem Klageanspruche gegen die Stadt ein, das Wasser des Bullerbachs wieder in den rischen Bach zu leiten. Der Prozess schleppte sich nun mit wechselndem Glücke durch alle Stadien; er wurde vom Reichsgerichte wieder an das Oberlandesgericht Naumburg verwiesen, und dieses entschied im November 1902, daß die Stadt Wittenberg verpflichtet sei, das Wasser des Bullerbachs mit einem Zufluß von 4½ Liter in der Sekunde wieder in den rischen Bach zu leiten oder den Kläger entsprechend zu entschädigen.
Von den entstandenen Kosten wurden dem Kläger 2/3, der Stadt 1/3 auferlegt.
Gegen dieses Urteil legte die Stadt Berufung ein, und diese hatte den Erfolg, daß in letzter Instanz im Januar 1907 der Kläger mit seinen Ansprüchen abgewiesen wurde. Außerdem wurde dieser verurteilt, von den recht erheblichen Prozesskosten 23/24 zu tragen, während die Stadt nur 1/24 auferlegt erhielt.

Am 3. Januar desselben Jahres entstand infolge eines schadhaften Ofens in der ersten Knabenklasse der Bürgerschule ein Schadenfeuer, welches auch auf den benachbarten Raum, in welchem die Volksbibliothek untergebracht war, übergriff und diese zum größten Teile vernichtete. Außerdem wurden die wertvollen Lehrmittel und Modelle der Fortbildungsschule durch das Feuer zum größten Teile zerstört. Infolge des Brandes mußte der Unterricht in der Bürgerschule mehrere Tage ausgesetzt werden.

Ein noch größeres Feuer, dem leider ein Menschenleben zum Opfer fiel, entstand am 21. Februar des gleichen Jahres in dem dem Rentier Köhler gehörenden Hause Jüdenstraße Nr. 29.
Bei dem Versuche, noch eine Versicherungspolice aus dem brennenden Hause zu holen, wurde der Kutscher Brück, der sich mit Frau und Kindern bereits auf die Straße gerettet hatte, von einer einstürzenden Zimmerdecke getötet.

Das erfreuliche Wachstum unserer Stadt hatte zur Anlage einer größeren Zahl neuer Straßen geführt, die im Herbste 1907 ihre Benennung erhielten.
Es sind dies folgende Straßen:
– Gustav Adolf-Straße,
– Augustastraße,
– Bismardstraße,
– Bismarckplatz,
– Blücherstraße,
– Kranachstraße,
– Dörfurtstraße,
– Falkstraße (bisher Potsdamerstraße),
– Gaststraße,
– Paul-Gerhardt-Straße,
– Goethestraße,
– Gneisenaustraße,
– Haberlandstraße,
– Halleschestraße,
– Heubnerstraße,
– Glöcknerstraße,
– Katharinenstraße,
– Lufftstraße,
– Martini-Garten,
– Moltkestraße,
– Schäferstraße,
– Schillerstraße,
– Thomästraße,
– Weberstraße
– Wilhelmstraße,
– Yorkstraße.

Aus dem Jahre 1908 ist folgendes zu registrieren:
Am 19. März wurde der an Stelle des in den Ruhestand getretenen Superintendenten D. Quandt zum Superintendenten und Oberpfarrer unserer Stadt erwählte Superintendent Orthmann aus Torgau durch den Generalsuperintendenten D. Vieregge aus Magdeburg in sein neues Amt feierlich eingeführt.

Am 29. November erfolgte die Gründung eines Zweigverbandes der Genossenschaft freiwilliger Krankenpfleger im Kriege. Diese Genossenschaft hat den Zweck, in einem theoretischen und einem praktischen Kursus Personen zur Ausübung freiwilliger Krankenpflege im Kriege sowie bei Epidemien und Unglücksfällen auszubilden. Zur Teilnahme an dem ersten Kursus meldeten sich in der Gründungsversammlung 53 Personen.

