Die Schulzentochter von Apollensdorf

Eine gute Wegstunde westlich der Lutherstadt Wittenberg, am rechten Ufer des breit dahin flutenden Elbstroms erhebt sich der Apollensberg. Trotz seiner geringen Höhe von 115 Metern gewährt er infolge seiner bevorzugten Lage als südlichster Ausläufer des Fläming eine umfassende Aussicht.
Nach Süden zu schweift das Auge über den von Schiffen belebten Strom hinweg zu den grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern und den wohlhabenden Dörfern der Elbaue bis zu der blauen Waldlinie der Dübener Heide.
Im Osten umrahmen die Türme von Wittenberg, im Norden die Flämingshöhen und im Westen dunkle Wälder das liebliche Bild.
Ursprünglich hieß der Berg nach dem Dorfe an seinem Fuße Bollensberg und wird auch heute noch von den Bewohnern der Gegend so genannt. Die von den kunstbegeisterten Fürsten des benachbarten anhaltischen Ländchens gepflegte Vorliebe für griechische Kultur und machte sich auch hier geltend und verwandelte in Anlehnung an den Griechengott Apollo den Namen des Dorfes in Apollensdorf und jenen des Berges in Apollensberg.

Zur Zeit unserer Erzählung stand auf dem Gipfel des Berges eine Kapelle, die der Großmutter Maria geweiht war. Mehrere Male im Jahre erschien ein Geistlicher des Allerheiligenstiftes aus Wittenberg, um in ihr die heilige Messe zu lesen. Seitdem aber das Land ringsum sich zu Luthers Lehre bekannte, hörte jeglicher Gottesdienst in der Kapelle auf. Diese verfiel immer mehr, und die Bauern der umliegenden Dörfer führten die Steine und was ihnen sonst noch brauchbar erschien als herrenloses Gut fort. Nur eine mächtige Sandsteinplatte, die man wegen ihrer Schwere nicht fortbringen konnte, blieb übrig und ist noch heute dort zu sehen. Verwitterte Buchstaben deuten die ehemalige Inschrift an … ???

Erzählung aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges

Es war an einem Sonntagnachmittag im Mai des Jahres 1546,
da stand auf der Höhe des Bollensberges, dort, wo der Abhang unterhalb der Kapelle eine kleine Wiese bildet, ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren.
Die biegsame Gestalt umschloss ein dunkles Mieder, das von bunten Borten eingefasst war, und aus dem zwei kurze gefältete Ärmel aus schneeweißen Linnen hervorschauten.  Auch der an das Mieder sich ansetzende helle Rock war mit farbigen Bändern verziert. Die hohe Stirn umkräuselte dunkelblondes Haar, das in zwei langen, mit roten Bandschleifen geschmückten Zöpfen in den Nacken fiel.
Der rasche Gang den Berg herauf mochte die Jungfrau ermüdet haben; sie ließ sich auf der Wiese im Schatten einer der jungen Eichen nieder und trocknete mit einem weißen Tüchlein, welches sie aus dem Mieder zog, die Schweißtropfen von der Stirn.
Goldgelber Hahnenfuß, blutrote Bergnelken, blaue Glockenblumen und die dunklen, sammetartigen Kelche der Küchenschelle, die sonst nirgends in der Umgegend wächst, bildeten mit dem grünen Rasen einen bunten Teppich. Das Mädchen griff mit den Händen nach rechts und links in die Blumenfülle und vereinigte die leuchtenden Blüten zu einem buntfarbigen Strauße.
Wie sie so dasaß und die blanken Augen über all die Blütenpracht schweifen ließ, glich sie der Maienkönigin, von der die alten Volkssagen erzählen.
Während sie den Strauß mit festen Grashalmen umwand, stimmte sie mit heller wohllautender Stimme ein Lied an:

„Willkommen, lieber Mai!
So schön habe ich dich lange nicht gesehen!
Die Luft ist warm, der Himmel blau,
die Bäume grün und grün die Au.
Die Nachtigall und Lerche singt,
der Käfer schwirrt, das Lämmchen springt,
und jung und alt und groß und klein
wärmt sich am milden Sonnenschein.
Wie schön die Welt in voller Pracht!
Wie groß der Herr, der sie gemacht!
Sie preist, soweit der Raum nur geht,
des Schöpfers hohe Majestät.“

Soeben wollte sie den folgenden Vers beginnen, als ein Geräusch in ihrem Rücken sie innehalten ließ. Ihr war es, als ob jemand die dichten Büsche zerteile, und als sie erschrocken sich umwandte, trat hinter der Kapelle ein Mann hervor.
Unter einem breitkrempigen Hute, den eine wallende Feder zierte, blickten zwei freundliche Augen voller Überraschung und mit Wohlgefallen auf die holde Erscheinung inmitten der Maienpracht. Ein dunkles Schnurbärtchen verlieh dem jungen, frischen Gesichte einen gewissen Ernst. Über einem enganschließenden dunkelblauen Wams trug der Jüngling einen Lederkoller. Die ledernen Beinkleider waren mit Seide aus geschlitzt, und weite Reiterstiefel schlossen sich unter den Knien an. Auch das lange Schwert mit dem Korbe an seiner linken Seite verrieten den jungen Rittersmann.
Das Mädchen war erschrocken aufgesprungen, wobei der Strauß ihren Händen entglitt, und ängstlich blickten die Augen auf den fremden Mann.
Wortlos standen sich die beiden eine Weile einander gegenüber.
„Verzeiht, liebe Jungfrau,“ begann der Angekommene endlich, indem er den Hut zog und sich artig verneigte, „wenn ich euch erschreckt habe; es war nicht meine Absicht. Aber ich hatte, der Gegend unkundig, den Pfad verloren. Da band ich meinen Braunen an einem Baum und stieg herauf, um vom Berge aus Umschau zu halten. Da hörte ich euren lieblichen Gesang und ging dem Klange nach, und da traf ich Euch. Hätte freilich nicht geglaubt,“ fügte er lächelnd hinzu, „die Frühlingsgöttin in eigener Person hier zu finden.“
Das Mädchen schlug die Augen vor seinen bewundernden Blicken nieder, ihr Busen wogte heftig auf und ab, und helle Glut überzog bei seinen Worten ihre Wangen. Dann aber ermahnte sie sich und antwortete mit fester Stimme:
„Ich bin keine Göttin, Herr, sondern nur ein schlichtes Landmädchen, die Tochter des Schulzen aus Bollensdorf, was Ihr da drunten seht.“ Dabei wies sie auf den in blühende Obstbäume eingebetteten Ort am Fuße des Berges.
„So erlaubt, dass auch ich in meinem Namen Euch nenne:
Hans von Thymen, zur Zeit im Dienste des Burghauptmanns von Coswig.“
Sie blickte ihn aufmerksam an.
„In Coswig war ich in letzter Zeit oft, aber Euch sah ich dort nie.“
„Glaubs wohl,“ entgegnete er lachend, „denn wäre ich schon länger dort, so hätte ich wohl gesucht, die Bekanntschaft einer so reizenden Jungfrau zu machen. Dann wäre mir wohl auch die Gegend besser bekannt gewesen, und ich hätte den Weg nicht gefehlt, was ich nun freilich als ein großes Glück preise, da ich Euch dabei fand.“
„So seid Ihr erst kurze Zeit in Coswig?“
„Seit gestern erst, und heute schon musste ich ausreiten, um nach Burg Rabenstein eine Botschaft meines Burghauptmanns zu bringen. Da ich nun zum Rückweg einen anderen, wie ich meinte kürzeren Weg wählte, verirrte ich mich – wie ich wähne zu meinem Glück.“
„Ein Umweg war‘s wohl kaum, denn nach Coswig ist es von hier nimmer weit. Ihr seht die Häuser der Stadt dort hinter dem Walde hervorschimmern.“
„Da Ihr, Werte Jungfrau, die Gegend so genau kennt, so darf ich euch bitten, mir die Namen der Orte zu nennen, die man von hieraus sieht. Doch zuvor vergönnt mir, Euren Namen zu wissen.
Ich weiß bis jetzt nur, dass Ihr die Tochter des Schulzen von Bollensdorf seid.“
„Und genügt Euch das nicht, Herr Junker?“ Fragte sie schelmisch.
„Nein, ich möchte doch gern wissen, wie ich Euch nennen soll. Ich nannte Euch meinen Namen, und darf darum auch wohl bitten, mir den Euren zu nennen.“
„Nun denn: ich heiße Käthe – Käthe Gäbler.“
„Käthe,“ wiederholte er, und eine große Zärtlichkeit lag in dem Tone, mit dem er den Namen aussprach.
„Käthe, das ist ein schöner Name; so heißt auch meine Mutter.“
„Die meine heißt Anna, wie meine Schwester.“
„So habt Ihr noch eine Schwester?“
„Auch noch einen Bruder – Christoph geheißen.“
„Ich habe keinen Bruder, nur noch ein liebes Schwesterlein – Ursula, die Euch an Gestalt und Alter gleicht.“
Bei diesen Worten ging ein freudiges Leuchten über sein hübsches, offenes Gesicht.
„Sind Eure liebe Mutter und Schwester bei Euch in Coswig?“
„Nein, Jungfer Käthe, wo denkt ihr hin? Die sind natürlich beim Vater in Gröna bei Bernburg.“
„Das ist freilich weit von hier,“ sprach sie sinnend.
„Aber ich sollte Euch ja die nächsten Ortschaften nennen. Bollensdorf, mein Heimatsdorf, nannte ich Euch schon, auch Coswig. Was dazwischen liegt, ist Griebo, das erste Dorf jenseits der Grenze, die hier hart am Berge vorüberführt. Wo dort die Turmspitze über den Wald hervorschaut, liegt Wörlitz. Und wenn ihr über die Elbe hinweg geradeaus nach Süden blickt, seht ihr das Dorf Seegrehna. Weiter nach links das Dorf mit dem seltsamen Kirchturme ist Pratau, und dahinter liegt Eutzsch. Dort, wo der hohe spitze Kirchturm vor dem Walde aufragt, liegt die Stadt Kemberg, und hier im Osten erblickt Ihr Wittenberg mit seinen Türmen. Die beiden davon gehören zum Schloss und der Schlosskirche, in der nun unser großer Lehrer Doktor Luther ruht, der uns das helle Licht des Evangeliums angezündet hat.“
„Ich weiß… ich weiß,“ entgegnete der Junker ernst.
„Ich selbst habe im Gefolge unseres Fürsten, des Herrn Wolfgang von Anhalt, seine Leiche von Eisleben nach Wittenberg geleitet.“
Das Mädchen sah ihn erstaunt an.
„So waret Ihr mit in dem großen, glänzenden Trauergeleit, wie es prächtiger kein Fürst je gehabt hat? Aber da sind Euch doch die Orte, die ich euch nannte, schon bekannt.“
„Nicht doch, liebwerte Jungfer Käthe. Wenn man mit im Tross reitet, achtet man nicht sonderlich. Auch war ich recht traurig gestimmt über den zu frühen Tod Doktor Luthers. Er starb zu früh für uns alle. Gerade in dieser Zeit wäre er uns bitter not.“
„Das will ich meinen. Auch mich hat sein Abscheiden tief betrübt. Was haben wir doch nicht alles dem treuen Gottesmann zu verdanken, und wie viel hatten wir noch von ihm erhofft!“
In ihr vordem so heiteres Gesicht war ein Zug tiefes Ernstes getreten.
Vom Fuße des Berges ertönte ein helles Wiehern.
„Mein Brauner wird ungeduldig und mahnt mich“,
sprach lächelnd der Junker.
„Auch ich muss fort; man erwartet mich daheim.“
„So können wir gemeinsam bis zum Dorfe gehen. Ich werde das Pferd am Zügel führen.“
„Nein, nein,“ wehrte sie hastig ab, „wenn man uns zusammen sähe, das würde dann gleich ein böses Gerede im Dorfe geben; denn die Leute in Bollensdorf sind sehr klatschsüchtig. Und meinen Eltern würde das sehr unlieb sein. Also bitte ich Euch, Herr Junker“ – sie hob die Augen bittend zu ihm auf, „reitet nur immer voraus.“
„Liebe Jungfer Käthe, Eurem Wunsche muss ich gehorchen.
Aber zuvor müsst Ihr mir sagen, wann und wo ich Euch
wiedersehen kann. Nun habe ich Euch gefunden, will ich Euch
auch nicht wieder verlieren.“
In auffallender Bewegung hatte er die Hände des Mädchens ergriffen und umschloss sie mit festem Drucke.
Am liebsten hätte er die holde Gestalt an seine Brust gezogen
und ihren blühenden Mund geküsst, aber in ihrem Wesen lag
etwas so Hoheitsvolles, was ihn davon abhielt.
Die Jungfrau erschauerte unter seinen glühenden Blicken,
die bis in den Grund ihrer Seele tauchten. Ein nie gekanntes beseligendes Gefühl durchströmte ihr ganzes Innere und ließ
ihre Hände in den seinigen leise zittern.
„Ich werde,“ sprach sie leise und stockend, wobei eine schämende Röte ihr auf die Stirn stieg, „am kommenden Sonntag um dieselbe Stunde wieder hier oben auf dem Berge sein.“
„Ich danke euch; ich komme. Und diese Blumen –“
er wies auf den Strauß zu ihren Füßen –
„darf ich Sie als Erinnerung an diese schöne Stunde mit mir nehmen?“
Käthe bückte sich schnell und reichte ihm den Strauß, wobei beide Augen tief ineinander tauchten.
Der Junker drückte einen Kuss auf die Blüten und steckte sie an seine Brust.
„Also auf Wiedersehen am Sonntag, holde Käthe,“ sprach er, nochmals ihre Hand ergreifend.
„Auf Wiedersehen!“ antwortete sie leise.
Er schritt davon, aber noch einmal, ehe ihn die Büsche aufnahmen wandte er sich um und umfasste mit seinen Augen die anmutige Gestalt, die in holder Verwirrung dastand. Gleich darauf hörte man Hufschläge, und bald sah sie ihn auf der Straße, die am Fuße des Berges gen Coswig zieht, dahin traben.
Suchend waren seine Blicke nach der Höhe gerichtet.
Jetzt hatte er die von den Strahlen der Abendsonne umflossene Gestalt entdeckt und schwenkte grüßend den Hut zu ihr hinauf.
Sie ließ ihr Tüchlein in der Luft wehen und folgte ihm mit den Augen, bis der Wald, der bis dicht an die Straße herantrat, ihn ihren Blicken entzog. Noch eine Weile stand sie da, die Hände auf die wogende Brust gedrückt, dann stieg sie langsam in tiefem Sinnen den Berg hinab. Stark dufteten die Blüten der Weinreben, welche den Abhang des Berges umzogen. Sie achtete nicht darauf; ihre Gedanken eilten dem jungen Reitersmann nach.