Das hervorragendste Ereignis des Jahres 1909 war das Erscheinen des Luftkreuzers Zeppelin III über Wittenberg und seine Havarie bei Bülzig. Mit eisernem Fleiße und starrer Energie, mit kühnem Wagemute, ungebeugt durch Enttäuschungen und Missgeschick unter Aufopferung seines Vermögens und seiner besten Lebenskraft war es dem Grafen Zeppelin endlich gelungen, sein Ziel, den Bau eines betriebssicheren lenkbaren Luftschiffes, zu erreichen. Nunmehr sollte auch Wittenberg dieses Wunder der Technik schauen, nachdem bereits eine große Reihe anderer Städte dieses Vorzugs teilhaftig geworden waren.
Bei seiner großen Fernfahrt nach Berlin überflog der Luftkreuzer „Z. III“ unsere Lutherstadt.
In der Nacht vom 26. zum 27. August hatte das Fahrzeug seine Ballonhalle zu Friedrichshafen am Bodensee verlassen. Ein Defekt am hinteren Motor nötigte zu einer kurzen Zwischenlandung bei Nürnberg. In der Morgenfrühe des 28. August setzte das Luftschiff seine Weiterreise nach Bitterfeld fort, wohin ihm sein genialer Schöpfer, der Graf Zeppelin, auf der Eisenbahn vorausgeeilt war. Starke widrige Winde und der in der Nähe von Altenburg erfolgte Bruch des vorderen linken Propellers verzögerten seine Ankunft in Bitterfeld und damit auch sein Eintreffen in Berlin um 24 Stunden. Am 28. August abends 6 Uhr landete das stolze Fahrzeug endlich glatt an der Ballonhalle bei Bitterfeld, jubelnd begrüßt von einer tausendköpfigen begeisterten Menge, die bei seiner Landung mit elementarer Gewalt die von den Magdeburger Pionieren und Gendarmen gebildete Postenkette durchbricht, und deren Begeisterung sich immer wieder Luft macht in dem Gesange der „Wacht am Rhein“ und des „Deutschland, Deutschland über alles“. Zur Begrüßung war ua. auch der Kronprinz des Deutschen Reichs eingetroffen.
Nachdem das Luftschiff während der Nacht eine Nachfüllung an Wasserstoffgas erhalten hatte – der verlorene Propeller konnte bei der Kürze der Zeit nicht ersetzt werden – stieg es am Sonntag den 29. August früh 73/4 Uhr zum Fluge nach Berlin auf.
Gegen ½9 Uhr taucht es im Süden unserer Stadt aus der dichten Nebelwand hervor. In der Nähe der Elbbrücke überfliegt es den Elbstrom. Jetzt öffnen die Glocken der Schloßkirche ihren metallenen Mund, das Geläut der Stadtkirche fällt mit ein, und von unten von den Wegen, den Plätzen und Dächern dringt ein brausendes Hurra in die Höhe. Das Fahrzeug senkt sich ein wenig, es beschreibt einen flachen Bogen; der Turm der Schloßkirche, die beflaggten Türme der Stadtkirche zeigen ihm den Weg.