Der Schulzenhof lag in der Mitte des Dorfes und gehörte zu den ansehnlichsten Bauernhöfen. Das Wohnhaus, ein stattlicher Fachwerkbau mit hellgestrichenen Wänden und dunklen Balken,  verriet schon im Äußeren neben Sauberkeit einen unverkennbaren Wohlstand. Dieser Eindruck wurde noch vermehrt, wenn man in den weiten Hof trat und die lang gestreckten Ställe nebst der breittorigen Scheune sah, die ihn umgaben.
Als Käthe die grüngestrichene Hoftür öffnete, bemerkte sie, dass die Mägde bereits mit den gefüllten Eimern nach den Ställen eilten. Aus der Tür des einen trat ihr Bruder Christoph, der seinen Pferden soeben Futter geschüttet hatte. Es war ein stattlicher, kräftiger Bursche, nur wenige Jahre älter als sie, mit offenem, sonnenverbrannten Gesicht, über das beim Anblick der jungen schönen Schwester ein freundlicher Schimmer flog.
Aber ehe er noch das neckische Wort, dass er für sie auf der Zunge trug, aussprechen konnte, nahte sich von der Rückseite des Hofes her Anna, die ältere der beiden Schwestern. Sie trug in der Hand einen Strauß roter Nelken, die sie im anstoßenden Garten geschnitten hatte.
Während der Bruder und die jüngere Schwester in ihren Gesichtszügen eine unverkennbare Ähnlichkeit zeigten, konnte man bei ihr kaum eine Spur davon finden. Schwarzes Haar, das am Hinterkopf in einem großen Knoten befestigt war, bedeckte den Scheitel. Ihre Kleidung war jener der Schwester ähnlich; nur trug sie einen dunkelroten, mit schwarzen Samtstreifen besetzten Rock. Neben der zierlichen Schwester wirkte ihre üppige Gestalt älter, als sie in Wirklichkeit war.
„Es wird Zeit, dass du kommst“, beantwortete sie herrisch deren Gruß. „Du weißt doch, dass wir heute Abend zum Maientanz gehen wollen.“
„Freilich weiß ich, dass Maientanz ist,“ erwiderte Käthe, „aber ich habe keine Lust, hinzugehen.“
„Na nu – so plötzlich keine Lust! Das finde ich aber sonderbar. Bis heute Mittag hast du nichts davon verlauten lassen.“
„Ich habe es mir eben anders überlegt.“
„Hm, was soll denn da Döbels Heinrich denken, wenn du dem Maitanz fernbleibst?“
„Was der denkt, ist mir gleich. Ich mag nichts mit ihm zu schaffen haben, das solltest du doch wissen.“
„Hast recht, Käthe,“ mischte sich jetzt der Bruder ins Gespräch, „mein Geschmack wäre der auch nicht, und ich kann es verstehen, wenn du dem eingebildeten Tropf aus dem Wege gehst.“
„Nun ja, du sagst zu allem, was sie tut, Ja und Amen, genau wie der Vater,“ sprach die Ältere mit scharfem Tone.
„Na meinst du denn,“ antwortete der Bruder lachend,
„ich soll mich mit der Käthe wegen eines Liebhabers zanken,
den sie nicht leiden mag!“ Ein lustiges Lied pfeifend ging er zur Hoftür hinaus, um auf die Dorfstraße zu sehen.
Dabei wanderten seine Augen immer wieder nach dem Gehöft schräg gegenüber, ob sich nicht dort Nachbar Dorns Gertrud
zeigen würde.
Käthe war unterdessen in das Wohnzimmer getreten, in welchem ihr Vater, der Ortsschulze Gäbler, las, vor sich auf dem Tische das große Gemeindebuch und daneben eine größere Anzahl beschriebener Zettel.
Es war eine hohe, kräftige Gestalt, der man deutlich die Abstammung ansah.
Seine Vorfahren waren vor 300 Jahren aus Flamland auf den Ruf des Markgrafen Albrecht des Bären in das heidnische Wendenland an der Elbe eingewandert und hatten geholfen, dieses der deutschen Kultur und dem Christentum zurückzugewinnen.
Beim Eintreten der Tochter blickte er auf und nickte ihr auf Ihren Gruß freundlich zu.
„Gut, dass du kommst, Käthe. Ich finde mich in den vielen Zahlen nicht zurecht. Da stimmt etwas nicht,“ setzte er hinzu, auf die lange Zahlenreihe im Buch deutend.
„Wo warst du denn so lange?“
„Auf dem Berge, Väterchen; ich wollte einen Strauß von den seltenen Blumen, die dort wachsen, den Kuhschellen, pflücken.“
„Ich weiß nicht was du an den dunklen Blumen Besonderes findest. Selten mögen sie ja wohl sein, aber schön kann ich sie nicht finden.
In unserem Garten wachsen jedenfalls schönere.
Naja, über den Geschmack lässt sich nicht streiten. Der eine isst gern Honig und der andere Seife, pflegte der alte Schäfer Andreas immer zu sagen.
„Aber wo hast du denn die Blumen?“
Es war gut, dass der Schulze seine Jüngste nicht ansah, denn bei seiner Frage zuckte sie zusammen, und eine jähe Röte stieg ihr verräterisch ins Gesicht.
„Die Blumen…“ stammelte siem, „ja, wo habe ich sie denn?
Ich hatte sie doch ins Mieder gesteckt und muss sie unterwegs verloren haben.“
„Oder am Ende hast du sie gar an einen verschenkt.“
Lächelnd drohte er mit dem Finger.
„Aber, Vater, wo denkt Ihr hin?“
War ja auch nur ein Scherz,“ lenkte er ein.
„Bist ja auch noch zu jung, um ernsthaft an einen Mann zu denken. Du weißt ja, das Grummet soll nicht vor dem Heu wachsen wollen. Deine Schwester Anna würde es auch sehr übel vermerken, wolltest du ihr vorgreifen. Aber nun komm und hilf mir einmal bei der vertrakten Rechnerei. Du kannst das besser als ich.“
„Lasst sehen, Vater.“
Sie beugte ihr rosiges Gesicht über die Schulter des Alten, indem sie mit der Linken über sein Haar strich, in welchem sich bereits die Silberfäden zeigten. Aufmerksam verglich sie die einzelnen Rechnungszettel mit den Eintragungen im Buche.
„Hier, Vater, steht statt der Fünf eine Drei und hier nochmals.“
„Hm, du hast recht. Darum wollte es auch nicht stimmen. Aber nun ist‘s richtig. Bist doch ein guter Rechenmeister, Käthe.“
„Aber, Väterchen,“ lachte sie, „wozu habe ich denn mit Pastors Else den Unterricht bei ihrem Vater genossen? Die fetten Gänse und die dicken Würste, die der Herr Pfarrer als Schulgeld bekommen, dürfen doch nicht umsonst gegeben sein.“
Zärtlich streichelte der Schulze dem Mädchen das heiße Gesicht. „Ei, ei, bist ja ganz glühend, so hast du dich ereifert. Aber nun bringe das Abendbrot, denn ich habe Hunger, und rufe die Mutter und die anderen dazu.“
„Wo ist denn die Mutter?“
Ein dunkler Schatten flog über das Gesicht des Mannes.
„Wo wird sie sein? Gewiss wieder in der Kammer vor dem Marienbilde, wo sie ihren Rosenkranz betet. Es betrübt mich tief, dass sie noch immer an dem römischen Unfug hängt, wo doch unser großer Lehrer Doktor Luther uns das helle Licht des Evangeliums angezündet hat. Ich muss einmal mit unserem Pastor sprechen der ihr ins Gewissen redet.“
„Tuts lieber nicht, Vater. Habt Geduld mit der Mutter. Das Neue ist ihr zu schnell gekommen; sie kann sich noch nicht darin zurechtfinden, weil ihr Herz so fest an dem hängt, was sie von Jugend auf gewohnt war. Lasst ihr Zeit und scheltet sie nicht. Ihr Herz wird sich gewiss noch der reinen Lehre zuwenden, denn wer könnte ihr widerstehen!“
„Das wird aber nicht geschehen, solange sie zur alten Dorte hält.
Die ist, wie du weißt, eine Base vom Pastor Josef, der seit Aufhebung des Coswiger Klosters sich in Griebo aufhält und bei ihr ein- und ausgeht. Er hält die beiden Frauen im römischen Irrwahn fest.“

Der Eintritt einer Magd, die einen großen Topf mit Milch auf den Tisch stellte, ließ das Gespräch verstummen.
Bald darauf trat auch die Mutter ein – eine stille Frau mit ernstem, versonnenem Gesicht, und kurze Zeit darauf war die ganze Familie nebst dem Gesinde um den großen weißgescheuerten Tisch zum Abendessen versammelt. Milchsuppe zu der es heute am Sonntag noch Butter und Brot gab.

Die Nacht war hereingebrochen. Am Himmel stand der Mond und verklärte mit seinem milden Lichte Dorf und Flur. Er erhellte die stillen Gassen und spiegelte sich in den nachtschwarzen Fensterscheiben der Häuser. Das Schulzengut lag in tiefer Ruhe; nur aus den Ställen erscholl ein leises Klingen, wenn die Pferde mit den Ketten an die Krippen klirrten. Selbst Karo, der treue Wächter, umkreiste lautlos den Hof und ließ das Kläffen der Nachbarhunde unbeantwortet.
Oben am Fenster des Stübchens, dass sie mit der Schwester teilte, saß Käthe und blickte zum sternenbesäten Himmel empor. Aus dem Fliederbaume drunten vor dem Hause stiegen berauschende Duftwellen. Vom Gasthof her trug die Nachtluft das Geräusch des Maitanzes. Das Mädchen achtete nicht darauf; ihre Gedanken weilten fern bei dem fremden Junker, der ihr heute auf dem Berge so unvermutet entgegengetreten war. Unwillkürlich suchten ihre Augen den Gipfel, den das Mondlicht mit seinem Silberschleier überzog, und von dem sich die Marienkapelle in scharfen Umrissen gegen den Nachthimmel abhob.
Ein süßes, nie gekanntes Gefühl durchschauerte die junge Brust.
Die Jungfrau faltete die Hände über dem ungestüm pochenden Herzen, und ein inniges Gebet stieg zur sternenfunkelnden Höhe empor. Noch in ihren Träumen um schwebte sie das Bild des staatlichen Junkers. Sie sah ihn, wie er sie zu sich auf das Pferd zog und mit ihr davonritt. Sie wollte laut aufjubeln in seliger Lust, da riss sie der harte Schritt der Schwester, die erhitzt vom Maientanze zurückkehrte, aus ihren glückseligen Träumen.

An einem Fenster seines Schlosses Bernburg stand Fürst Wolfgang von Anhalt. Sein Auge schweifte sinnend über den tief unten rauschenden Saalefluss und die Häuser der Stadt hinweg weit hinaus in die fruchtbare Gegend mit den in die wogenden Getreidefelder eingebetteten Dörfern.

Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich von dem lieblichen Bilde zu seinen Füßen ab und trat an den Tisch, auf welchem die Briefe lagen, die so ernste Gedanken in ihm wachgerufen hatten. Sie erinnerten ihn an die Verpflichtung, die er 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg übernommen hatte, da er seinen Namen unter das Glaubensbekenntnis der evangelischen Stände gesetzt hatte mit den Worten, die fortan sein schönstes Ehrensprüchlein bildeten:

„Ich habe manchen frommen, tugendsamen Frauen
und Jungfrauen zu Ehren ein Pferd gesattelt.
Sollte ich von meines Gottes wegen tun,
ich täte es tausendmal lieber.
Ja, es sollte mir eine herzliche Freude sein.“

   Diese Treue hatte er dem Evangelium seither unverbrüchlich gehalten. Und als dessen großer Prophet Martin Luther vor wenigen Monaten zu Eisleben schwer erkrankte, da eilte Fürst Wolfgang unverweilt zu ihm. Er traf ihn freilich nicht mehr am Leben an; wenige Stunden vor seiner Ankunft war der große Gottesmann verschieden. In tiefem Schmerze stand Fürst Wolfgang an seinem Sterbelager. Er ließ es sich nicht nehmen, die Leiche des Reformators nach Wittenberg zu begleiten und in die Gruft der Schlosskirche zu senken.

Alle diese Erinnerungen waren durch die Schreiben auf dem Tische lebendig geworden, die im deutlich zeigten, dass nunmehr die Stunde gekommen sei, das Evangelium mit dem Schwert zu schirmen. Der eine Brief kam von einem der Häupter des Schmalkaldischen Bundes, dem Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, und meldete ihm, dass Kaiser Karl der V. das Nichterscheinen der beiden Bundeshäupter Sachsen und Hessen auf dem Reichstag zu Regensburg als willkommenen Anlass genommen habe, gegen die Protestanten zu rüsten, wodurch diese gezwungen seien, Gegenmaßnahmen zu treffen.
Ein Klopfen an der Tür riss den Fürsten aus seinem Sinnen. Ein Diener trat ein mit der Meldung:
„Der edle Ritter von Thymen zu Gröna bittet, Fürstlicher Durchlaucht seine Aufwartung machen zu dürfen.“
„Lass den Herrn Ritter eintreten!“ rief Fürst Wolfgang sichtlich erfreut. Gleich darauf trat der Angemeldete ein, eine hohe, stattliche Erscheinung mit energischen Zügen. Der Fürst streckte ihm die Hand entgegen und lud ihn ein, auf dem Sessel neben ihm Platz zu nehmen.
„Herr Ritter,“ begann er das Gespräch,
„Ihr kommt mir wie gerufen. Ich brauche Euren Rat und Eure Hilfe.“
„Durchlaucht, beides will ich gern geben, soweit es in meinen schwachen Kräften steht.“
„Mir sind,“ führte der Fürst fort, indem er auf die auf dem Tische liegenden Briefe wies, „böse Nachrichten gekommen. Kaiser Karl hat ein Bündnis mit dem Papste zur Unterdrückung des Evangeliums geschlossen, und dieser hat ihm Geld und Soldaten zugesagt. Der Kaiser hat schon damit begonnen, Truppen zusammenzuziehen und macht kein Hehl daraus, dass diese gegen die Verteidiger der reinen Lehre ziehen sollen.“
„Mögen Sie kommen; wir sind nicht wehrlos!“ rief der Ritter.
„Aber uneins!“ entgegnete der andere ernst, und eine tiefe Falte des Unmuts legte sich auf seine hohe Stirn.
„Auf den Kurfürsten von Brandenburg und von der Pfalz und noch auf manchen anderen der evangelischen Fürsten kann man sich nicht verlassen, wenigsten nicht unbedingt. Sind sie doch auch dem Bunde von Schmalkalden nicht beigetreten. Noch viel bedenklicher erscheint mir der junge Herzog Moritz von Sachsen, der in seinem Eigennutz nur wartet, auf welche Seite sich sein Vorteil neigt. Nicht umsonst hat unser kluger, scharfblickender Doktor Luther seinen Vetter den Kurfürsten Johann Friedrich seinerzeit vor dem jungen Löwen gewarnt, der an seiner Tafel sitze. Nun ist er ihm Feind, wie Ihr wisst, weil er seine überheblichen Ansprüche zurückwies. Sein Ehrgeiz veranlasste Moritz, für den Kaiser gegen die Türken und Franzosen zu fechten, und ich fürchte, dass er auch jetzt im heimlichen Einverständnis mit ihm, dem Feinde unseres heiligen Glaubens, steht.“
„Fürstliche Durchlaucht, das kann ich nicht glauben, dass ein evangelischer Fürst zum Verräter an der Sache des heiligen Evangeliums wird!“
„Mein lieber Thymen, Judas verriet aus Geiz seinen Herrn und Meister; warum sollte der Teufel nicht einen Herzog Moritz dazu verführen, aus dem gleichen Grunde seinen Vetter zu verraten?“
„Aber hier handelt es sich doch nicht allein um den Kurfürsten von Sachsen, sondern um den gemeinsamen Glauben, der doch wohl auch dem Herzog Moritz teuer ist!“
„Man sollte es wohl annehmen. Jedenfalls ist es aber geraten, auf den Herzog ein wachsames Auge zu haben. Ein Trost ist es, dass die oberdeutschen Städte, voran das starke Augsburg, treu zu uns stehen. Mir ist gewisse Kunde geworden, dass sie bereits gegen einen etwaigen Angriff des Kaisers rüsten. Augsburgs Feldhauptmann, der Sebastian Schärtlin, ist ein erprobter Heerführer.“
„Und wir, Durchlaucht, was tun wir? Warum bleiben wir untätig, wo das Gewitter sich zusammenzieht? Wollen wir warten, bis es sich über uns entladet?“
„Nur gemach, mein lieber Thymen,“ antwortete der Fürst, über den Eifer des Ritters lächelnd, „wir rüsten ebenfalls.“ Vor einer Stunde ist mir durch einen Reiter des Kurfürsten Johann Friedrich die Aufforderung dazu gekommen. Und deshalb ist es mir lieb, dass Ihr gekommen seid; ich hätte sonst zu euch gesandt. Wiewohl ich glaube, der Treue meiner Untertanen gewiss zu sein, wollte ich doch von Euch hören, ob ich mich in jedem Falle auf die Ritterschaft verlassen kann.“
„Fürstliche Durchlaucht, hier bedarf es keiner Frage. Die Ritterschaft wie ein jeder Eurer Untertanen stets zu Euch auf Leben und Tod. Dafür stehe ich ein. Euch verlassen, hieße die heilige Sache des Evangeliums verleugnen, und das tut keiner Eurer Untertanen. Eher lässt er das Leben als die Treue.“
In tiefer Bewegung reichte ihm Fürst Wolfgang die Hand.
„Ritter von Thymen, ich danke Euch für dieses Wort. Aber wir müssen handeln. Ich werde noch heute die Ritterschaft bitten lassen, sich übermorgen hier im Schlosse zu einer Beratung einzufinden. Euch aber, Thymen, bitte ich, Euren Sohn mitzubringen. Er war mit im Geleit, welches den Sarg Doktor Luthers von Eisleben nach Wittenberg brachte, und hat mir gar Wohlgefallen. Wenn es ernst wird, so möchte ich ihn in meiner Nähe wissen. Ich hoffe, dass es Euch recht ist.“
„Fürstliche Durchlaucht, Dank für so große Huld. Ich denke, mein Hans wird sich ihrer würdig zeigen. Ich werde ihm sogleich Nachricht zukommen lassen, aber freilich bis übermorgen wird er kaum hier sein können.“
„Ach richtig, ich vergaß, dass er nicht daheim ist.“
„Ich schickte ihn auf Wunsch meines Vetters, des Burghauptmanns von Coswig, für einige Zeit dorthin. Es ist gut, wenn sich das junge Volk einmal den Wind um die Nase wehen lässt und lernt, die Beine unter fremden Tisch zu strecken. Daheim werden sie zu leicht verwöhnt, zumal wenn die Mutter am Jungen einen Narren gefressen hat.“

Fürst Wolfgang klopfte lachend dem Ritter auf die Schulter:
„Na, Thymen, gestehts nur ein, dass Ihr nicht minder stolz auf den hübschen Burschen seid, wenn Ihr es gleich nicht zeigen wollt. Es ist ja freilich wahr, dass die Knaben der Mutter mehr ans Herz gewachsen zu sein pflegen als die Töchter, die mehr am Vater hängen. Das liegt wohl so in der Natur begründet.“
„Will‘s ja nicht leugnen,“ antwortete der andere, wobei ein glückliches Leuchten über seine Züge ging, „aber sie sind mir beide gleich lieb, der Sohn wie die Tochter – jedes in seiner Art. Doch nun gestatten Durchlaucht, dass ich mich empfehle; aber noch so mancherlei in Bernburg zu besorgen, wird auch dem Jungen sogleich Nachricht senden. Ich selbst möchte ihn in den schweren Zeiten, denen wir entgegengehen, in meiner Nähe wissen.“
Mit festem Händedruck schieden die beiden Männer.

Die trauliche Stelle eines Sommersonntags lag auf Dorf und Flur.
Es war in den frühen Nachmittagsstunden, und die Sonne strahlte noch immer mit unverminderter Kraft vom Himmel, an dem sich kaum ein Wölkchen zeigte. Sie ließ die wogenden Felder, die dem Schnitter entgegenreiften, in goldenem Ährenglanze leuchten. Die vollen Halme versprachen eine reiche Ernte, und doch konnte der Landmann des Fruchtsegens nicht recht froh werden, denn Kriegsgerüchte schwirrten durch die Luft und legten sich sorgenschwer auf die Brust.
Im Süden Deutschlands, so hieß es, habe der Kaiser ein großes Heer gesammelt, um gegen die Häupter des Schmalkaldischen Bundes zu ziehen. Und diese Gerüchte mussten wohl auf Wahrheit beruhen; denn auch der Kurfürst Johann Friedrich rüstete eifrig. Die Festungswelle von Wittenberg war erheblich verstärkt und mit vielen Geschützen und Kriegsmaschinen besetzt worden. Sogar die beiden Türme der Stadtkirche hatte man abgetragen und auf der so geschaffenen Plattform Geschütze aufgestellt. In der Stadt Wittenberg waren wohl an 7000 Soldaten versammelt, und die Bauern hatten große Vorräte an Getreide, Mehl und anderer Speise in die Stadt liefern müssen. Vom Bollensberge aus konnte man die kriegerischen Vorbereitungen in der Stadt Wittenberg deutlich beobachten.

Die Augen der Schulzentochter, die oben auf dem Berggipfel am Stamme der Schatten spendenden jungen Eichen lehnte, ruhten nachdenklich auf der Stadt. Wie oft schon hatte sie mit dem geliebten Junker, der ihr Herz im Sturm genommen, hier oben gestanden und Blicke über die schöne Heimat zu ihren Füßen schweifen lassen. Noch öfter freilich waren die Augen beider ineinander getaucht, und die Lippen hatten sich zum seligen Kusse gefunden. Bis jetzt war es ihr gelungen, ihr süßes Geheimnis vor den Menschen zu bewahren. Nur einer wusste darum, ihr Bruder Christoph. Die öfteren Gänge der Schwester nach dem Bollensberge waren ihm aufgefallen, und eines Sonntags war er ihr unbemerkt nachgegangen und hatte sie zu seiner Überraschung in den Armen des fremden Junkers gefunden. Wohl war er anfangs recht unwillig darüber; denn ein Junker und die Schulzentochter von Bollensdorf, das passte nicht zusammen und konnte zu keinem guten Ende führen. Doch die offene, leutselige Art des Junkers gefiel ihm, und er gewann die Überzeugung, dass dieser es ehrlich mit der Schwester meine. Daher nahm er auch die Freundschaft, die ihm jener antrug, an und gab Käthe das Versprechen, beider Geheimnis zu hüten. Auch wollte er den Vater, der ohnehin in dieser unruhigen Zeit schwere Sorgen hatte, nicht dadurch beunruhigen. Hatte doch auch der Junker versprochen, bei seiner Rückkehr nach Gröna den Eltern seine Liebe zu offenbaren.
„Sie werden sich wohl anfangs noch sträuben, aber dem Lebensglück ihres einzigen Sohnes nicht hinderlich sein, zumal wenn sie erst dich, meine süße Käthe, kennengelernt haben. Und in meiner lieben Schwester Ursula werde ich eine Verbündete haben. Unseren vereinigten Bitten werden sie nicht widerstehen.“
So hatte er zuversichtlich gesprochen, und an diese frohgemuten Worte klammerte sich Käthe, wenn Zweifel ihr Herz beschleichen wollten.
Auch heute stand sie auf dem Berge, des Geliebten harrend. Plötzlich fühlte sie sich von zwei starken Armen umschlungen, und zwei heiße Lippen pressten sich auf ihren Mund.
„Hans, du loser Schelm!“ rief sie, als er sie endlich freigab.
„Mich so zu erschrecken! Wo bist du so plötzlich hergekommen?
Ich habe dich nicht bemerkt.“
„Ja, siehst du,“ antwortete er lachend, „ich bin wieder einmal auf heimlichen Wegen genaht und habe die Landstraße gemieden. Wozu sollen uns die neugierigen Augen folgen und uns unser Glück stören!“

„Hast recht, Geliebter, noch braucht niemand um unser Geheimnis zu wissen, und mein Bruder Christoph verrät uns nicht.“
„Das weiß ich wohl. Ich habe ihn sehr lieb, deinen Bruder und freue mich, ihn zum Freunde gewonnen zu haben.“
Dankbar drückte sie ihm die Hand, und eng umschlungen ließen sich beide auf dem weichen Grase im Schatten der Eichen nieder. Ihre Blicke richteten sich auf den Fluss, der wie ein breites Silberband sich durch die grünen Wiesen schlang. Sie folgten einem weißen Segel, das von der Luft geschwellt über die glänzende Flut strich. Nach einer Weile erhob sich der Junker, zog den zierlichen Dolch, der am Gürtel hing, aus der Scheide und schnitt in die Rinde der Eiche zwei ineinander verschlungenen Herzen und in sie
hinein die Buchstaben
– K. und H. –
„Käthe und Hans,“ sprach er – „zwei Herzen und ein Schlag, zwei Namen und doch eins in ewiger Liebe und Treue.“
Das Mädchen hatte sich gleichfalls erhoben und sah seinem Tun zu. Dann lehnte sie sich glücklich an seine Brust.
Plötzlich erklang in der Nähe eine Stimme. Sie kam aus der Marienkapelle, die durch ein hohes Gebüsch verdeckt sich hinter den Liebenden erhob. Vorsichtig traten die beiden näher und konnten nun deutlich die Worte vornehmen:
„Heilige Jungfrau, du schmerzensreiche,“ betete drinnen eine Frauenstimme, „Schau in Gnaden herab auf mich armes Weib, dessen Herz von Angst und Zweifel gemartert wird.
Sieh, mein Mann und meine Kinder bekennen sich zu dem neuen Glauben, den sie das reine Evangelium nennen, aber ich kann es nicht; denn mein Herz hängt an dir und den Heiligen, von denen dieser neue Glauben nichts wissen will. Heilige Gottesmutter, bitte für mich, dass ich erleuchtet werde, um zu erkennen. Welches der richtige Glaube sei.“ Das Weitere ging in einem undeutlichen Murmeln unter, und gleich darauf führten die Lauscher den müden Schritt der sich Entfernenden.
Käthe hatte den geliebten hinter die bergenden Büsche zurückgezogen. Ihre Glieder zitterten, und Blässe bedeckte ihr Gesicht. „Meine Mutter, meine arme Mutter!“ flüsterte sie mit zuckenden Lippen. „Sie kann sich nicht zu dem neuen Glauben durchringen und hält im Herzen immer noch an der Papstkirche fest und wird darin von der alten Dorte und dem Pater Josef bestärkt.“ Tränen traten ihr in die schönen Augen.

Auch Hans von Thymen war tief bewegt. Er küsste ihr die Tränen fort. „Nicht weinen, mein Lieb, nicht weinen. Sieh, ich kann deine liebe Mutter gar wohl verstehen. Es ist nicht jedem gegeben, sich so leicht von dem zu trennen, was er bisher für das Rechte hielt, und worin er alt geworden. Ernsten, frommen Naturen fällt solches besonders schwer. Lasst der Mutter Zeit; sie wird sich schon noch zurechtfinden.“
„Das gleiche habe ich meinem Vater auch gesagt; aber es ist doch schwer für ihn, für die Mutter und für uns alle.“
„Aber doch darf es keinen Schatten auf unsere Liebe werfen.“
Beide ließen sich wieder Seite an Seite unter der Eiche nieder, aber es wollte keine rechte Freudigkeit wieder in ihr Gespräch kommen. Lange blickte sie schweigend in die Landschaft zu ihren Füßen hinaus.
Plötzlich fuhr der Junker aus dem Grase empor.
„Wenn mich nicht alles täuscht, so kommt dort mein treuer Werner geritten!“ rief er, auf einen Reiter zeigend, der in schnellem Trabe auf der Straße von Coswig herankam und in den nach dem Bollensberge führenden Weg einbog.
„Ich habe ihm hinterlassen, wo ich zu finden sei, wenn etwa wichtige Botschaft für mich käme. Bin neugierig, was er mir zu melden hat. Aber hier soll er uns nicht stören. Er würde bass erstaunt sein, mich an der Seite einer so schönen jungen Dame zu finden. Also lass mich ihm entgegengehen. Ich bin gleich wieder bei dir mein Schatz.“
Mit einigen Schritten ging er den Berg hinab und dem Reiter entgegen. Dieser war beim Anblick des Junkers aus dem Sattel gesprungen, und Käthe sah durch die Büsche, dass er ihm einen Brief überreichte, den dieser so gleich las. Er wechselte hierauf einige Worte mit dem Boten, der sich wieder auf das Ross schwang und den Weg, den er gekommen, zurücktritt.
Käthe ging dem Geliebten entgegen. Sein Gang war schwer, und tiefer Ernst lagerte auf seinem Gesicht. Traurig blickten seine Augen auf das geliebte Mädchen.
Sie erschrak vor diesem Blick.
„Ist dir schlimme Botschaft überbracht worden?“ fragte sie, und das Beben ihrer Stimme zeigte die bange Furcht, die ihr Herz beschlich.
„Leider ja, Geliebte. Mein Vater meldet mir, dass unser Fürst Wolfgang, der eurem Kurfürsten Treue geschworen, gleich diesen zum Kriege gegen den Kaiser, der unseren Glauben bedroht, rüstet. Der Fürst will mich in seiner Nähe haben, und mein Vater fordert mich deshalb auf, unverzüglich nach Bernburg zu kommen.“

„Du musst also fort?“ kam es schmerzlich von ihren Lippen.
„Ja, liebste Käthe, ich muss meinem Vater gehorchen. Aber sei nicht traurig. Es gilt, für die Sache des heiligen Evangeliums zu streiten, und dazu ist jeder Arm nötig. Gott, für dessen Sache ich in den Kampf ziehe, wird mich beschützen und mich gesund wieder zurückführen zu dir und zu unserm Glück. Sieh, mein Lieb, ehe wir ins Feld rücken, werde ich meinen Eltern unsere Liebe offenbaren. In solchen ernsten Augenblicken ist das Menschenherz weich, und meine Eltern werden mir dann mein Glück nicht verweigern. Doch nun lasst mich gehen; der Weg nach Bernburg ist weit, und ich muss noch heute aufbrechen.“
Schluchzend warf sie sich an seine Brust. Fest umschlang er die holde Gestalt und küsste wieder und immer wieder ihre Lippen.
„Lebe wohl, Geliebte, und bleibe mir treu…“
Die Stimme versagte ihm.
Gewaltsam riss er sich endlich los und schritt den Abhang hinab. Gleich darauf ritt er auf der Straße nach Coswig dahin.
Blutrote Glut lohte am Abendhimmel. Ihr Widerschein lag auf dem Berge und übergoss die Gestalt des Mädchens. Noch einmal hob der eilige Reiter den Hut und schwenkte ihn grüßend; ihr tränennasses Tüchlein wehte zu ihm herab. Tränen verdunkelten ihr den Blick. Laut schluchzend barg sie das Gesicht in den Händen.
Dann sank sie auf die Knie nieder, und von ihren bebenden
Lippen kam als Gebet die Worte des glaubensstarken Lutherliedes, das in aller Munde lebte:

„Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.

Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.

   Träge wie Schneckenschritt schlich die Zeit dahin, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Und doch ging sie nicht langsamer als sonst.
Was kümmert sie das Bangen und Sorgen, dass Weh in dem einzelnen kleinen Menschenherzen? Wie oft schon hatte Käthe den Tagen Flügel gewünscht. Monate bereits waren ins Land gegangen. Die reiche Ernte der Felder war längst geborgen, und schon furchte der Pflug den Acker wieder zur Aufnahme der Saat für das kommende Jahr.
Von den Geschehnissen draußen in der Welt drang nur spärliche Kunde ins stille Dorf, wo jeder wie im Frieden seiner Tagesarbeit nachging. Man wusste nur, dass das Bundesheer tief in Süddeutschland vorgedrungen war, ohne seitens der noch schwachen kaiserlichen Truppen wesentlichen Widerstand zu finden. Wohl hatte Kaiser Karl über die Bundeshäupter den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen und den Landgrafen Philipp von Hessen, als Meineidige und Empörer die Reichsacht ausgesprochen, aber man legte dem keine große Bedeutung bei, da man bestimmt auf den Sieg der evangelischen Sache hoffte.
Da schlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht ein, dass Herzog Moritz von Sachsen die Abwesenheit seines Vetters benutzt habe, dessen Kurfürstentum zu besetzen. Zwar ließ er diesem in einem Briefe melden, dass er das nur getan habe, um das Land vor dem Zugriff des Königs Ferdinand von Böhmen zu schützen, welcher auf das Geheiß seines kaiserlichen Bruders von Böhmen aus in dieses eingefallen war. Auch im Kurfürstentum selbst ließ er solches verkünden und gleichzeitig den Einwohnern die Erhaltung ihres evangelischen Glaubens sowie den Schutz von Gut und Leben versichern. Aber da man seine Gesinnungsart kannte, so fanden diese Versicherungen nur wenig Glauben, und das feste Wittenberg, in welchem die Kurfürstin Sibylle in Abwesenheit des Gemahls das Regiment führte, hielt ihm die Tore verschlossen.