Über den Marktplatz hinweg zieht der Luftkreuzer majestätisch seine Bahn. Im Sonnenlichte leuchtet sein weißer 136 m langer Riesenleib, wie Silber glänzen die beiden Gondeln. aus Aluminium, in denen wir trotz der bedeutenden Höhe die Insassen erkennen können.
Aus der vorderen Gondel schwenkt der geniale Schöpfer dieses Wunders, Graf Zeppelin, die weiße Mütze und erwidert so die Grüße der Lutherstadt. Nach Nordosten hin entschwindet der Luftkreuzer den Blicken zu seinem unvergleichbaren Siegeszuge nach der Hauptstadt des deutschen Reichs.
Ohne Unfall traf es in der Millionenstadt ein, wo ihm von Seiner Majestät dem Kaiser und von Hunderttausenden ein begeisterter Empfang zuteil wurde. Am gleichen Tage ½12 Uhr nachts stieg es wieder vom Tegeler Schießplatze auf, um nach Friedrichshafen zurück zukehren. Leider sollte dieser Heimslug eine jähe Unterbrechung erfahren.
Gegen 5 Uhr früh im Angesicht der Türme unserer Stadt brach beim Dorfe Bülzig der vordere rechte Propeller; die losgesprungenen Metallteile wurden gegen den Ballonkörper geschleudert und durchschlugen die Ballonhülle dicht hinter der fünften Aluminiumrippe.
Sie durchflogen den 18 m breiten Innenraum und drangen auf der linken Seite wieder heraus, auch hier einen meterhohen klaffenden Riß hinterlassend. Dadurch wurde gleichzeitig auch die fünfte der 17 Gaszellen zerstört, aus der das Wasserstoffgas entwich.
Der umsichtigen Besatzung gelang es, das Luftschiff bis auf die weite Heidefläche dicht hinter Herbigs Dampfziegelei zu steuern, wo es glatt landete.
Gleich nachdem der Unfall in unserer Stadt bekannt geworden war, rückte das 3. Bataillon unseres 20. Infanterieregiments aus, um die Unfallstelle abzusperren.
Unausgesetzt strömten von nah und fern dichte Menschenmassen dem Landungsplatze zu.
Die Schulen schlossen den begonnenen Unterricht, viele Fabriken entließen ihre Arbeiter, zahlreiche Geschäfte das Personal, um sich das seltene Schauspiel anzusehen.
Trotz eingelegter Sonderzüge war die Eisenbahn kaum imstande, den Riesenverkehr zu bewältigen.
Das Dorf Bülzig glich einem Wallfahrtsorte und war nicht imstande, die leiblichen Bedürfnisse der vielen Tausende zu befriedigen, so daß die schnell errichteten fliegenden Erfrischungsstellen glänzende Geschäfte machten.
Am Mittag erschien auch Kronprinz Friedrich Wilhelm im Automobil auf der Unfallstelle.
Der Zufluß der Menschenmassen hielt auch während der dreitägigen unfreiwilligen Rast des Luftschiffes an.
Die Ausbesserungsarbeiten wurden durch den heftigen Wind und durch Regenbõen außerordentlich erschwert, und unsere 20er hatten beim Halten des an einem eingegrabenen Leiterwagens verankerten Fahrzeugs einen schweren Stand.
Endlich, nachdem die aus Friedrichshafen beorderten Ersatzpropeller befestigt und die Nachfüllung mit dem aus Bitterfeld eingetroffenen Wasserstoffgas beendet war, konnte der Luftkreuzer am 1. September nachts 11 Uhr unter den Klängen unserer Regimentsmusik und dem Jubel der Menge wieder aufsteigen zur Heimfahrt nach Friedrichshafen, wo er ohne Aufenthalt und ohne weiteren Unfall nach einer Fahrt von 22½ Stunden am 2. September abends 9½ Uhr wohlbehalten eintraf und damit trotz aller gegenteiligen Kritik den Beweis für die Brauchbarkeit des starren Systems erbrachte.