Es war an einem niedrigen Novembermorgen. Über Nacht, während noch die Welt in Herbsträumen sich wiegte, war der Winter eingekehrt und hatte die Flur in seinen weißen Flockenmantel gehüllt.
Auf der Hauptstraße, die von Ingolstadt her nach Norden führt, bewegte sich ein langer Heereszug, das Heer des Kurfürsten von Sachsen, der aufgebrochen war, sein Land aus den Händen des verräterischen Eindringlings zu befreien.
An der Spitze einer größeren Abteilung ritt Fürst Wolfgang von Anhalt und an seiner Seite der Junker Hans von Thymen. Beide waren in tiefes Schweigen versunken; jeder hing seinen Gedanken nach.
Die Anrede des Fürsten weckte Hans aus seinen Träumen.
„Junker, Ihr freut Euch gewiss, dass es nun wieder in die Heimat geht.“
„Will‘s nicht leugnen, Durchlaucht,“ erwiderte er freimütig,
„wenn ich auch freilich wünschte, dass die Veranlassung zu
unserer Rückkehr eine erfreulichere wäre.“
„Ja, wir hatten uns die Heimkehr anders gedacht. Sie gleicht mehr einem unglücklichen Rückzug.“

„Durchlaucht, musste das so kommen? Ich verstehe zwar nichts von Politik, aber mir scheint doch, dass man in vielem hätte anders verfahren sollen.“
Das große, helle Auge des Fürsten ruhte Ernst auf dem Jüngling. „Wohl, wohl Junker, es sind große und schwere Fehler gemacht worden, namentlich seitens der Städte, die sich nun schwer rächen. Hätte man, wie es der tapfere Sebastian Schärtlin wollte, frisch zugeschlagen, ehe der Kaiser Verstärkungen heranzog, so ständen die Dinge heute wohl anders. Wäre man dem alten Degen nicht aus alberner Rücksichtnahme auf den angeblich neutralen Bayernherzog in den Arm gefallen, als er den Kaiser mitsamt seinem Haufen in Regensburg aushebeln wollte, dann hätte wohl heute schon der Krieg ein Ende.“
„Ich verstehe nicht, wie man den kühnen Helden, der bereits die Alpenpässe besetzt hatte, um den Zuzug aus Italien abzufangen, zurückrufen konnte.“
„Der Tiroler Landesherr Ferdinand von Böhmen hatte noch nicht den Krieg erklärt.“
„Wieder diese Rücksichtnahme, die alles verdirbt! Jedermann wusste doch, dass Ferdinand des Kaisers Bruder und unser Feind war. Zum Dank für diese Schonung hatte er mit Herzog Moritz gemeinsame Sache gemacht und ist mit ihm über das schutzlose Kurfürstentum hergefallen.“
„Von ihm als Katholiken konnte man sich freilich nichts Gutes absehen; dass aber ein evangelischer Fürst zum Verräter an der heiligen Sache des Evangeliums werden konnte, das ist bitter.
Wie will Herzog Moritz vor dem Urteil Gottes und der Geschichte bestehen?“
„Sie nennen ihn schon jetzt den sächsischen Judas, und die Landsknechte haben ein Liedlein auf ihn gemacht. Eben singen sie es wieder.“ Aus den Reihen der hinter den beiden marschieren Landsknechte erklang es:

„Moritz, du aber Judas,
was hast du getan?
Du bringst zu uns die Spanier,
die schänden Frau und Mann.
Du bringst her die Maranen
in unser Vaterland,
dazu die Italianen.
Das ist ihr ewig Schand!“

Kaum war dieser Gesang verklungen, als ein anderer Haufen einsetzte:

„Herzog Moritz von Sachsen heiß ich,
den Namen mit der Tat habe ich.
Mürrisch und störrisch bin ich,
argköpfisch, hochfertig, tyrannisch bleib ich.
Der Teufel komm und wohne in mich
und alle meine Gesellen, das wünsche ich.
Die Hölle wartet unser ganz herrlich.
Ade, Evangelium, Gott gesegnete ich!“

   „Die Gesellen sind ganz witzig mit ihrem Schelmenliedlein“, sprach der Fürst, als der Gesang verstummt war. „Schade nur, dass man auf sie sich nicht verlassen kann. Sie heißen zwar Landsknechte, was soviel sagen will wie des Landes Knechte, aber es verschlägt ihn gar nicht, heute diesem und morgen jenem Herrn zu dienen, je nachdem wer ihnen das meiste Geld und die größte Beute bietet. Wenn Ihnen morgen Herzog Moritz höheren Sold verheißt als Kurfürst Johann Friedrich, so machen Sie sich gar kein Gewissen daraus, zu ihm überzugehen und statt des Schelmenliedleins auf den Herzog ein solches auf den Kurfürsten zu reimen. Wieviel besser wäre es, könnte man statt der käuflichen landfremden Gesellen die wirklichen eigenen Söhne des Landes zum Schutze aufrufen, die nicht um des Lohnes willen, sondern aus Liebe zur Heimat streiten. Vielleicht treibt die Entwicklung noch dahin, wenn ich es freilich auch nicht wieder erleben werde.“

„Der Kurfürst hat die Schlacht verloren und ist gefangen!“
Mit diesem Schreckensrufe stürzte Christoph am Mittag des
25. April 1547 in die Stube, in welcher der Schulze mit den Seinen und dem Gesinde sich zum Mittagessen versammelt hatte.
Die Schüssel, welche Käthe soeben hereintrug, entglitt ihren Händen. Leichenblässe bedeckte ihr Gesicht, und die Füße versagten ihr den Dienst. Sie wäre umgesunken, wenn nicht
Martin, der Knecht, hinzugesprungen und ihr schnell einen
Stuhl hingeschoben hätte.
Schulze Gäbler fuhr von seinem Sitze empor und starrte den Sohn eine Weile sprachlos an.
„Wie kommst du zu einer solchen unglaublichen Botschaft?“ fragte er dann.
„Ich war, wie Ihr wisst, in Wittenberg, um das Korn im Schlosse abzuliefern. Nachdem die Säcke vom Wagen abgeladen waren,
ging ich dem Markte zu, um einzukaufen, was mir aufgetragen war. Doch ehe ich weiter erzähle, lass mich setzen; mir steckt noch der Schrecken in allen Gliedern.“
Nachdem er am Tische Platz genommen, fuhr er fort:
„Kaum war ich auf dem Marktplatz angekommen, da drang aus
der Langen Gasse (heutige Collegienstraße) ein lautes Getöse.
Ein Trupp Reiter war durch das Kreuztor (ehemals Elstertor) eingeritten und jagte nun an mir vorüber dem Schlosse zu.
Ihr hättet sie sehen sollen! Das Wams war an vielen Stellen zerrissen, der Koller zerhauen. Manche waren ohne Kopfbedeckung, und über ihr Gesicht liefen blutige Striemen wie von Säbelhieben.
Ein junger Kornett blieb zurück.
„Sie brauchen mich nicht, um der Kurfürst die Unglücksbotschaft
zu melden“, meinte er zu uns.
„Ich bin durch den tollen Ritt die ganze Nacht hindurch entkräftet. Ist hier nicht in der Nähe ein Wirtshaus?“
Wir führten ihn nach dem Gasthof „Zum Adler“.

Hotel Goldener Adler um 1940

Wie ein hungriger Wolf fiel er über das vorgesetzte Essen her. Ein großes Glas Wein goss er in einem Zuge hinunter. Als der Wirt Urban Krahnepuhl im noch eine Flasche extra hinstellte, da wurde er gesprächig und erzählt uns, was geschehen war.
Schlimm genug ist freilich, was er berichtete: Der Kurfürst ist bei Mühlberg und in der Lochauer Heide vollständig geschlagen worden und nach tapferer Gegenwehr mit schwerer Verwundung in die Hände der Kaiserlichen gefallen, die nun auf dem Marsche gegen Wittenberg sind.“
Im Zimmer herrschte tiefe Stille. Auf allen Gesichtern malte sich Bestürzung und schwere Sorge vor der nächsten Zukunft;
nur in den Augen der Hausmutter lag ein seltsames leuchten.
Der Schulze aber faltete die Hände und sprach mit starker
Stimme Martin Luthers Glaubenstrost:

„Mit unserer Macht ist nichts getan,
wir sind dabei verloren;
es streit für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesu Christ,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.“

„Amen!“ antworteten alle; nur die Mutter schwieg still.
Als alle die Stube verlassen hatten, nahm Käthe den Bruder beiseite. „Christoph,“ forschte sie angstvoll, „wusste der Reiter nichts von Hans? Hast du nicht nach ihm gefragt?“
In ihrer Stimme zitterte die Angst ihres Herzens.
„Gewiss habe ich ihn gefragt, aber er konnte mir nichts Genaues über ihn sagen. Er meinte, Hans sei bei denen gewesen, die sich bei den Kaiserlichen, welche durch die Furt der Elbe kamen, so tapfer entgegenwarfen. Aber sie wurden überrannt und zersprengt.“
„So ist er tot,“ sprach sie tonlos, und heiße Tränen rannen über
ihre Wangen.
„Ach nein, Schwesterchen, das musst du nicht denken,“ entgegnete der Bruder tröstend, indem er den Arm um ihre Schultern legte.
Es sind ja so viele entkommen; warum sollte es ihm nicht gelungen sein?“
„Ich glaube es nicht. Ich wusste ja, dass ein großes Unglück kommen würde. Das Zeichen am Himmel hat es voraus verkündet.“
„Das Zeichen am Himmel? Was meinst du damit?“
„Am Sonnabendabend,“ erzählte Käthe,
„stand ich unter der Eiche auf dem Bollensberge – du kennst sie ja. Im Dorfe wurde gerade der Sonntag eingeläutet. Wo die Sonne stand, war der ganze Himmel wie mit Blut übergossen, und als ich nach Wittenberg hinblickte, da sah es aus, als stünde die ganze Stadt in Flammen, und besonders das Schloss und die Türme waren von feurigen Strahlen umzuckt. Während ich noch voll Staunen und Bangen auf die Glut schaute, da schwand diese auf einmal, und über den Häusern erschien ein bunter Regenbogen.“
„Aber, liebe Käthe, wie kannst du darin etwas Besonderes finden? Dergleichen kann man bei Sonnenuntergang öfters sehen, zumal wenn Regenwolken am Himmel stehen.“
„Nein, nein,“ wehrte sie ab, so habe ich es noch niemals gesehen.
Das kündete das große Unglück, welches nun über uns gekommen ist.“
„Geh, Kleine, das ist Aberglaube, und Aberglaube ist Sünde.“ Kopfschüttelnd und in schweren Gedanken verließ der Bruder die Stube.

Zwei Tage später kam Kaiser Karl mit seinem Heere, in welchem er den Gefangenen Kurfürsten mitführte, auf der linken Seite des Elbstromes vor Wittenberg an. Er sah sogleich, dass der starken Festung von dieser Seite nicht beizukommen war. Deshalb ließ er unterhalb der Stadt eine Schiffbrücke über die Elbe schlagen und bezog westlich von dieser in der Nähe von Piesteritz sein Lager in welchem auch das Zelt des kurfürstlichen Gefangenen errichtet wurde.
Bald nach seiner Ankunft hielt der Kaiser einen langen Kriegsrat ab. Was darin beschlossen wurde, sollten die Bewohner des Kurfürstentums bald zu ihrem Schrecken erfahren.
Vor allem auf das Drängen des finsteren Herzogs Alba hin wurde Kurfürst Johann Friedrich als ein Rebell zum Tode durch das Schwert verurteilt und das Urteil überall verkündet.
Der Gefangene saß mit dem Herzog Ernst von Lüneburg in seinem Zelte beim Schachspiel, als der kaiserliche Bote eintrat und ihm sein Todesurteil vorlas. Einen Augenblick überzog tiefe Blässe sein Gesicht, und die Hand zitterte. Dann aber wandte er sich, ohne den Abgesandten einer Antwort zu würdigen, an den Herzog Ernst und sprach gelassen: „wir wollen im Spiel fortfahren.“
Voll Bestürzung vernahmen die Einwohner von Wittenberg das ungerechte Todesurteil über den frommen, geliebten Landesherren. Der Stadtpfarrer J. Bugenhagen ließ sogleich die Glocken läuten und rief die Gemeinde in der Stadtkirche zusammen. Von der Kanzel aus, von der vor ihm Martin Luther zu den Gläubigen seine glaubensstarken Worte gesprochen, hielt er eine Rede, die mehr weltlich als geistlich war. Er gab darin seiner Meinung dahin Ausdruck, dass man Seine kurfürstliche Gnaden wohl nur deswegen zum Tode verurteilt habe, um damit die Stadt zu erschrecken und zur Übergabe zu zwingen. Nun sei beides bedenklich, sowohl das verharren im Widerstande als auch die Übergabe der Stadt.
Doch wollte er zum letzteren raten, schon um des gefangenen frommen Herrn willen, wiewohl er nicht glauben möge, dass der Kaiser es wagen werde, ein solch simples Urteil zu vollziehen. In einem inbrünstigen Gebet befahl der treue Hirte seiner Gemeinde diese Sache der Weisheit und der Gnade Gottes.
Um ihrem Gemahl das Leben zu retten, entschloss sich die Kurfürstin, die Stadt zu übergeben, doch stellte sie auf deren Bitte hin die Bedingung, dass die Einwohner bei ihrem evangelischen Glauben beharren durften, und dass kein Spanier die Stadt betreten solle, dieweil man sich von diesen nichts Gutes versah.
Als die Nachricht von der Übergabe im kaiserlichen Lager eintraf, erweckte sie dort großen Jubel. Mehrere Fürsten eilten sogleich zum Kaiser und drangen in ihn, das Todesurteil gegen den Kurfürsten aufzuheben, weil doch der damit beabsichtigte Zweck erreicht sei. Besonders war es Herzog Moritz von Sachsen, welcher von Anfang an gegen ein solches Urteil gewesen war, der dem Kaiser vorstellte, dass er mit dessen Vollziehung den kaiserlichen Namen beflecken würde. Karl gab denn auch den Vorstellungen nach, erhob das Todesurteil auf und ließ das schon errichtete Blutgerüst wieder abbrechen.
Sogleich wurden die Bedingungen aufgesetzt, welche der Kurfürst unterschreiben sollte. Darin wurde nicht allein die Übergabe der Festung Wittenberg mit allem Geschütz und allen Kriegsvorräten gefordert, sondern Johann Friedrich musste auch für sich und seine Kinder auf die Kurwürde und auf den größten Teil seiner Länder verzichten. Nur die Besitzungen in Thüringen verblieben ihm. Auch musste er in der Gefangenschaft verbleiben, solange es dem Kaiser gefallen würde. Hingegen sollte der Markgraf von Brandenburg-Kulmbach, der bei Rochlitz gefangen und nach Wittenberg gebracht worden war, sogleich und ohne Lösegeld freigelassen werden.
Mit Rücksicht auf die Seinen unterwarf sich der Kurfürst diesen harten Bedingungen, aber die Zumutung, die Beschlüsse des Tridentiner Konzils anzuerkennen, wies er mit der größten Entschiedenheit zurück; er forderte vielmehr, dass die Einwohner des Kurfürstentums bei ihrem Glauben bleiben dürften, was ihm denn auch zugestanden wurde.
Wenige Tage später, es war am Mittwoch vor dem Pfingstfeste, ritt Kaiser Karl in Wittenberg ein, umgeben von einem glänzenden Gefolge, in welchem sich auch der finstere Herzog Alba und der weltkluge Bischof von Arras Antoine Parrenot befanden, welche letzterer nochmals als Kardinal Grandvella eine besondere Bedeutung erlangt hat. Vor, neben und hinter dem Kaiser aber liefen Trabanten und zahlreiches Kriegsvolk. Nur den Spaniern wurde der Zutritt verwehrt.
Vor der Schlosskirche stieg der Kaiser vom Pferde. Sinnend betrachtete er die Tür, an welche Dr. Luther dereinst jene 95 Sätze geschlagen, die den Ausgang der Glaubensspaltung bildeten.
Dann schritt er hinein in das Gotteshaus und stand lange und schweigsam am Grabe des Reformators.
Da trat Herzog Alba an ihn heran und sprach:

„Ich möchte Eure Majestät wohl geraten haben,
diesen Ketzer ausgraben und verbrennen zu lassen,
damit dies Ärgernis von der Christenheit genommen sei.“

Kaiser Karl aber schüttelte unwillig den Kopf, und mit einer abweisenden Bewegung der Rechten erwiderte er:
„Ich führe Krieg mit den Lebendigen, nicht mit den Toten.
Lasst ihn ruhen.“