Am 4. Dezember 1909 wurde das vor dem Schloßtore erbaute neue Amtsgericht, das zu den wichtigsten und schönsten Gebäuden unserer Stadt gehört, eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben. Der Bau hat eine für die Stadt Wittenberg bemerkenswerte Vorgeschichte. Wittenberg war im Jahre 1815 unter preußische Verwaltung gekommen.
Bei den vielfachen Verlusten, welche die hartgeprüfte Stadt durch die Kriegsdrangsale 1813/14 erlitten hatte, wurde es von den Bewohnern freudig begrüßt, als 1816 ein Kreisgericht nach Wittenberg gelegt wurde. Diesem Gericht, das später sich in ein Königliches Amtsgericht wandelte, überließen die städtischen Behörden im Jahre 1820 das ganze obere Geschoß des Rathauses mietefrei zur Benutzung und verzichteten zugleich auf das Recht der Kündigung, so daß dem Justizfiskus tatsächlich für ewige Zeiten die mietefreie Benutzung der bezeichneten Rathausräume zustand. Die städtischen Behörden ließen sich dabei von dem berechtigten Bestreben leiten, der Stadt, die noch schwer an den aus der Kriegs- und Belagerungszeit stammenden Wunden krankte, ein gewisses Lebenselement zu sichern.
Als nun der städtischen Verwaltung infolge der durch das Wachstum der Stadt bedingten Vermehrung der Verwaltungsgeschäfte der Raum im Rathause zu eng wurde, machte sie im Jahre 1886 den Versuch, den lästigen Freiwohner los zuwerden. Aber alle Bemühungen, den Justizfiskus zum Verlassen der Räume zu bewegen, blieben erfolglos.
Ende des Jahres 1900 aber wurden bei den gesteigerten Geschäften auch dem Amtsgericht jene Räume zu klein, und der Justizfiskus den Neubau eines eigenen Gerichtsgebäudes und Gefängnisses in Erwägung, wozu er sich vorsorglicherweise bereits bei der Entfestigung Wittenbergs einen günstigen Bauplaz vor dem Schloßtore gesichert hatte.
Er zeigte sich jetzt geneigt, sein ersessenes Recht auf das obere Rathausgeschoß aufzugeben, verlangte aber hierfür eine Abfindung in Höhe von 37 400 Mark.
Die Stadt bot auf Grund eines Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung die Summe von 25 000 Mark.
Auf dieses Gebot erfolgte zunächst keine  Antwort, wohl aber fragte der Fiskus anfangs 1901 an, zu welchem Preise die Stadt das in der Pfaffenstraße liegende Gerichtsgefängnis, die frühere städtische Antonienkapelle, übernehmen würde, bei dem die Eigentumsverhältnisse ähnlich lagen, wie bei dem Rathause.
Auf Grund sorgfältiger Abschätzung bot die Stadt für das 760 Quadratmeter große Grundstück, einschließlich der darauf stehenden Gebäude, 8 360 Mark, oder 6 Mark pro Quadratmeter. Auch diese Angelegenheit wurde vom Justizfiskus zunächst nicht weiter erörtert.
Aber im Jahre 1904 stellte dieser der Stadt wiederum die Räumung des oberen Rathausgeschosses in Aussicht, verlangte aber, da der Nutzungswert der Räume auf 1 200 Mark jährlich festgesetzt war, die Summe von mindestens 30 000 Mark.
Da die Stadt jene Räume dringend brauchte, und ihr keine weitere Wahl blieb, so beschloß die Stadtverordnetenversammlung am 26. April 1904, dem Justizfiskus für Aufgabe seines ersessenen und verjährten Wohnrechts im Rathause die Abfindungssumme von 30 000 Mark zu zahlen.
Auf Grund dieses Beschlusses kam denn auch der entsprechende Vertrag zwischen diesem und der Stadt zustande.

Nach Bewilligung der erforderlichen Mittel durch den Landtag nahm der Justizfiskus nunmehr sehr bald den Neubau des Amtsgerichtsgebäudes und des angrenzenden Gefängnisses in Angriff.
Im Frühjahr 1907 begannen die Erdarbeiten, und bereits am 4. Dezember 1909 konnte wie bereits bemerkt der stilvolle fertige Bau seiner Bestimmung übergeben werden.

Das Jahr 1910 brachte eine Vereinsgründung, von der wir hoffen, daß sie unserer Stadt zum großen Segen gereichen wird:
Nach einer Vorbesprechung am 1. Januar wurde am 10. Februar in einer Versammlung im „Gesellschaftshause“ der „Verein für Heimatkunde und Heimatschutz in Wittenberg“ gegründet.
Der Verein, dem sogleich 50 Mitglieder beitraten, übernahm damit das Erbe des am 19. September 1856 begründeten
„Vereins für die Heimatkunde des Kurkreises“, der sich infolge der Zeitereignisse in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auflöste.
Nach § 1 seiner Satzungen hat der neue Verein den Zweck,
„alle Gebiete der Heimatkunde ohne Beschränkung zu fördern und besonders auch den Heimatschutz zu pflegen“.