Von der Schlosskirche aus begab sich der Kaiser über den Marktplatz hinweg zur Stadtkirche. Als er an dieser ein Kruzifix angebracht sah, entblößte er sein Haupt, und die Herren seines Gefolges folgten dem Beispiele. Er äußerte seine Verwunderung darüber, dass solches Zeichen auch an einer ketzerischen Kirche zu finden sei. Nun wollte er auch gern das Innere sehen, aber der Küster welcher den Schlüssel verwahrte, war nirgends aufzufinden; er hielt sich aus eitel Furcht versteckt.
Erst als der Kaiser schon fortgeschritten war, gelang es, ihn zu finden. Ein spanischer Offizier, der hernach das Gotteshaus betrat, beschaute aufmerksam das von Lucas Cranach so meisterhaft gemalte Altarbild. Als er auf seine Frage vernahm, dass der auf der Kanzel stehende Prediger Dr. Luther sei, da zog er voller Zorn seinen Degen und stieß ihn gegen das Bild, indem er Ausruf:
„Isthaec bestia adhuc mortua saevit!“
(„Diese Bestie wütet auch im Tode noch!)
In der Stadt Wittenberg trat nach all den Aufregungen der letzten Tage endlich wieder Beruhigung ein, da ihre Einwohner sahen, dass Ihnen vom Kaiser nichts Übles geschah. Wohl musste die kurfürstliche Besatzung die Festung verlassen, und an ihre Stelle traten kaiserliche Truppen, die aber nur aus Deutschen bestanden, unter denen der Statthalter Madrusca strenge Mannszucht hielt.
Am Tage nach dem Besuche des Kaisers in der Stadt traf im Lager
bei Piesteritz ein ehrwürdiger Greis ein.
Ein langer weißer Bart weihte ihn bis auf die Brust, und freundlich und ohne Furcht blickten seine Augen auf das bunte Lagerleben.
Es war der berühmte Maler Lucas Cranach aus Wittenberg.
Er begehrte, zum Kaiser geführt zu werden, von dem er eine Einladung vorzeigte. Seiner Bitte wurde sogleich gewillfahrt.
Als Kaiser Karl dem Maler, der sich tief vor ihm verneigte, erblickte, erhob er sich von seinem Stuhle, streckte ihm die Hand entgegen und geleitete ihn zu einem Ruhesitz an seiner Seite.
„Es freut mich Meister,“ begrüßte er ihn,
„Euch bei mir zu sehen. Wisst ihr auch, dass wir alte Bekannte sind? In meinem Schloss zu Mecheln hängt noch das Bild, auf dem Ihr
mich als achtjährigen Knaben gemalt hat. Es wäre mir lieb, von
euch zu hören, wie ich mich in jedem Alter Wohl verhalten habe.“
„Eure Majestät,“ entgegnete Cranach lächelnd, „waren, soweit ich mich erinnere, von etwas unruhiger Art. Als ich auf Wunsch von eurer Majestät kaiserlichen Vater euch malen sollte, wolltet Ihr nicht recht stille sitzen. Da befestigte Euer Majestät Erzieher an der Wand eine eiserne Pfeilspitze. Dieser Anblick erfreute Euch so sehr, dass Ihr ganz stille saßet, und ich das Bild vollenden konnte.“
Der Kaiser lächelte, dann sprach er ernst:
„Ja, Stahl und Eisen habe ich seitdem leider nur selten aus der Hand legen können. Aber Ihr müsst nicht vermeinen, dass ich darum die edle Kunst weniger achte. Ich weiß, Ihr seid ein berühmter Meister, und ich möchte mich gegen Euch günstig erzeigen.
Erbittet Euch deshalb von mir eine Gnade.“
Da warf sich Cranach vor dem Kaiser zu Füßen und rief:
„So bitte ich Eure großmächtige Majestät inständig,
meinen guten gnädigen Herrn, den Kurfürsten,
der Haft entlassen zu wollen.“
Ein Schatten des Unmuts legte sich auf das Gesicht des Kaisers.
Er hob den Maler empor und sprach:
„Solcher Bitte war ich nicht gewärtig. Und wenn ich sie Euch
auch erfüllen wollte, so darf ich es doch nicht. Sinnet deshalb
auf etwas Anderes.“
Cranach erwiderte:
„Wenn denn Eure Majestät meinen Herrn nicht von der Haft lösen wollen oder können, so bitte ich, wollet mir die Gnade erzeigen, seine Gefangenschaft zu teilen.“
Erstaunt und voll Verwunderung blickte der andere auf den treuen Mann. „Meister Cranach,“ antwortete er „diese Bitte ehrt Euer edles Herz, und ich mag sie Euch nicht verweigern. Aber bedenkt es wohl: Euer Herr ist ein Gefangener und muss mit mir ziehen, wohin es auch sei. Für Euer Alter aber dürften die Beschwerden zu hart
und zu groß sein.“
„Für meinen armen guten Herrn ist mir nichts zu schwer, wenn ich ihm nur sein trauriges Schicksal erleichtern kann“, war die Antwort.
„So sei es denn wie ihr wollt“, entgegnete der Kaiser und entließ den Maler mit freundlichem Händedruck.
Dieser begab sich sogleich zum Zelte des gefangenen Kurfürsten, der bei seinem Kommen eine große Freude bezeigte und den Gast umarmte. Er musste ihm ausführlich berichten, wie es in Wittenberg stünde. Es freute ihn als er hörte, dass der Stadt keinerlei übles wiederfahren war, besonders aber, dass man den Bewohnern ungehindert den evangelischen Gottesdienst halten lasse.
Cranach berichtete nun auch mit niedergeschlagenem Blick, wie er versucht habe, des Kurfürsten Freilassung vom Kaiser zu erflehen, und wie dieser solches abgelehnt habe.
„Meister Maler, das hättet ihr nicht tun sollen!“ rief der Kurfürst. Der Kaiser hat beschlossen, mich ins Unglück zu bringen.
Ist´s Gottes Wille, so mag es auch geschehen; ist`s aber Gottes Willen nicht, so kann der mich wohl erretten.
So tröste ich mich mit meinem Lieblingsliede:

Wie es Gott gefällt, so nehme ich‘s an,
will um Geduld nur bitten.
Gott ist allein, der helfen kann,
ob auch der Tod inmitten.
´s ist all umsunst: Weltwitz und Kunst,
hilft auch nicht Haar ausraufen.
Murr oder beiß: soll‘s sein, so seis!
Weils doch sein Weg muss laufen.“ 

„Aber eine andere Gnade hat mir der Kaiser gewährt“,
fuhr Cranach fort. „Und die wäre?“
„Das ich Eurer kurfürstlichen Gnaden Gefangenschaft teilen darf.“

Der Kurfürst sprang von seinem Sitze auf.
„Meister Maler, Ihr scherzt!“
„Nein, gnädigster Herr, es ist mir bitterer Ernst. Habe ich die kurfürstliche Huld erfahren, so erachte ich es als meine Pflicht,
auch Euer Ungemach zu teilen, was Euch durch Verteidigung unseres heiligen Glaubens gekommen ist.“
Voll tiefer Rührung schloss der Kurfürst den wackeren Mann in seiner Arme.
„Edler Meister, habt Dank für dieses Wort. So bin ich dennoch
nicht von allen meinen Freunden verlassen, wie ich wähnte.
Aber Eurer Opfer darf ich nicht annehmen.“
„Es ist kein Opfer, mein Fürst, sondern mir eine Freude und Gnade, wenn ich bei Euch sein und Euch in Eurem Leide trösten darf.
Ich bin in Wittenberg, das nun leider nicht mehr das Eure ist, entbehrlich. Was ich hier an Besitz habe, das habe ich meinem Sohne Lucas übergeben, der es wohl verwalten wird, dessen bin ich gewiss. Und meine Kunst geht mit mir. Also gewährt dem alten Manne die Gnade, seinem edlen Fürsten zu dienen mit der Kraft, die ihm noch bleibt, bis Euer Unglück sich wendet.“
Eine Weile stand Johann Friedrich in tiefem Sinnen; dann wandte
er sich zu dem Maler, und ein feuchter Schimmer lag in seinen Augen: „Nun denn,“ sprach er mit bewegter Stimme, „so will ich
Euer großes Opfer annehmen. Gott lohne es Euch, edler Meister.“
Ein inniger Händedruck besiegelte den Freundschaftsbund zwischen Fürst und Untertan.

In der Umgebung der Stadt Wittenberg herrschte große
Erregung und Furcht. Wiederholt waren in den Dörfern
spanische Horden erschienen, die ungescheut raubten,
plünderten und allerlei Gewalttaten verübten.
Es war am Tage nach der Übergabe Wittenbergs an den Kaiser. Christoph war auf Kundschaft ausgegangen und dabei bis an das Heerlager bei Piesteritz gekommen. Gegen Mittag kehrte er mit beruhigenden Nachrichten zurück. Alle atmeten erleichtert auf,
und jeder ging seiner gewohnten Beschäftigung nach.
Der Schulze rüstete sich, einen Gang nach den Elbwiesen zu tun,
wo das Frühjahrshochwasser einigen Schaden getan hatte.
Plötzlich erschallte auf der Dorfstraße der Hufschlag von Pferden; das Hoftor wurde ungestüm aufgerissen, und herein stürmte ein Trupp wildaussehender spanischer Reiter.
Während einer am Tore als Wache zurückblieb, drangen die übrigen in das Haus. Der Schulze, der ihnen unerschrocken entgegentrat, wurde sogleich von ihnen umringt. Einer der Unholde setzte ihm die lange Reiterpistole auf die Brust und forderte in gebrochenem Deutsch die Herausgabe des Geldes.
Gäbler bedeutete ihm, dass er solches nicht im Hause habe.
Er sprach damit die Wahrheit; denn was an Geld und Wertvollem
im Hause war, hatte er am Tage zuvor heimlich mit dem Sohne im Garten unter dem Bienenstande vergraben.
„Bauer, du lügst!“ herrschte ihn der Spanier an und erhob drohend die Pistole.
In diesem Augenblick eilte Christoph herbei.
„Lasst meinen Vater in Ruhe! Was wollt Ihr von ihm?“
„Geld wollen wir haben, Bursche. Heraus damit!“
„Wir haben kein Geld. Woher soll der Bauer vor der Ernte Geld nehmen? Essen und Trinken sollt Ihr haben, aber weiter nichts.“
Währendem betrat Käthe, die im Garten gewesen war und dort
den Lärm vernommen hatte, ahnungslos den Hof.
Kaum hatten die Spanier das Mädchen erblickt, da stürzten drei
der wilden Gesellen mit wüsten Rufe auf sie zu und packten sie
bei den Armen.
Christoph erkannte die Gefahr, in welcher die Schwester schwebte. Mit wenigen Schritten war er an ihrer Seite, ergriff eine Axt, die an der Hauswand lehnte, und ließ sie auf die Wüstlinge niedersausen. Zwei von ihnen stürzten zu Boden, während der dritte, erschreckt über den unerwarteten Angriff, das Opfer fahren ließ und zurückwich.
„Schnell fort!“ raunte Christoph der Schwester zu, die, so schnell
sie die Füße zu tragen vermochten, nach dem Garten zurückeilte,
wo sie sich im Bienenhäuschen verbarg. Sie bedachte freilich nicht, dass dies ein sehr unsicheres Versteck sei, in welchem man sie bald entdecken würde.
Christoph aber war mit wenigen Sätzen in der Scheune, deren Tor
er hinter sich verriegelte. Rasch klomm er die Leiter empor und zog diese hinter sich hinauf auf das Stroh. Angestrengt und mit klopfendem Herzen lauschte er auf den Lärm im Hofe. Die ältere Schwester war mit den beiden Mägden und dem Knechte draußen auf dem Felde und also wohl in Sicherheit, was er auch von Käthe hoffen durfte. Ihm bangte nur für Vater und Mutter, die im Hause
in der Gewalt der Wüstengesellen waren.
Jetzt erstreiten donnernde Schläge gegen das Scheunentor.
Die Bretter zersplitterten, und der wilde Haufen drang durch die Öffnung.
„Hier muss er sein!“ rief der eine. „Hierher habe ich ihn laufen sehen!“ – „Er wird sich da oben im Stroh versteckt haben“, entgegnete ein anderer.
„Was wollen wir lange suchen; räuchern wir den Hund aus!“ Johlend stimmten die anderen dem Vorschlage zu, und schon entzündete einer eine Lunte und schickte sich an, sie ins Stroh zu schleudern.
Christoph erkannte mit Entsetzen, was ihm drohte. Mit schnellem Entschluss ergriff er ein Strohbund und schleuderte es mit ganzer Kraft den Brandstifter auf den Kopf, dass er zu Boden stürzte, während ihm die Lunte aus der Hand fiel und erlosch.
Die Horde stieß ein heiseres Wutgebrüll aus; die Lunte wurde
aufs Neue angezündet, während sich gleichzeitig mehrere Pistolenläufe nach oben richteten.
In diesen gefahrvollen Augenblick viel draußen ein Schuss,
und Waffengetöse erfüllte den Hof. Die Spanier liefen sofort
aus der Scheune, ohne sich weiter um Christoph zu kümmern.
Draußen knallten Schüsse, und Säbel klirrten aneinander, untermischt mit Geschrei und Flüchen.
Vorsichtig öffnete Christoph die Scheunenluke.
Was er sah, erfüllte ihn mit unaussprechlicher Freude:
In der Mitte des Hofes hielt ein Trupp kursächsischer Reiter.
Sie hatten die Spanier umringt, von denen einige tot oder verwundet am Boden lagen, während die übrigen die Waffen gestreckt hatten.
Jetzt wandte sich der Führer der Kurfürstlichen um, und Christoph erkannte zu seiner Überraschung in ihm den Junker Hans von Thymen. Ein Jubelruf entfuhr seinem Munde. Eilfertig stieg er die Leiter hinab und trat in den Hof. In freudiger Bewegung lagen sich die beiden Freunde in den Armen.
„Wo ist meine Käthe?“ War die erste Frage des Junkers.
Christoph teilte ihm mit, was geschehen war und meinte, dass die Schwester sich wohl in der Nähe verborgen halte.
„Käthe, liebe Käthe!“ rief Hans, so laut er konnte, und seine ganze Sorge, Liebe und Sehnsucht lag in diesem Rufe.
Käthe in ihrem Versteck vernahm die Stimme. Alles Blut drängte ihr zum Herzen bei diesem wohl bekannten Klange, den sie ach solange nicht vernommen. Noch konnte sie das unfassbare nicht glauben.
„Käthe, liebe Käthe!“ rief es da wieder.
Jetzt aber hielt sie nichts mehr. Sie durchflog den Garten und den Hof und lag im nächsten Augenblick in den Armen des geliebten Mannes. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust, und alle Angst der letzten Stunden, alle Sorge und alle Wiedersehenswonne lösten
sich in einem Strom von Tränen.
Erstaunt und befremdet blickten der Schulze und seine Frau auf diese Szene, bis ihnen der Sohn mit wenigen Worten die
Aufklärung gab.
Da trat Gäbler auf den Junker zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Herr von Thymen,“ sprach er,
„Ihr kamt als Retter in der Not. Wenn Ihr nicht noch rechtzeitig erschienen wäret, wer weiß, wie es jetzt um uns stünde.
Darum meinen und der Meinigen herzlichen Dank.
Freilich das mit meiner Käthe… dessen war ich nicht gewärtig.“
Hans schüttelte ihm freudig die Hand.
„Vater meiner geliebten Käthe, wir hatten ein Geheimnis vor Euch. Verzeiht es uns. Aber wir wollten es Euch nicht eher kundtun bevor nicht ruhigere Zeiten waren, und meine Eltern ihre Zustimmung gegeben hatten. Nun hat der ernste Augenblick unser Geheimnis offenbart. Darum bitte ich Euch und die Mutter:
Segnet unseren Bund. Ich meine es ehrlich, das weiß Gott im Himmel, und will alles daransetzen, Euer Kind glücklich zu machen. Das schwöre ich Euch.“
„Wohl… wohl… ich glaube Euch, und will Euch auch darum die
Kette nicht weigern, dieweil ich meine, was Gott zusammenfügt,
das soll der Mensch nicht scheiden. Aber kommt ins Haus, dort können wir weiter darüber sprechen.“
„Wie Ihr euch wohl denken könnt,“ antwortete der Junker, bin ich mit meinen Reitern auf der Flucht vor den Kaiserlichen und daher hier noch nicht sicher vor ihnen. Aber ich denke,“
setzte er mit einem innigen Blick auf Käthe hinzu,
„eine kurze Rast muss ich uns wohl gönnen.“
Nachdem er Anordnung betreffs der getöteten, verwundeten
und gefangenen Spanier gegeben und Wachen sowohl vor dem
Hofe als auch am Eingange des Dorfes aufgestellt hatte, begab er sich mit dem Schulzen in die Stube.
Hier hatte Käthe mit der Mutter den Tisch und gedeckt mit allem, was das Schulzenhaus geben konnte, und auch den Reitern wurde
in der anstoßenden Kammer reichlich aufgetragen.
Sie sprachen alle dem Vorgesetzten wacker zu, und ihr Appetit
ließ erkennen, dass sie seit langem nicht satt geworden waren.   „Wundert Euch nicht über unsere Unbescheidenheit,“ meinte
Hans lächelnd, „aber wir haben seit dem unglücklichen Tage bei Mühlberg nichts Ordentliches zu essen gehabt. Nein, nein,“
wehrte er Käthe ab, die ihm immer wieder die gefüllten Teller hinschob, „du meinst es gut, mein liebes Mädchen, aber ich tat,
was ich konnte, und vermag wirklich nichts mehr zu essen.“
Er legte Gabel und Messer beiseite und wandte sich dann zu der Schulzenfamilie:
„Ihr werdet erstaunt sein über unser Kommen. Wir hatten bei Mühlberg den Auftrag erhalten, den Feind, dem ein Verräter die
Furt in der Elbe gewiesen hatte, zurückzuwerfen.
Aber der Befehl kam, wie so vieles, was Schönberg anordnete,
zu spät. Die Kaiserlichen hatten bereits in großer Zahl den Fluss durchschritten, und es war ihnen daher ein leichtes, unser schwaches Häuflein zu überrennen und zu zersprengen.
Wir wurden fast völlig aufgerieben, und nur mit großer Mühe
gelang es mir, mich mit den Wenigen hier durchzuhauen.
Lasst mich schweigen von dem, was wir in den letzten Tagen erduldet haben. Wir waren des Weges unkundig und wiederholt
in Gefahr in den Sümpfen und Wasserläufen umzukommen.
Dabei mussten wir immer befürchten, von den Kaiserlichen, besonders von den umherstreifenden Spaniern entdeckt
und überfallen zu werden.
Wir mieden deshalb die gewöhnlichen Straßen und auch die Ortschaften, weshalb wir auch nichts zu essen bekommen konnten und zuletzt nicht eine Brotrinde mehr hatten, um unseren Hunger
zu stillen. In einem großen Bogen umgingen wir Wittenberg, weil uns Kunde ward von der Anwesenheit des Feindes. Aber trotz der nahen Gefahr zog es doch mein Herz hierher, und ich danke Gott, dass ich seiner Stimme folgte; denn ich kam gerade zurecht,
um Schlimmeres zu verhüten.“
Käthe drückte dem geliebten Manne immer wieder voll Freude
und Dankbarkeit die Hand.
Da trat einer der Reiter ins Zimmer.
„Verzeiht, Herr Junker, wenn ich störe,“ sprach er, „aber wir meinen, dass wir uns nicht länger verweilen dürfen, wenngleich es auch
uns bei so vortrefflichen Wirten gar wohl gefällt. Doch das Lager
der Feinde ist allzu nahe, und es könnte leicht geschehen dass
man von unserer Anwesenheit Kunde erhält und uns mit einer Übermacht überfällt.“
Käthe zuckte schmerzlich zusammen.
„Hans, musst du wirklich schon wieder fort? Ich habe dich ja nur
erst wenige Minuten wieder.“
„Wie gern bliebe ich noch länger bei dir, mein geliebtes Käthchen, aber ich darf meine braven Kameraden und mich nicht unnötig der Gefahr aussetzen. Wir wollen uns nach Bernburg durchschlagen zu meinem Fürsten Wolfgang. Er ist, wie ich erfahren habe, auf der Lochauer Heide nur mit Mühe und Not der Gefangenschaft entronnen und wird uns gebrauchen können; denn ich glaube nicht, dass man den tapferen Streiter für die evangelische Sache unbehelligt lassen wird. Dafür wird schon Herzog Moritz, dieser Judas, und der Ketzerfresser Alba sorgen. Also lass mich der Mahnung meiner Getreuen folgen. Ich hoffe, es wird nicht lange dauern, bis wir uns wiedersehen, und ich denke dir dann froh Botschaft mitbringen zu können.“
Es war ein schwerzvoller Abschied, den die beiden nahmen.
Endlich riss sich Hans gewaltsam los, schwang sich auf sein Pferd und sprengte an der Spitze seiner Reiter zum Tore hinaus, um die nach Westen führende Straße zu gewinnen.
Käthe warf sich schluchzend in die Arme der Mutter, die ihr tröstend über den blonden Scheitel strich.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da stürzte Anna,
die mit den beiden Mägden vom Felde heimkehrte und unterwegs erfahren hatte, was sich im elterlichen Hause zugetragen,
mit dem Rufe in den Schulzenhof:
„Coswig brennt!“
Christoph stieg sogleich auf den Hausboden, um Umschau zu halten. Da sah er im Westen hinter dem Walde dicke schwarze Rauchwolken aufsteigen, zwischen die sich immer zahlreicher sprühende Flammengarben mischten. Gleichzeitig vernahm sein scharfes Ohr in einiger Entfernung den Knall von Schüssen.
Mit Bangen dachte er an Hans; es war sehr wohl möglich, ja,
sogar wahrscheinlich, dass dieser mit seiner kleinen Schar auf
die Feinde gestoßen war, die gewiss auch den Brand von Coswig
auf dem Gewissen hatten. Er hütete sich jedoch, seine Befürchtungen den Seinen gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
Aber seine Fürsorge war umsonst. Plötzlich jagte einer der kurfürstlichen Reiter die Dorfstraße entlang und in den Schulzenhof hinein. Sein Pferd war mit Schaum und Schweiß bedeckt, und die Flanken flogen. Dem Reiter hingen die Haare wirr um die Stirn,
und aus einer Wunde an der linken Schläfe rann das Blut.
„Die Mordbrenner, die Spanier,“ rief er, „haben uns aus dem Hinterhalt überfallen. Unser Führer ist gefallen!“
Ein markerschütternder Schrei durchschnitt die Luft.
Ohnmächtig lag Käthe in den Armen des Bruders.
Während man sie ins Haus trug und sich um sie mühte, erzählte
der Reiter:
„Wir waren bis dicht hinter Griebo gekommen, da trat uns bei einer Wegbiegung mitten im Walde plötzlich eine Schar Spanier entgegen, die offenbar auf Raub umherschwärmten. Obgleich sie uns an Zahl überlegen waren, griffen wir sie doch sogleich scharf an, und es wäre uns auch wohl gelungen, uns durchzuhauen, wenn man uns nicht auch noch im Rücken angegriffen hätte. Ein Teil des Raubgesindels hatte uns umgangen. Nun, wir habens Ihnen heimgezahlt, und mancher von ihnen hat ins Gras beißen müssen.
Zumal unser Junker focht wie ein Löwe und hieb alles nieder, was ihm vor die Klinge kam. Aber freilich gegen die Übermacht konnten wir uns nicht halten, und unsere Schar wurde immer kleiner.
Als nun zuletzt auch noch der Junker vom Pferde gehauen wurde,
da war es mit unserem Widerstande vorbei, und jeder suchte sich
zu retten. Da gab auch ich meinem Fuchs die Sporen, und ehe auch die spanischen Halunken recht begriffen, brach ich durch, und es gelang mir, ihnen im Walde zu entwischen.
Aber “ setzte er hinzu „gibt mir ein Versteck, denn es wäre immerhin möglich, dass mich diese elende Brut verfolgt, wenn ich es auch nicht glaube…“
Christoph führte ihn in die Kammer der Knechte, und Anna
brachte Wasser und Leinen, womit sie ihm die Wunde verband.
Käthe erwacht aus ihrer Ohnmacht, aber sogleich trat ihr das Furchtbare, was geschehen war, wieder vor die Seele.
„Hans, mein armer Hans ist tot!“ Beklagte sie.
„Oder“, setzte sie nach einigem Besinnen hinzu, „vielleicht ist er
gar nicht tot und liegt nun mit seinen schweren Wunden im
Walde und muss qualvoll sterben, weil ihm niemand zur Hilfe kommt.“ Flehend blickte sie im Kreise umher.
Christoph verstand diesem Blick, der ihn bis ins innerste Herz erschütterte. „Sei ruhig, Schwester,“ antwortete er.
„Ich gehe, um dir Gewissheit zu bringen. Vielleicht ist‘s gar nicht
so schlimm, wie der Reiter gesagt hat; er kann sich getäuscht
haben, und wir dürfen hoffen, dass Hans noch lebt.“
Die Eltern wollten ihn zurückhalten, indem sie auf die Gefahren hingewiesen, die ihm von Seiten der umherschweifenden Spanier drohten.
„Ich werde ihnen nicht in die Arme laufen und ihnen zu entgehen wissen. Aber Käthe muss Gewissheit haben, sonst hat sie keine ruhige Minute mehr und ich auch nicht.
Und wenn ich nicht gehe, so wird Käthe, wie ich sie bei ihrer
großen Liebe zu dem Junker kenne, sich selbst aufmachen und
nach ihm suchen.“
Er ließ sich von dem Reiter noch einmal genau den Ort bezeichnen, wo der Zusammenstoß erfolgt war, und machte sich auf den Weg. Aufmerksam nach allen Seiten spähend ging er vorwärts.
Noch immer wälzten sich von dem brennenden Coswig her
schwere Brandwolken durch die Luft. Er brauchte nicht lange
zu suchen; der zerstampfte Boden und geknickte Sträucher kennzeichneten die Kampfstelle. Dicht am Wegrande lagen in einiger Entfernung voneinander vier kursächsische Reiter.
Sie trugen sämtlich schwere Wunden und waren ihrer Waffen
und Kleider beraubt.
„Elendes Raubgesindel!“ Murmelte Christoph ingrimmig.
Er sah den Toten in das bleiche oft schmerzverzogene und von geronnenem Blut bedeckte Gesicht, aus dem die Augen wie anklagend zum Himmel starten. Eiskalt überlief es ihn bei
diesem Anblick. Von den Spaniern war nichts zu sehen; sie mussten wohl ihre Toten und Verwundeten mit sich genommen haben.
Aber auch von Hans konnte er nichts entdecken. Der Jüngling zwang sein Grauen und drang tiefer in den dämmernden Wald ein, der hier mit dichtem Unterholz bestanden war. Wiederholt teilte er die Büsche auseinander, ohne etwas Anderes zu schauen als zerwühlten Erdboden und niedergebrochenen Zweige, die Zeugnis gaben von dem erbitterten Kampfe, der hier vor kurzem stattgefunden hatte.
Plötzlich stockte sein Fuß. Ihm war, als habe er in der Nähe ein leises Stöhnen vernommen. Angestrengt lauschte er…
Da war er wieder, dieser Schmerzenslaut.
In fieberhafter Erregung drang er in der Richtung weiter vor.
Er achtete es nicht, dass ihm die Dornen Kleider, Hände und Wangen ritzten. Da, als er einen Busch zur Seite bog, sah er eine Gestalt liegen, in der er sofort den Junker erkannte.
Sein Gesicht war bleich wie das eines Toten. Von der Schädeldecke herab bis über die Stirn klaffte eine tiefe Wunde, aus der noch immer der rote Lebensstrom sickerte.
Mit einem Wehelaut sank der Bursche an der Seite des Freundes nieder. Dann legte er sein Ohr in die Gegend des Herzens.
Noch klopfte dieses wenn auch schwach, und auch die Brust hob sich kaum merklich.
„Gottlob, er lebt!“ rief er jubelnd und erschrak vor dem Klang der eigenen Stimme. Aber was nun? Schnelle Hilfe tat not. Nach Bollensdorf war es zu weit, aber Griebo war nahe, und er hatte
dort gute Freunde, die ihm ihre Hilfe nicht verweigern würden.
So schnell in die Füße tragen wollten, eilte er dem Dorfe zu.
Mit kurzen Worten verständigte er jene. Man wusste in Griebo schon von dem blutigen Zusammentreffen, aber aus Furcht vor
den rohen Spaniern hatte sich niemand aus dem Hause gewagt;
jetzt aber war man sofort bereit, zu helfen.
Die Frauen brachten Verband Leinen und Decken herbei, und
vier junge Männer begleiteten Christoph in den Wald zurück.
Aus einigen jungen Kiefernstämmchen stellte man eine Tragbahre her. Auf diese hob man behutsam den Verwundeten, nachdem man ihm die Stirnwunde verbunden. Er stöhnte bei der Berührung leise, ohne jedoch aus seiner Betäubung zu erwachen.
Es war ein trauriger Zug, der sich aus dem Walde nach Bollensdorf zu bewegte.
Im Schulzenhof war man über das lange Ausbleiben des Sohnes in großer Sorge; immer wieder schaute Käthe Angst erfüllt die Dorfstraße hinab. Jetzt bogen die Träger mit ihrer Last um die Ecke. Sie schritten sehr langsam und vorsichtig.
Dem Mädchen am Tore krampfte sich das Herz zusammen; sie konnte keinen Schritt tun; die Füße versagten ihr den Dienst, und alle ihre Glieder zitterten.
Der ernste Zug war herangekommen. Mit einem qualvollen Aufschrei warf sich Käthe über den Geliebten und schaute in
sein totenblasses Gesicht, in dem die Augen geschlossen waren.
„Er ist tot! Mein Hans ist tot!“
Gellte ihr herzzerreißender Schrei über den stillen Hof.
Der Bruder zog sie sanft von der Bahre fort.
„Still, Käthe; er lebt, er ist nur ohnmächtig. Aber du musst ruhig sein, sonst verschlimmerst du seinen Zustand. Also, liebe Schwester, zeige dich tapfer; dein Hans wird wieder gesund.“
Die übrigen Bewohner des Schulzenhofes waren herangetreten;
sie standen alle tief erschüttert an der Bahre und schauten in das bleiche Gesicht des Junkers, der erst vor so kurzer Zeit frisch und lebensfroh von ihnen geschieden war.
„Hier muss schnell ein Arzt aus Wittenberg geholt werden“,
sprach der Schulze ernst.

Christoph war sofort dazu bereit und spannte eilig den Wagen an. Und während man den Verwundeten ins Haus trug und sorgsam bettete, jagt er schon aus dem Hofe der Stadt zu. So schnell waren die beiden Pferde noch nie gelaufen, und sie waren sehr erschrocken, dass ihr junger Herr heute sogar die Peitsche gebrauchte, was er sonst nie tat….
Als Doktor Neefe ankam, war der Kranke noch immer bewusstlos. Er untersuchte ihn eingehend, und seine Miene wurde sehr ernst.
In angstvoller Spannung las Käthe in seinem Gesicht.
„Herr Doktor, ist es schlimm?“ fragte sie mit bebender Stimme.
„Die Wunde ist allerdings recht schwer. Der Säbel ist tief gegangen und hat die Schädeldecke verletzt.“
Käthe stöhnte tief auf.
„Nun, nun“, setzte der Arzt mit einem mitleidigen Blick auf das blasse, zitternde Mädchen hinzu,
„wir wollen deshalb die Hoffnung nicht aufgeben.
Er hat eine kräftige Natur, die schon einen Puff aushält.“
„Lieber Herr Doktor, rettet ihn …  rettet ihn! Ich habe ihn ja so lieb.“
Der alte Arzt lächelte milde. „Ich weiß Jungfer Käthe … ich weiß; Christoph hat mir alles erzählt. Was ich tun kann, wird geschehen,
und Gott wird mir beistehen. Wäre ja auch zu schade um solch junges edles Blut.“
Er legte den Verwundeten einen kunstgerechten Verband an und gab die notwendigen Verhaltungsmaßregeln.
„Ruhe,“ mahnte er, „vor allen Dingen tiefste Ruhe.“
Käthe wich nicht vom Lager des Geliebten, wenn auch die Ihrigen
in sie drangen, für einige Stunden zu ruhen. „Später,“ gab sie zur Antwort, „später vielleicht.“ Ihr Herz krampfte sich zusammen in Angst und Schmerz, aber unermüdlich erneuerte sie die kühlenden Umschläge auf seiner Stirn und lauschte beklommen auf jeden seiner Atemzüge. Sie gingen noch sehr schwach, und dem bebenden Mädchen schien es wiederholt, als wollten sie ganz aussetzen und das schwache Lebensflämmchen ganz erlöschen.
„Guter, barmherziger Gott im Himmel,“ flehte sie händeringend,
„erhalte ihn mir und zerstöre nicht unser junges, schönes Glück!“
Sie sank am Bett in die Knie und fand endlich die mildernden Tränen.

Still und weichgeisterte draußen die Nacht. Wie Silber tropfte
das Mondlicht über Laub und Blüten. Leise flüsterten die Blätter
in der Linden Frühlingsluft, und aus der Ferne tönte das Zirpen
der Feldgrillen zuweilen ununterbrochen von dem aufdringlichen Quaken der Frösche im nahen Teich. Dorf und Flur ruhten in tiefem Frieden, als wüssten sie nichts von dem Kampfe, der vor kurzem hier Menschen gegen Menschen wüten ließ, auch nichts von dem Kampfe, in welchem dort im Schulzenhofe, wo das stille Lichtlein durch die Dunkelheit schimmerte, um ein junges Menschenleben gerungen wurde. Im Westen über der Stadt Coswig erlosch der letzte Schein des Brandes, den friedlose, habgierige Menschen entfesselt hatten.
Adam Jendricke, der alte Nachtwächter, trat seinen Rundgang
durch das Dorf an. Zum Zeichen seiner Wachsamkeit stieß er
ins Horn und sang in seiner eintönigen Weise:

„Hört, ihr Herrn, und lasst euch sagen,
die Glocke, die hat elf geschlagen.
Bewahrt das Feuer und das Licht,
das dem Dorfe kein Schaden geschieht.
Lobt Gott, den Herrn!“ 

   Auf einmal regte sich der Kranke leise. Langsam, wie aus einem langen, schweren Traum erwachend, hoben sich die Augenlider,
und seine Blicke irrten verwundert in der fremden Umgebung umher. Käthe stand regungslos; ein namenloses Gefühl der
Freude wallte in ihr auf.
„Wo bin ich?“ flüsterte er.
Da konnte sie sich nicht halten; sie sank an seinem Bett nieder
und bedeckte seine Hand mit heißen Küssen.
„Hans, mein geliebter Hans!… Bei mir bist du,“ stammelte sie freudetrunken…, „bei deiner Käthe.“
Ein glückseliges Lächeln flog über sein blasses Gesicht.
„Bei meiner Käthe… Dann ist´s gut.“
Und wieder schlossen sich die Lieder, aber sie fühlte zu ihrer Beruhigung, das jetzt sein Atem stärker und ruhiger ging.
Um Mitternacht trat das vom Arzt vorausgesagte Wundfieber ein. Die vordem so bleiche Stirn rötete sich, und die Pulse flogen.
Käthe verdoppelte ihre Bemühungen und legte in immer kürzeren Pausen die in kaltes Wasser getauchten Tücher auf.
Der Kranke fing an zu sprechen, kurze, unzusammenhängende Worte und Sätze, aber sie verrieten deutlich, welche Bilder vor seiner Seele standen. Bald sprach er mit seinem Fürsten, dann wieder kamen Befehlsworte aus seinem Munde. Am meisten aber trat der Name der Geliebten auf seinen Lippen, und aus den geflüsterten Liebesworten erkannte das Mädchen die tiefe Liebe des Jünglings, die sie bei aller Sorge und zitterndem Bangen doch mit jubelnde Seligkeit erfüllte. Dann aber schlug er mit der Rechten um sich, als wenn er zum Streiche ausholte.
Sie fasste dann seine Hände mit starkem Druck, und diese Berührung übte eine wunderbar beruhigende Wirkung auf ihn aus.
Die Mutter trat ins Zimmer. Ein Blick auf den Kranken zeigte ihr dessen Zustand. Besorgt sah sie der Tochter in das blasse überwachte Gesicht.
„Käthe,“ flüsterte sie, „lege dich ein wenig nieder; du brichst uns sonst zusammen. Ich werde wachen. Helfen kannst du jedoch nicht; das muss Gott im Himmel tun.“
Das Mädchen umschlang weinend die Mutter.
„Ach Mutter, liebe Mutter!“
Sie strich ihrem Kinde lind über das Haar.
„Sei stark, Käthe, hoffe und vertraue.“
„Mutter, wird er sterben?“
„Kind, so darfst du nicht sprechen. Es ist das Fieber, was ihn schüttelt; das geht vorüber. Aber komm, lege dich nieder.
Ich bleibe bei ihm.“
Sie schüttelte abwehrend den Kopf.
„Jetzt nicht, Mutter, wo es am schlimmsten ist, später.
Ich will stark sein…“ Da ließ die Mutter sie gewähren.
Beide Frauen saßen Seite an Seite am Krankenbett. Und nun in leisem Flüstertone schüttelte die Tochter der Mutter ihr Herz aus.