Der 350 jährige Todestag Philipp Melanchthons wurde am 19. April in weihevoller und festlicher Weise begangen.
Die Standbilder Melanchthons und Luthers waren mit Tannengewinden geziert, und das Melanchthonhaus hatte Flaggenschmuck angelegt.
Der Festtag wurde durch Blasen des Chorals
„Ein feste Burg ist unser Gott“ von den Türmen der Stadtkirche eingeleitet.
Um 9 Uhr vormittags fand im Melanchthongymnasium ein größerer Festakt statt.
Von 10½ Uhr ab trat auf dem Marktplatze ein imposanter Festzug zusammen. Er wurde eröffnet durch die Geistlichen der Stadt und der Ephorie Wittenberg, an ihrer Spitze der Generalsuperintendent Stolte aus Magdeburg und der bekannte Melanchthonforscher Professor D. Müller aus Berlin, als Vertreter der Stadt Bretten, dem Geburtsort Melanchthons.
Dann folgten
– die Vertreter der Kreisbehörden und
– der Garnison,
– die Lehrer der Stadt und der Ephorie Wittenberg,
– der Magistrat,
– die Stadtverordneten,
– die Mitglieder des Gemeindekirchenrats und
– der kirchlichen Gemeindevertretung,
– die Mitglieder des Königlichen Predigerseminars und
– die oberen Klassen der städtischen Schulen.
Unter dem Geläute sämtlicher Glocken bewegte sich der Zug nach der Schloßkirche, in welcher nach der vom Superintendent Orthmann abgehaltenen Liturgie der Generalsuperintendent Stolte aus Magdburg auf Grund des Schriftwortes aus dem Propheten Daniel, Kapitel 12 V. 3 die Festpredigt hielt.
Der Stein-Straubesche Gesangverein verschönte den Festgottesdienst durch zwei Festmotetten.
Nach Schluß desselben wurde am Grabe Melanchthons, welches gleich dem Luthers mit einem Lorbergewinde geschmückt war, durch den Ehrenbürger Brettens, Professor D. Müller, als Huldigungsgruß der Geburtsstadt Melanchthons ein Lorbeerkranz niedergelegt.
Am Abend fand im Saale des „Kaisergartens“ als Schlußfeier ein Gemeindeabend statt, den der hiesige Lehrergesangverein durch den Vortrag mehrerer Lieder stimmungsvoll umrahmte.
Nach einem Begrüßungswort des Superintendenten Orthmann hielt der Lutherforscher, Oberkonsistorialrat D. Kawerau aus Berlin, den Festvortrag, in dem er das Leben Melanchthons und seine Bedeutung schilderte.
Mit einem Schlußwort des Superintendenten Orthmann erreichte die Melanchthonfeier ihr Ende.