Sie erzählte ihr, wie der Geliebte auf dem Berge das erste Mal vor sie getreten und im Sturme ihr Herz gewonnen hatte. Sie berichtete auch von den heimlichen beseligenden Zusammenkünften droben unter der Eiche, in welche er ihre Namen geschnitten.
Der alternden Frau wurde eigen zumute. Sie gedachte an ihre eigene Jugend und an die seligen Stunden, da ihr Mann um ihre Liebe geworben hatte. In ihrem Inneren ging eine Wandlung vor sich. War das denn wirklich der rechte Glaube, für den man mit so schlechten Mitteln stritt? Der gute fromme Landesherr verraten, zum Tode verurteilt und nun in schimpflicher Haft! Und dann diese räuberischen Überfälle, dieses Morden und Sengen, dem sie und die Ihrigen beinahe selbst zum Opfer gefallen waren, wenn nicht dieser brave Jüngling noch rechtzeitig sie errettet hätte, und den dann diese Mordbrenner heimtückisch aus dem Hinterhalt überfielen und an den Rand des Grabes brachten! Und das alles unter dem Deckmantel des Glaubens!…
Sie löste die Hand aus jener der Tochter, stand leise auf und
nahm das Marienbild von der Wand und legte es in die Schublade des Tisches.
„Mutter, was tust du?“ Fragte Käthe verwundert.
„Mein Kind, ich habe eingesehen, dass ich irrte, als ich mein Herz gegen Luthers Lehre verschloss. Wenn der fremde Kaiser und seine Horden mit solchem Hass und solcher Grausamkeit im Lande wüten, dann können Sie nimmermehr für den rechten Glauben streiten.“
In tiefer Rührung schloss die Tochter die Mutter in die Arme.
„Ach Mutter, liebste Mutter, wie glücklich macht mich das! Nun trennt unsere Herzen nichts mehr, und gemeinsam wollen wir das Schwere tragen.“
Es war ein heiliger Augenblick, in dem der Engel Gottes durch das stille Zimmer schritt.
Gegen Morgen wurde der Kranke ruhiger; das Fieber ließ nach.
Auf die dringende Bitte der Mutter ließ sich Käthe bewegen,
sich niederzulegen. Die Natur forderte nach all den Aufregungen des vergangenen Tages ihr Recht, und bald umfing den jungen Leib ein tiefer Schlaf.
Die Morgensonne schien hell und freundlich in die Kammer, als Käthe erwachte. Sie erschrak, als sie bemerkte, dass der Morgen schon so weit fortgeschritten war. Schnell kleidete sie sich an und betrat das Krankenzimmer.
Die Mutter kam ihr entgegen und legte den Finger an die Lippen. „Still… er schläft.“
Käthe ließ sich auf dem Stuhl am Bette nieder, während die Mutter ging, um ihren Hausfrauenpflichten nachzukommen.
Lange schaute das Mädchen dem Geliebten in das Gesicht, dass nach dem Schwinden der Fieberröte im Tageslicht nur umso
bleicher erschien, und tiefes Weh griff ihr ans Herz.
Der Kranke regte sich und öffnete die Augen. Ein Strahl der Freude drang daraus hervor, als er das geliebte Mädchen an seiner Seite sah. „Käthe, du… Was…was ist mit mir geschehen… Wie bin ich hierher gekommen?“
„Still, still, Geliebter! Ich will dir alles erklären – aber später.
Jetzt aber musst du ganz ruhig sein. Doktor Neefe hat es streng befohlen.“
„Ach so… ich weiß… wir wurden aus dem Hinterhalt überfallen… Oh diese feige Räuberbande!“
„Still, mein lieber Hans! Die Aufregung schadet dir, und der Dr. hat dir größte Ruhe befohlen. Wenn du nicht folgst, gehe ich fort.“
Er lächelte glückselig.
„Dann muss ich freilich gehorchen. Aber um einen Trunk darf
ich dich doch bitten.“
Wie gern erfüllte sie seinen Wunsch. Sie brachte ihm ein großes Glas warme Milch, die er mit durstigen Zügen trank.
„Das tat wohl,“ sprach er  „Habe Dank, du Liebe, Gute.“
Er hielt ihre Hand fest und lag dann still, indem er glücklich
und sinnend vor sich hinblickte.
So fand die Beiden Doktor Neefe. Er lächelte ihnen freundlich zu. Nachdem er die Wunde geschaut, den Verband erneuert und den Puls des Kranken geprüft hatte, nickte er befriedigt.
„Gott Lob,“ sprach er, ich denke, das Schlimmste wäre überstanden. Nun freilich,“ fügte er mit einem neckischen Blick auf Käthe hinzu, die unter diesem Blick leicht errötete, „vor einer solchen Pflegerin mit solcher Medizin muss der Sensenmann Reißaus nehmen.
Aber,“ setzte er ernster hinzu, „noch sind wir nicht außer aller Gefahr; der Blutverlust war sehr groß, und der Hieb ging tief, noch eine Kleinigkeit tiefer, und alle unsere Mühe wäre umsonst gewesen. Also, Herr Junker, hübsch still liegen, nicht aufregen, nicht viel schwatzen; Ruhe und abermals Ruhe. Das ist neben der Liebe und Sorgfalt dieser schönsten aller Krankenpflegerinnen das beste Heilmittel…“

Die Genesung des Junkers macht langsam aber stetige Fortschritte. Noch musste er auf Anordnung des Arztes das Bett hüten, und bei dem erlittenen starken Blutverluste kehrten die Kräfte nur allmählich wieder, aber dank der sorgfältigen Pflege ging es doch vorwärts.
Wiederholt hatte Hans den Wunsch geäußert, den Seinen Nachricht zukommen zu lassen, die lange nichts von ihm vernommen und deshalb in großer Sorge um ihn sein würden. Christoph erklärte sich im Einverständnis mit den Eltern bereit,
ihm diesen Liebesdienst zu leisten. Als aber der kursächsische Reiter, der noch immer in der Verkleidung eines Bauernknechtes im Schulzenhof weilte und sich als solcher nützlich machte, davon vernahm, bat er, ihm diesen Auftrag zu überlassen, zumal er ohnehin über Gröna nach Hause reiten wollte. Er berichtete und Hans bestätigte es, dass er der älteste Sohn eines wohlhabenden Bauern
aus dem Dorf Ilberstedt bei Bernburg sei. Als Fürst Wolfgang gerufen, da war auch er ausgezogen, um für die Sache des Evangeliums zu streiten. Nun aber wollte er nichts mehr vom Kriege wissen; er hatte genug von seinen Schrecken. Nach seiner Heimkehr wollte er das väterliche Gut übernehmen, da die Eltern schon alt
und die Mutter noch dazu kränklich war.
„Dazu brauche ich freilich eine Bäuerin,“ sagte er zu Anna, als er am Abend vor seiner Abreise mit ihr unter dem Fliederbaume vor dem Tore stand.
„Die werdet Ihr doch wohl schon lange gewählt haben,“ gab sie zur Antwort, und eine leise Traurigkeit zitterte durch ihre Stimme.
„Gewählt habe ich freilich, aber noch nicht lange, erst seit wenigen Tagen.“
Eine Blutwelle schoss dem Mädchen ins Gesicht, und vor seinem forschenden Blick schlug sie die Augen nieder.
„Jungfer Anna,“ fuhr er fort, indem er ihre Hand ergriff,
„wenn ich nun käme und fragte: Wollt ihr meine Bäuerin sein? würdet ihr mir antworten?“  Sie hauchte ein leises „Ja!“
Und barg das Haupt glückselig an seine Brust.
Im Schatten des Torweges stand noch lange eng umschlungen ein glückliches Paar und flüsterte zärtliche Liebesworte, während vom Nachthimmel droben die funkelnden Sterne auf sie niederschauten.

Vier Tage später hielt vor dem Schulzenhofe ein bequemer Reisewagen, dem ein stattlicher Mann und eine Frau in gewählter Kleidung entstiegen. Es waren die Eltern des Junkers, welche auf
die Nachricht von der schweren Verwundung des Sohnes herbei gekommen waren. Der Bote hatte Ihnen über alles eingehend berichtet.
Das stattliche Gehöft mit dem geräumigen Wohnhause und den
lang gestreckten Nebengebäuden verfehlte seinen Eindruck auf
die Ankommenden nicht, und die freimütige, herzliche Art, mit welcher der Schulze und seine Frau die beiden Gäste begrüßte, gefiel diesen gar wohl.
Als nun Käthe herzutrat und Ihnen in holder Verwirrung die Hand zum Gruße bot, da ruhten beider Augen überrascht und mit Wohlgefallen auf der anmutigen Gestalt des Mädchens.
„Der Junge hat wahrhaftig keinen schlechten Geschmack,“
flüsterte Ritter von Thymen seiner Gattin zu, die beistimmend
mit dem Kopfe nickte. Sie traten in das Krankenzimmer.
Freudestrahlend streckte Hans den Eltern beide Hände entgegen. Mit schmerzlicher Bewegung sahen sie in sein blasses, abgezehrtes Gesicht, welches der Verband, der Kopf und Stirn bedeckte, noch schmaler erscheinen ließ.
Mit Tränen in den Augen neigte sich die Mutter zu dem Sohne
nieder und küsste ihn.
„Nicht traurig sein, liebste Mutter,“ sprach er, indem er ihr zärtlich die Hände streichelte.
„Mir geht es ja schon wieder ganz gut. Die Schmarre da, die mir
der elende Spanier gehauen, wird bald wieder heilen.“
Man hat die drei allein gelassen; niemand sollte das Wiedersehen zwischen den Eltern und Sohn stören.
Diese hatten sich niedergelassen, und nach einigen beiderseitigen Fragen begann Hans, seine Erlebnisse zu berichten.
Nach einer Weile trat Käthe ins Zimmer mit einer Erfrischung für
die Gäste. Sie sah den Geliebten bittend an und legte den Finger
an die Lippen. „Ich bitte um Verzeihung,“ sprach sie schüchtern, „aber der Arzt hat dem Junker“, sie wagte in Gegenwart der Eltern nicht, seinen Vornamen zu gebrauchen „jede Aufregung und Anstrengung und auch zu vieles sprechen verboten,
und es uns auf die Seele gebunden.“
„Da seht Ihr, was für eine strenge Krankenwärterin ich habe,“
sprach dieser lächelnd.
„Und das ist gut so,“ antwortete der Vater.
„Dafür gebührt der Jungfer Käthe nur Dank. Unser wilder Junge wird wohl ohnehin ein recht ungebärdiger Kranker sein.“
„Oh nein, Herr Ritter,“ verteidigte sie ihn, „der Junker war immer recht folgsam.“
„Wie gefällt euch meine Käthe,“ fragte er, als diese das Zimmer wieder verlassen hatte, und seine Augen ruhten voll Spannung
auf den Eltern.
„Willst du unser Urteil so bald haben?“ fragte der Ritter lächelnd.
„Ja, Vater.“
„Nun denn, es scheint ein recht vortreffliches Mädchen zu sein.“
Vater, Mutter, Ihr wisst, wie wir uns lieben. Darf ich hoffen, dass Euch meine Käthe als Tochter willkommen ist?“
„Mein Sohn, bedenke, sie ist nicht unseres Standes.“
„Sie würde selbst einen Fürstenthron zieren.“
„Das meinen alle Verliebten.“
„Vater, Mutter, wenn sie und ihr Bruder Christoph nicht gewesen wären, so lebte Euer Sohn nicht mehr.“
Die Mutter strich ihm besorgt über die schmalen Wangen.
„Hans, mein lieber Sohn, du darfst dich nicht aufregen;
es schadet dir. Werde nur erst wieder ganz gesund, dann lässt
sich weiter darüber reden. Für jetzt mags dir genügen, dass uns
das brave Mädchen gar wohl gefällt, und dass wir nicht vergessen werden, was sie an dir getan hat.“
„So muss ich mich für heute bescheiden,“ antwortete er seufzend. „Aber da ich nicht sprechen soll, so bitte ich Euch, mir zu berichten, wie es daheim steht. Wo weilt unser guter Fürst Wolfgang?“
Die Stirn des Ritters umwölkte sich, und ein tiefer Seufzer stieg aus seiner Brust.
„Der arme Herr,“ begann er, „hat sein Land verlassen müssen,
dass der Kaiser seinem Oberstallmeister, dem Grafen Ladron, gegeben hat. Nachdem dessen spanische Horden Coswig verbrannt, besetzten sie Köthen und zogen gegen Bernburg, wohin Fürst Wolfgang sich nach dem Unglück von Mühlberg begeben hatte.
Um seiner Stadt die Schrecken und Leiden einer Belagerung zu ersparen, entschloss sich der edle fromme Herr, diese zu verlassen. Nachdem er aus dem Schlosse geritten war, hielt er auf dem Marktplatz das Ross an und sprach zu den versammelten Bürgern, indem er sie ermahnte, fest am Heiligen Evangelium zu halten.
Dann entblößte er das Haupt und stimmte mit lauter Stimme unseres Doktor Luthers herrliches Glaubenslied an:

„Ein feste Burg ist unser Gott.“

   Wir alle vergaßen unser tiefes Weh und stimmten in das Lied ein, das hundertfach, recht wie ein Siegesgesang zum Himmel emporstieg. Uns allen war, als hätten wir nicht einen Abschied, sondern einen Sieg gefeiert. Fürst Wolfgang aber ritt hocherhobenen Hauptes zum Tore hinaus, nicht wie ein Flüchtling, sondern als ein rechter Glaubensstreiter und Siegesheld…
Da die Kaiserlichen ihm nachstellten, so verbarg sich unser Herr zunächst als Müller verkleidet in der Mühle von Chörau bei Aken,
bis die Feinde wieder abgezogen waren. Wie ich aber gestern erfahren, weilt er seit zwei Tagen nunmehr im Kloster Gernrode, dessen Äbtissin seiner Schwester Tochter ist…“

In das Gesicht des Junkers war ein weher, tiefernster Zug getreten. „Der arme liebe Herr,“ sprach er leise vor sich hin,
„wer hätte das geglaubt, da wir noch vor wenigen Monden so
frisch und hoffnungsfroh nach dem Süden ritten!“

Die Eltern hätten Hans gern mit sich nach der Heimat genommen, aber dem widersetzte sich Doktor Neefe ganz entschieden:
„die geringste Erschütterung und der kleinste Stoß kann ihm gefährlich werden, auch beim besten Wagen ist solches nicht zu vermeiden. Also, Herr von Thymen, lasst ihn hier, bis er die Reise ohne Bedenken wagen darf. Und eine bessere Pflegerin wie die Jungfer Käthe findet ihr für ihn nicht. Wenn ich die nicht gehabt hätte, wahrhaftig, ich weiß nicht ob meine ärztliche Kunst etwas genützt hätte und der Junker mit dem Leben davongekommen
wäre oder doch ohne schweren und dauernden Schaden an seiner Gesundheit. Dieser spanische Halunke hat eine kräftige Klinge geschlagen, und dazu der Sturz vom Pferde, wahrlich, Herr Ritter,
es sah sehr böse aus, und Ihr seid dem braven Mädchen viel Dank schuldig; sie hat sicher Übermenschliches in diesen Tagen geleistet. Von den Übrigen im Hause brauche ich euch nichts zu sagen; ihr werdet es selbst gesehen haben, in welch treuer Hut Euer Sohn
hier ist.“
Die Eltern mussten dem erfahrenen ehrlichen Arzt Recht geben,
und so wurde dann verabredet, dass Hans bleiben solle, bis sein Zustand die Reise gestattete.
Bis zum Mittag des nächsten Tages blieben der Ritter und seine Gattin im Schulzenhof. Gäbler und seine Frau baten beide
dringend, doch noch länger zu bleiben, aber jener wehrte ab:
„so gern wir auch bleiben würden, es geht nicht.
In diesen unruhigen Zeiten bedarf Haus und Hof doppelt des
Herrn und der Herrin, das wisst ihr selbst. Wir wissen ja auch,
dass unser Kind bei Euch gut aufgehoben ist. Wir sind Euch und
den Eueren, besonders Eurer Tochter Käthe und dem Sohne zu großem Dank verpflichtet, und seid versichert, wir werden das
nicht vergessen.“
Noch einmal saßen die Eltern an der Seite des Sohnes.
Dieser ergriff ihre Hände.
„Lieber Vater, liebe Mutter,“ sprach er mit bewegter Stimme, „ihr geht nun wieder fort. Wollt Ihr mich in Ungewissheit zurücklassen? Ihr habt es gehört, ich danke der Käthe mein Leben. Wie innig wir uns lieben, das wisst Ihr. Ich kann und werde nicht von ihr lassen, möge kommen, was da will. Wollt ihr unser schönes Stück
zerstören und Euer Kind unglücklich machen?
Nein, das werdet ihr nicht wollen…“
Herr von Thymen sah seine Frau an.
„Mutter, was machen wir mit dem Schlingel da?“
In den Augen der Mutter schimmerte es feucht.
„Hermann,“ sprach sie leise, „denkst du noch daran,
wie du um mich warbst?“
„Nun gut,“ antwortete er, „so sei es.“
Er erhob sich und ging zur Tür.
„Käthe,“ rief er hinaus, „Jungfer Käthe!“
Die Gerufene erschien. Ihr Gesicht war in Glut getaucht,
und das Herz ging in stürmischen Schlägen; sie ahnte,
dass die Stunde gekommen war, die über ihr Glück entschied.
Der Ritter nahm ihre Hand und führte sie zum Sohne.
„Dieser Schlingel hier behauptet, dass er ohne seine treue
Pflegerin nicht leben könne und will sie unbedingt zur Frau
haben. Was sagt denn die Jungfer Käthe dazu?“
Das Mädchen stand da in holder Verwirrung.
„Ich… ich…“ stammelte sie wie ein verschüchtertes Vöglein,
„ich habe Ihn ja so lieb.“
Die Mutter schloss die Schluchzende, aus deren Augen die
Tränen des Glücks perlten, in ihre Arme und küsste die
rosigen bebenden Lippen.
„Nun denn,“ sprach der Ritter mit bewegter Stimme,
„so werdet recht glücklich miteinander, und Gott segne Euch, meine lieben Kinder… Eine Prüfung freilich,“ fuhr er fort, „muss ich Euch noch auferlegen. Erst muss wieder Frieden und Ruhe im Lande werden und das Schicksal unseres unglücklichen Fürsten entschieden sein, ehe Ihr vor den Altar tretet.“

Glück und Freude bewiesen sich auch an Hans als das beste Heilmittel. Er fühlte, wie ihm von Tag zu Tag die Kräfte immer mehr wiederkehrten, und schon färbte eine leichte Röte die bisher so bleichen Wangen, das sicherste Zeichen der Gesundung. Doktor Neefe hatte ihm erlaubt, das Zimmer zu verlassen und kürzere Spaziergänge zu unternehmen, auf denen ihn die glückstrahlende Käthe und zuweilen auch Christoph oder die Schwester Anna begleiteten. Der brave Doktor ließ es sich nicht nehmen, bei seiner Anwesenheit im Dorfe oder im benachbarten Griebo im Schulzenhof vorzusprechen, wo er immer mit großer Herzlichkeit begrüßt wurde. Mit unverhohlener Freude schaute er auf das Glück des jungen Paares, an dem er sich auch seinen Anteil zuschrieb, und Käthe musste sich manche Neckerei von ihm gefallen lassen.
Er war es auch, der ihnen Nachrichten von den Vorgängen in der Welt draußen brachte. So erfuhr man denn auch von ihm, dass es Fürst Wolfgang von Anhalt gelungen sei, mit schweren Geldopfern zwar und unter Mithilfe seiner Dessauer Vettern, sein Land zurückzugewinnen, und dass er bereits wieder unter dem Jubel seiner Landeskinder Einzug im Bernburg Schlosse gehalten habe. Ein Brief des Vaters bestätigte Hans die frohe Kunde, die sein Herz mit umso größerer Freude erfüllte, weil damit der Tag der dauernden Vereinigung mit der Geliebten nahe gerückt war. Gleichzeitig teilte ihm Vater mit, dass in einigen Tagen ein Wagen kommen werde, um ihn heimzuholen. Er möge sich also bereithalten. Alles Weitere wolle man mündlich ordnen.
So sehr nun auch Käthe die Freude des geliebten Mannes teilte, so war jedoch der Gedanke an seinen Fortgang sehr schmerzlich.
„Liebste, es ist ja nur auf kurze Zeit,“ tröstete er sie.
„Bald komme ich wieder, um dich für immer zu mir zu holen, und dann soll uns nichts mehr trennen…“
Die Rosen im Garten des Schulzenhofes glühten purpurrot, und aus der breitästigen Dorflinde strömten Duftwellen durch die Straße, als eines Tages der Thymensche Reisewagen in den Schulzenhof einfuhr. Kaum hielt er, als aus seinem Innern leichtfüßig ein junges Mädchen sprang und Hans, der herbeigeeilt war, stürmisch um den Hals fiel.
„Ursel, wilde Hummel,“ rief er lachend, „du würgst mich ja!…
Aber – lass mal sehen,“ setzte er hinzu, indem er auf Armeslänge die junge Schwester von sich hielt und ihre schlanke Gestalt betrachtete.
„Hübsch bist du geworden, das muss wahr sein, und auch
gewachsen bist du, seitdem ich dich nicht gesehen habe,
beinahe ein Edelfräulein.“
„Beinahe, bloß beinahe?… Oh mein Herr Bruder, ich muss doch
sehr bitten, mich ganz als solches zu achten.“
„Na, betragen tust du dich nicht immer danach,“ sprach jetzt der Vater, der mittlerweile auch ausgestiegen war und den Sohn mit inniger Freude begrüßte.
„Sie ließ sich nicht davon abbringen, mitzukommen, um dich abzuholen.“
„Da siehst du, Brüderlein, wie groß meine Sehnsucht war.“
„Oder die Neugier,“ neckte dieser.
„Na ja, selbstverständlich war ich dabei auch ein wenig neugierig,
die Erwählte deines Herzens kennen zu lernen, zumal der Vater
sie mir immer als Muster vorgehalten hat.“
„Womit er freilich sehr unrecht tat,“ sprach Käthe, die hinzugetreten war und die letzten Worte gehört hatte.

„Ach, das ist sie!“ rief Ursula und fiel ihr ohne Umstände um den Hals. „Nicht wahr, Käthe, wir wollen gute Freundschaft halten?“ Diese nickte ihr glückselig lächelnd zu.
Auch die Begrüßung der übrigen Familienglieder war von Ursulas Seite sehr lebhaft und herzlich, wenn auch nicht so stürmisch.
Bald nach der Ankunft nahm sie Anna beiseite.
„Ich soll viele herzliche Grüße bestellen von einem, der große Sehnsucht hat. Er wäre gern selbst mitgekommen, aber die Feldarbeiten ließen ihn nicht los. Doch das wird alles in dem Briefchen stehen, was er mir mit gab was eigentlich schon kein Briefchen mehr ist, sondern ein ziemlich gewichtiges Schriftstück.“ Damit drückte sie dem Mädchen das Schreiben in die Hand.
Drei Tage ließen sich die willkommenen Gäste im Schulzenhofe halten, wenngleich Ursula gern noch länger geblieben wäre. Während die beiden Väter sich über die Zeitereignisse unterhielten oder Felder und Wiesen besichtigten, unternahm das Brautpaar in Ursulas Begleitung längere oder kürzere Streifzüge in die Umgebung. Sooft er es ermöglichen konnte, nahm auch Christoph daran teil, der sich dann an das muntere junge Mädchen anschloss, aber immer Mühe hatte, sich der Neckereien der Übermütigen zu erwehren, die ihm jedoch sichtlich unangenehm waren.
Auch der Stadt Wittenberg statteten die Drei in Begleitung des Ritters einen Besuch ab, und mit Genugtuung vernahm letzterer, dass der neue Kurfürst Moritz sich das Wohl der Stadt und ihrer Hochschule sehr angelegen sein ließ, und dass die Bewohner des Kurfürstentums durch nichts in ihrem Glauben behindert würden.
In tiefer Bewegung standen sie in der Schlosskirche an Luthers Grab. „Was haben wir diesem großen Propheten nicht alles zu verdanken!“ sprach der Ritter.
„Es ist in Deutschland kein Held größer als er, keiner, indem sich die Kraft des deutschen Wesens so ausgeprägt hat, kein Führer unseres Volkes, dessen Worte und Taten ein so gewaltiges, begeistertes Echo gefunden haben und von dem so reichen Segenströme ausgegangen sind auch Volk und Land. Darum, meine lieben Kinder, lasset uns das heilige Erbe, was er uns hinterlassen hat, treu bewahren…“
Der Tag der Abreise war herangekommen. Hans äußerte den Wunsch mit der Geliebten noch einmal vorher nach dem Bollensberg zu gehen. Ursula war wie immer sogleich bereit, die beiden zu begleiten.
„Urselchen,“ sprach der Bruder bittend, „wir möchten Abschied nehmen von dem Ort, wo wir uns zum ersten Male sahen.“
„Ach so,“ antwortete sie lachend, „und da möchtet Ihr beide allein sein. Kann mir`s denken, dass da ein anderer überflüssig ist;
würde mir auch so gehen. Also dann lauft in Gottes Namen; nur vergesst das Wiederkommen nicht. Ich werde mich einstweilen
mit der Anna nützlich zu machen versuchen. Hoffentlich hat sie nun den Brief an ihren Herzallerliebsten fertig. Ja, ja,“ setzte sie mit einem komischen Seufzer hinzu,
„´s ist halt ein Leiden mit solch verliebten Leuten.“
Gleich darauf hörte man sie über den Hof singen:

„Unterm Machandelbaum da ist ein Platz,
Susala-Dusala, da sitzt mein Schatz.
Sitzt auf einem grünen Gras,
sitzt auf dem grünen Klee.
Hast ja die Augen nass?
Bist ja wie Milch und Schnee?
Susala-Dusala, wo tut‘s denn weh?

Kommst du so spät zurück?
Nun ist`s zu spät fürs Glück.
Kenne dich gar nicht mehr,
mir ist das Herz verquer.
Susala-Dusala, wollt, tot ich wär!

Schwarz ist das Grabeloch.
Leb doch ein Weilchen noch,
wart noch bis Sankt Kathrein,
da will ich um dich freien,
wart noch bis Sankt Martein,
da soll die Hochzeit sein. 
Susala-Dusala, gib dich darein!“

„Kindskopf,“ meinte Hans lachend.
„Lass sie nur, Liebster. Ich liebe die Ursel so wie sie ist.
Das Leben wird sie noch zeitig genug ernst machen…“
Die beiden gingen die Dorfstraße entlang und durch das taunasse Gras, in dessen grünen Samt die Blumen ihrer Pracht stickten, der Anhöhe zu. Es war noch früh am Morgen; aus den Schornsteinen der Bauernhäuser wirbelte der erste schüchterne Rauch. Sie gingen schweigend Hand in Hand; das Abschiedsweh bedrückte beiden das Herz. Nun waren die Rebpflanzungen durchschritten und der Gipfel des Berges erreicht. Zu ihren Füßen lag das Elbtal, noch von der weißen Nebeldecke eingehüllt. Aber schon erhob sich über der Stadt Wittenberg siegreich das leuchtende Tagesgestirn, begleitet von den Rosenschiffen der Morgenröte. Seine Lichtpfeile schossen um die Türme von der Kirche und Schloss und tauchten sie in leuchtenden Glanz. Vor ihrer Macht begannen die Nebelschleier zu zerreißen, und aus ihnen schwebte wie ein geheimnisvolles Märchen der Elbstrom mit seinem glitzernden Silberbande hervor.
„Wie schön ist doch die Welt!“ unterbrach Käthe das Schweigen.
„Ja, Liebste, und doppelt schön, wenn man solch liebes treues Herz an seine Brust drücken darf. Denkst du noch des Tages, da ich dich zuerst hier erblickte, so recht wie eine Maienkönigin?“
Sie schaute ihn glückselig in die Augen.
„Und was ist doch seitdem alles geschehen, wieviel Leid und auch wieviel Glück!“
„Ja, Gott hat alles zu unserm Besten gefügt.“
„Wie glücklich macht es mich auch, dass meine liebe Mutter, den Weg zur reinen Lehre gefunden hat. Weißt du noch, Hans, wie sie hier in der Kapelle in ihrer tiefen Seelennot zur Gottesmutter um Erleuchtung flehte?
„Ja; es schnitt mir damals ins Herz. Aber nun ist alles gut, und kein Schatten liegt mehr auf unserm Glück.“
„Und nun willst du heute von mir gehen,“ sprach sie gepresst.
„Nur für wenige Wochen, mein lieb, dann bin ich wieder bei dir
und führe dich mein herzliebes Weib in unser schönes Heim,
und dann gibt es für uns keine Trennung mehr.“
Sie barg ihr Haupt an seiner Brust, und er umfing mit seinem
starken Arm das geliebte Mädchen.
„Sieh,“ sprach er, indem er auf den Stamm der Eiche wies, unter deren Blätterdach sie standen,
„die Herzen mit unseren Namen darin, – sie haben alle Stürme überdauert, und sie werden hier stehen als ein Denkmal unserer Liebe und Treue, die kein Sturm des Lebens je erschüttern soll.“
Die Sonne hatte sich durch die letzten Nebelstreifen gekämpft,
die flatternden Fetzen über Wiesen und Felder flohen, und stand nun in voller Klarheit am blauen Himmelsdome. Sie überschüttete Berg und Flur mit rosafarbenem Licht, in dem die Tautropfen wie funkelnde Diamanten sprühten, und der Elbstrom wie der silberschuppige Leib einer Riesenschlange gleißte.

Sie legte ihren Strahlenkranz dem jungen Menschen Paare
droben auf der morgenstillen Höhe auf das Haupt,
dass es wie im Glorienschein stand.
Und während aus den Büschen die roten Heckenrosen dufteten, Amsel, Meise und Buchfink lockten, und die Lärche jubelnd ins
Blaue emporstieg, schritten die beiden Arm in Arm ins Tal hinab,
der lichten Zukunft und dem Glück entgegen.

Richard Erfurth †

Erzählung aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges

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Der Apollenberg

Seine Bekanntheit über viele Jahrhunderte hinweg verdankt der Apollensberg einer kleinen Wallfahrtskapelle, die der Heiligen Jungfrau Maria gewidmet war. Sie wurde in Gestalt eines Kreuzes erbaut und fand von der umliegenden Bevölkerung großen Zuspruch als Wallfahrtsort.
1376 wurde sie dem Allerheiligenstift in Wittenberg angeschlossen und in diesem Zusammenhang erstmals schriftlich erwähnt. Dies bestätigte der Papst Bonifacius IX in einer Urkunde von 1400. Nach der über 40jährigen militärischen Nutzung
des Apollensberges wurde die öffentliche Begehung wieder möglich und somit der Weg für die Aufstellung eines ökumenischen Kreuzes an dem Standort der ehemaligen Marien-Kapelle geebnet.
Auf Bestreben des Apollensdorfers Dr. Luitfried Bergmann fanden sich Christen der Evangelischen und Katholischen Kirche, sowie der Freikirchlichen Gemeinde der Stadt zusammen, um die Idee der Errichtung eines Kreuzes umzusetzen. Im Rahmen der Weltausstellung EXPO 2000 wurde dann das Kreuz aus Edelstahl hergestellt, in Einzelteilen auf den Berg gefahren, zusammengeschweißt und mit Hilfe eines Autokranes aufgestellt. Am 09.07.2000 wurde das Kreuz ökumenisch durch Vertreter der drei genannten Gemeinschaften geweiht.
Seit 2001 lädt außerdem eine Bank rund um das Kreuz zum Verweilen auf dem Gipfel des Apollensberges ein

Elke Hurdelbrink