Die Borromäus Enzyklika des Papstes Pius X., in welcher die Reformation, die evangelischen Fürsten und Völker, namentlich aber Deutschland, das Mutterland der Reformation, ohne jede Veranlassung in ärgster Weise beschimpft wurden, rief überall große Erregung und berechtigte Entrüstung hervor, die ihren Ausdruck in heftigen Protesten fand.
Es war selbstverständlich, daß in Wittenberg, der Wiege der Reformation, die Aufforderung, laut und einmütig gegen jene Schmähungen zu protestieren, einen starken Resonanzboden fand. So war denn auch die vom hiesigen Zweigvereine des Evangelischen Bundes am 14. Juni nach dem Saale der „Reichspost“ einberufene Protestversammlung trotz ungünstiger Witterung von über 500 Personen besucht.
Der Vorsitzende des hiesigen Evangelischen Bundes, Sander, eröffnete die Versammlung durch eine Begrüßungsansprache.
Den ersten Vortrag hielt Pfarrer Kaiser aus Trebitz über das Thema „Welches Schlaglicht wirft die Borromäus-Enzyklika auf das Vordringen des Ultramontanismus?“
In einem zweiten Vortrage beantwortete der Direktor des hiesigen Königlichen Predigerseminars, Licentiat Dunkmann, die Frage: „Welche Antwort gibt Wittenberg auf die neue Kriegserklärung Roms?“
Die Stimmung der Versammlung fand ihren Ausdruck in einer einmütig angenommenen Resolution, in der die Schmähungen der Borromäus-Enzyklika kraftvoll und entschieden zurückgewiesen wurden. Die durch das Vorgehen des Papstes fand ihren Ausdruck auch erzeugte Anregung der Mitgliederzahle einem Anwachsen in Evangelischen Bundes und in einem gesteigerten Besuche unserer Lutherstadt und ihrer Reformationsstätten.
So traf am Sonntag den 26. Juni der Zweigverein des Evangelischen Bundes und die Kirchliche Vereinigung der Matthäi Gemeinde zu Leipzig in Stärke von über 400 Personen zu einer Protestkundgebung an den Denkmälern der Reformation hier ein. An der Luthereiche richtete Pfarrer Dr. Fleischer aus Leipzig eine Ansprache an die Wallfahrer, während in der Schloßkirche in einem besonderen Gottesdienste Pfarrer D. Kaiser aus Leipzig über das Schriftwort Ebräer Kapitel 13 V. 7 und 8 predigte.
An den Gräbern Luthers und Melanchthons wurden Kränze niedergelegt. Nach der Besichtigung der Sehenswürdigkeiten vereinigten sich die Teilnehmer am Nachmittag im Saale der „Reichspost“ zu einer Schlußfeier, in welcher Superintendent Orthmann, Pfarrer Dr. Fleischer aus Leipzig, Professor Sander, der Vorsitzende des hiesigen Evangelischen Bundes, und Pfarrer Brettschneider aus Leipzig Ansprachen hielten.

Den Abschluß der „Geschichte der Stadt Wittenberg“ mögen einige statistische Angaben bilden.
Der Flächeninhalt des Gemeindebezirks Wittenberg umfaßt zurzeit 2358 ha 64 a 88 qm.
Nach der letzten Personenstandsaufnahme beträgt die Einwohnerzahl 22 104 Personen, und zwar 8 576 männliche, 7 639 weibliche Personen und 5 889 Kinder unter 14 Jahren.
In den letzten zehn Jahren von 1900 bis 1909 nahm die Stadt insgesamt um 2 294 Personen zu, sodaß die Zunahme der Einwohnerzahl im Durchschnitt 229 Personen pro Jahr beträgt.
In vorstehenden Angaben sind die Truppen der Garnison (Infanterieregiment Graf Tauentzien von Wittenberg 3. Brandenburgisches Nr. 20 und die reitende Abteilung des Torgauer Feldartillerie-Regiments Nr. 74 – drei Batterien) einbegriffen.
Der Magistrat besteht zurzeit aus 9 Personen – dem Ersten und Zweiten Bürgermeister und 7 Stadträten inkl. dem Stadtbaurat).
Die Stadtverordnetenversammlung umfaßt 30 Mitglieder.
Der Gesamtwert des städtischen Grundbesitzes beträgt 5 022 472 M., die Gesamtschulden beziffern sich auf 1 336 985 M. 51 Pf., sodaß ein Mehrwert des Grundbesitzes in Höhe von 3 685 486 M. 49. Pf. verbleibt.

Wir haben in den vorstehenden Blättern gezeigt, welche erfreuliche Entwicklung unsere Lutherstadt im Laufe der Jahrhunderte hindurch durch Freud und Leid, über Höhen und Tiefen genommen hat. Möge es ihr vergönnt sein, auch in der Zukunft in friedlicher Entwicklung fortzuschreiten, geleitet von einer weitschauenden, zielbewußten Verwaltung, getragen und gefördert von einem emsig schaffenden tatkräftigen Bürgertum!

Gott schütze und segne die Lutherstadt Wittenberg!

Richard Erfurth †